Leipzig-Lese

Gehe zu Navigation | Seiteninhalt
Leipzig-Lese
Unser Leseangebot

Frank Meyer

Raum 101
Erzählungen über Männer

Von dem Konflikt mit dem Vater beim Froschschenkeljagen, den abenteuerlichen Gefühlen einer Kinderliebe, den bleibenden Momenten mit dem besten Freund, die erschütternden Erlebnisse beim Bund...teils einfühlsam, teils derb erzählen die Geschichten dieser Sammlung, wie Jungen und Männer sich in verschiedenen Lebensabschnitten bewähren... oder wie sie versagen. 

„Judenhäuser“ in Leipzig 1939-1945

„Judenhäuser“ in Leipzig 1939-1945

Dr. Eberhard Ulm

Der Begriff „Judenhaus“ wurde während des Nationalsozialismus geprägt. Er wurde für Wohnhäuser aus jüdischem Besitz verwendet, in die ausschließlich Juden eingewiesen wurden. Mit dem „Gesetz über die Mietverhältnisse mit Juden“ vom 30.04.1939 war es „arischen“ Hausbesitzern erlaubt, jüdischen Mietern fristlos zu kündigen. Jüdische Hausbesitzer und Mieter wurden angewiesen, andere jüdische Familien aufzunehmen. Das hatte zur Folge, dass sich mehrere Familien, die sich häufig nicht kannten, eine Wohnung teilen mussten – ein Zimmer pro Familie. Es herrschte qualvolle Enge. Wildfremde alleinstehende und alte Menschen waren gezwungen, zusammen in einem Raum zu leben. Die jüdischen Bürger verkauften ihr letztes Eigentum zu Schleuderpreisen, denn beim Einzug in die „Judenhäuser“ konnten sie wegen des Platzmangels nur den allernötigsten Hausrat mitnehmen. Die nun in einer Wohnung lebenden Familien teilten sich auch die Sanitäranlagen dieser Zustand wurde dadurch verschlechtert, dass nur minimale Rationen an Brennstoffen zur Verfügung standen so dass es oft - auch im Winter - nicht möglich war, Badewasser zu erhitzen. Die hygienischen Zustände und die unzureichende Versorgung mit Lebensmitteln hatten Krankheiten und Unterernährung zur Folge. Die Bewohner der „Judenhäuser“ lebten am Rande des Existenzminimums.

Leipzig Färberstr. 11.
Leipzig Färberstr. 11.
Leipzig Färberstr. 11, Gedenktafel.
Leipzig Färberstr. 11, Gedenktafel.

 

Der mehrfache Umzug innerhalb der Judenhäuser und häufige Wohnungskontrollen durch die Gestapo waren quälender Alltag für die Bewohner. Es wurde nach untergetauchten Personen gesucht, die verzweifelt versuchten, dem geahnten oder bekannten grausamen Schicksal zu entgehen. Auch nach Fleisch suchte die Gestapo, denn Juden erhielten keine Fleischmarken. Ebenso waren sie von der Obstzuteilung ausgeschlossen.

Funkenburgstraße 16, Leipzig.
Funkenburgstraße 16, Leipzig.

 

Verbote und Erlasse gehört zu den alltäglichen Schikanen. Es war jüdischen Bürgern nur noch gestattet, zu bestimmten Zeiten, z. B. zur Arbeit, die „Judenhäuser“ zu verlassen. Die Straße nach 20:00 Uhr zu betreten, war generell verboten. Der Besitz eines Radios oder Haustieres war strafbar. Es war nicht erlaubt, das Kino oder Theater zu besuchen - auch zu Gaststätten hatten sie keinen Zutritt. Für die Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln war eine Sondergenehmigung notwendig, die nur in Ausnahmefällen ausgestellt wurde, z. B. bei einem sehr langen Arbeitsweg. Einer Sondergenehmigung durften Juden keine Sitzplätze benutzen, sie mussten auf der Außenplattform des letzten Wagens fahren. Diejenigen, die noch einen Arbeitsplatz hatten, mussten in der Regel Zwangsarbeit leisten.

Humboldtstraße 15, Leipzig.
Humboldtstraße 15, Leipzig.

 

Nach Adolf Diamant gab es drei Gründe für die Einrichtung von „Judenhäusern“:

„1. Die Juden unter Kontrolle zu halten.“

  1. Ehemalige jüdische Wohnungen wurden für „Arier“ frei.

  2. „Die Gestapo hatte alle Juden zusammen, wenn diese deportiert werden sollten.“

Hinrichsenstraße 14, Leipzig. Ariowitsch-Haus.
Hinrichsenstraße 14, Leipzig. Ariowitsch-Haus.

 

Im Zeitungsartikel „47 Judenhäuser in Leipzig / Ein Gesetz schafft Ordnung“ der Leipziger Neuesten Nachrichten vom 31.10.1939 ist zu lesen: „Zum 31. Dezember dieses Jahres sind viele von den noch verstreut lebenden Juden aufgefordert, sich nach Wohnungen in Judenhäusern umzusehen.“ Es folgt eine Aufzählung (durch später hinzugekommene Häuser ergänzt):

Alexanderstraße 46

Auenstraße (heute: Hinrichsenstraße) 14

Berliner Straße 123

Färberstraße 11

Funkenburgstraße 15, 16, 23, 25

Gneisenaustraße 7

Gohliser Straße 1, 11

Gustav-Adolf-Straße 7

Humboldtstraße 4, 6, 9, 10, 11, 13, 15, 21, 31

Jacobstraße 7, 11

Karlstraße (Büttnerstraße) 14, 16, 18

Karl-Tauchnitz-Straße 8

Keilstraße 3/5, 4, 9/11

Kleiststraße 111

Leibnizstraße 4, 30

Lessingstraße 22

Liviastraße 2

Lortzingstraße 12, 14

Michaelisstraße 3

Mozartstraße 17

Nordplatz 7

Packhofstraße 1

Pfaffendorfer Straße 6

Ranstädter Steinweg 28/32

Steffensstraße 6

Walter-Blümel-Straße (Löhrstraße) 10 und 11

Ariowitsch-Haus, Treppe. Gedenken an die Opfer.
Ariowitsch-Haus, Treppe. Gedenken an die Opfer.
Jacobstraße 11, Leipzig.
Jacobstraße 11, Leipzig.

 

Eine Häufung der Häuser ist im Waldstraßenviertel festzustellen (siehe Stadtplan).

Am 15.01.1941 berichtete die Leipziger Tageszeitung, dass nur noch 2.150 Personen in 40 „Judenhäusern“ Leipzigs leben.

In einer Mitteilung des Amtes zur Förderung des Wohnungsbaus für die Neujahrsrede des Oberbürgermeisters Alfred Freyberg 1943 hieß es: „Die Juden wurden in den zu Judenhäusern erklärten Grundstücken noch weiter zusammengedrängt. Dadurch und durch die Abwanderung einer erheblichen Zahl von Juden aus Leipzig konnten (1942) wiederum 33 Grundstücke judenrein gemacht und arischen Familien zur Verfügung gestellt werden. Zur Zeit sind noch 10 Judenhäuser vorhanden.“

Die Anzahl der Judenhäuser wurde immer mehr reduziert, bis nahezu kein jüdischer Mitbürger mehr in der Stadt lebte. Sie alle, die bis jetzt die Zustände in den „Judenhäusern“ überstanden und nicht verzweifelt den Freitod gewählt hatten, wurden ab 1942 deportiert. „Judenhäuser“ waren somit der letzte nicht freiwillig gewählte Wohnort der Leipziger Juden vor ihrer Deportation.

Lortzingstraße 14, Leipzig.
Lortzingstraße 14, Leipzig.
Vor dem Haus Lortzingstraße 14, Leipzig. Stolpersteine.
Vor dem Haus Lortzingstraße 14, Leipzig. Stolpersteine.

 

Koordiniert wurden die Deportationen in die Ghettos und Vernichtungslager durch Adolf Eichmann, Reichssicherheitshauptamt Berlin. Einige Wochen vor der beabsichtigten Deportation wurde die Gestapo in Leipzig informiert. Das endgültige Datum erhielt die Staatspolizeistelle Leipzig erst wenige Tage vor dem Termin der Deportation. Nun wurde die jüdische Religionsgemeinde in der Walter-Blümel-Straße 10 beauftragt, die Listen zusammenzustellen. Die zur Deportation bestimmten Personen wurden schriftlich benachrichtigt, wann sie sich bereitzuhalten hatten. Lediglich ein Gepäckstück und Verpflegung für zwei Tage durften mitgenommen werden. Am betreffenden Tag kam die Gestapo und holte die Betroffenen aus den Judenhäusern ab, um sie zu den Sammelstellen zu bringen. Anfangs diente die 32. Volksschule in der Yorckstraße (heute Ernst-Pinkert-Straße) als „Judensammelstelle“. Die Schule wurde bei dem Bombenangriff am 4.12.1943 zerstört. Für die nächsten Transporte nutzten die Nationalsozialisten die Arbeitsanstalt in der Riebeckstraße und das Polizeigefängnis in der Wächterstraße (heute Dimitroffstraße). Auch die für die letzte Deportation am 14.02.1945 als „Judensammelstelle“ genutzte 27. Volksschule in der Zillerstraße wurde bei einem Bombenangriff zerstört. Für die Schlafmöglichkeiten und die Verpflegung in den Sammelstellen musste die jüdische Gemeinde aufkommen.

Löhrstraße 10, Leipzig.
Löhrstraße 10, Leipzig.

 

In den Sammelstellen wurden die zu Deportierenden drei Tage und zwei Nächte „vorbereitet“. Die ärztliche Untersuchung dauerte nicht länger als eine Minute. In der Regel bestätigte der dort anwesende Arzt allen die Transportfähigkeit, egal, ob der Mensch krank, alt oder gebrechlich war oder noch ein Säugling.

Danach wurden diese Menschen aller Wertsachen beraubt. Anfangs durften sie nur noch ihren Trauring behalten, später wurde auch der ihnen weggenommen. Der Transport erfolgte durch die Deutsche Reichsbahn vom Güterbahnhof Engelsdorf. Die letzte Deportation am 14.02.1945 verließ Leipzig vom Freiladebahnhof. Zwischen 1939 und 1945 wurden ca. 2.000 Juden aus Leipzig deportiert.

Gustav-Adolf-Straße 7, Leipzig. Ephraim-Carlebach-Haus.
Gustav-Adolf-Straße 7, Leipzig. Ephraim-Carlebach-Haus.

 

Nach gegenwärtigem Forschungsstand waren das elf Transporte:

 

21.01.1942

Riga

561 Personen

10.05.1942

Belzyce (Lublin/Majdanek)

287 Personen

13.07.1942

Unbekannt

170 Personen

19.09.1942

Theresienstadt

440 Personen

16./17.02.1943

Theresienstadt/Auschwitz (über Berlin)

148 Personen

28.02.1943

Theresienstadt/Auschwitz (über Dresden)

29 Personen

17.06.1943

Theresienstadt

18 Personen

18.06.1943

Auschwitz

18 Personen

19.06.1943

Theresienstadt

2 Personen

13.01.1944

Theresienstadt

46 Personen

14.02.1945

Theresienstadt

169 Personen

 

Von den ca. 2.000 Deportierten haben nur ca. 220 Leipziger Juden überlebt. Der Großteil der Überlebenden (166) stammt aus der letzten Deportation. Bis auf drei Todesopfer wurden sie von der Roten Armee befreit.

Gustav-Adolf-Straße 7, Leipzig, Gedenktafel.
Gustav-Adolf-Straße 7, Leipzig, Gedenktafel.
Ephraim-Carlebach-Haus Leipzig, Fußboden.
Ephraim-Carlebach-Haus Leipzig, Fußboden.

 

Quellen:

Bertram, Ellen: Menschen ohne Grabstein. Die aus Leipzig deportierten und ermordeten Juden. Passage Verlag: Leipzig 2001.

Diamant, Adolf: Chronik der Juden in Leipzig. Aufstieg, Vernichtung und Neuanfang. Verlag Heimatland Sachsen: Chemnitz 1993.

Held, Steffen: Zwischen Tradition und Vermächtnis. Die israelitische Religionsgemeinschaft zu Leipzig nach 1945. Herausgegeben vom Vorstand der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig. Dölling und Galitz Verlag: Hamburg 1995.

Held, Steffen: Die Deportation der Juden aus Leipzig/Sachsen im Nationalsozialismus. Planung und Durchführung der Transporte. In: Sächsische Heimatblätter. Unabhängige Zeitschrift für sächsische Geschichte, Denkmalpflege, Natur und Umwelt. Heft 2/2006. Verlag Klaus Gumnior: Chemnitz 2006, Seite 123 ff.

Held, Steffen: Der letzte Weg. Die Deportation der Juden aus Leipzig 1942-1945. Ausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, 2006.

Kowalczik, Barbara: Wir waren Eure Nachbarn. Die Juden im Leipziger Waldstraßenviertel. Hrsg.: Ephraim Carlebach Stiftung/Bürgerverein Waldstraßenviertel e.V./PRO Leipzig e.V.: Leipzig 1996.

Kowalczik, Barbara: Jüdisches Erwerbsleben in der Inneren Nordvorstadt Leipzig 1900 -1933. Sächsisches Wirtschaftsarchiv e.V.: Leipziger Universitätsverlag: Leipzig 1999.

Kralovitz, Rolf: Der gelbe Stern in Leipzig. Walter-Meckauer-Kreis, Köln 1992.

Kralovitz, Rolf: ZehnNullNeunzig in Buchenwald. Ein jüdischer Häftling erzählt. Walter-Meckauer-Kreis, Köln 1996.

Lorz, Andrea: Suchet der Stadt Bestes. Lebensbilder jüdischer Unternehmer aus Leipzig. PRO Leipzig e.V.: Leipzig 1996.

Interviews: Rolf Isaacsohn 17.10.2006, Werner Jonas 28.03.2007.

Bildnachweis

Der Bertuch Verlag und der Autor danken der Fotografin Ursula Drechsel, die im Juli 2023 alle "Judenhäuser" und die Details unentgeltlich fotografiert und für den Artikel zur Verfügung gestellt hat.

Kopfbild: Fenster der Keilstraße 4, Synagoge in Leipzig.

 

Weitere Beiträge dieser Rubrik

Die Leipziger Disputation von 1519
von Prof.Dr.habil. Armin Kohnle
MEHR
Anzeige:
Unsere Website benutzt Cookies. Durch die weitere Nutzung unserer Inhalte stimmen Sie der Verwendung zu. Akzeptieren Weitere Informationen