Über das vielfältige Programm in der Jüdischen Woche in Leipzig informierte:
Ez Chaim – Baum des Lebens. Das war der Name der größten orthodoxen Synagoge Sachsens. Mitten in Leipzig gelegen, wurde sie wie viele andere Synagogen im Deutschen Reich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Brand gesetzt und zerstört. Heute ist an ihrem früheren Standort ein Parkplatz und nichts erinnert an ihre wechselvolle Geschichte.
Angefangen hat es im heutigen Clara-Zetkin-Park. Hier fand 1897 die Sächsisch-Thüringische Industrie- und Gewerbeausstellung statt, für die eine Fahrradhalle aufgestellt wurde. Im Gegensatz zu den anderen Gebäuden wurde diese nach der Ausstellung nicht gänzlich abgebrochen, sondern von der Fahrradhandlung Velociped-Fabrik Paul Focke aus der Dorotheenstraße 10, der heutigen Otto-Schill-Straße, erworben. Gleich nebenan in der Dorotheenstraße 6 wurde die Halle aufgestellt. Jahrelang von verschiedenen Fahrradfirmen genutzt, erwarb zwischenzeitlich die Turngemeinde Leipzig das Gebäude und baute es in eine Turnhalle um. Hinzu kam ein zweigeschossiger, teilunterkellerter Anbau.
Nach dem Ersten Weltkrieg, 1920 kaufte der jüdische Talmud-Thora-Verein das Gebäude. Das Ziel: eine orthodoxe Synagoge in Leipzig. Denn die größte Synagoge der Stadt, die Große Gemeindesynagoge, praktizierte einen reformierten Gottesdienst. An diesen wollten und konnten die immer zahlreicher eingewanderten orthodoxen Jüdinnen und Juden aus Osteuropa jedoch nicht teilnehmen. Gemischter Chor und Orgel wurden strikt abgelehnt. Stattdessen nutzten die Gläubigen Anfang des 20. Jahrhunderts die Brodyer Synagoge des Talmud-Thora-Vereins, die bald jedoch zu klein geworden war.
Den Kauf einer angemessen großen Immobilie wurde erst durch eine großzügige Stiftung des Leipziger Pelzhändlers Chaim Eitingon möglich. Der sogenannte „Pelzkönig von Leipzig“ erarbeitete sich durch seinen international tätigen Rauchwarenhandel (Pelzhandel) großen Wohlstand, den er für zahlreiche Wohltätigkeiten und Stiftungen nutzte, zum Beispiel das Eitingon-Krankenhaus. Am 28. Oktober 1920 erwarb der Talmud-Thora-Verein das Grundstück mit der Adresse Otto-Schill-Straße 6. Bei dem Umbau durch Architekt und Stadtrat Johann Gustav Pflaume sollte der Umfang des Gebäudes nicht vergrößert, „nur die Vorderansicht soll etwas ausdrucksvoller gestaltet werden“. Der Umbau dauerte nur etwa ein Jahr. Kurz vor der baupolizeilichen Abnahme musste die Zahl der Sitzplätze von geplanten 1.200 auf 905 verringert werden. Zur Einweihung der Ez-Chaim-Synagoge am Sonntag, den 10. September 1922, lud der Verein Vertreter der Stadt und der Israelitischen Gemeinde zu einem Programm mit Gesang und Gebet.
Durch den Bau auf den bestehenden Mauern der alten Fahrradhalle mussten die jüdischen Gemeindemitglieder einige Kompromisse eingehen – nicht nur wegen der nicht ganz passenden Ausrichtung nach Osten. Um die in der jüdischen Religion vorgesehene getrennte Sitzordnung von Frauen und Männer einzuhalten, wurde eine umlaufende Empore mit 412 Sitzplätzen für die Frauen geschaffen. Im Erdgeschoss standen den Männern 493 Plätze zur Verfügung. Über ihnen sorgten acht große Kronleuchter für die notwendige Beleuchtung. Sie hingen in einem tonnenförmigen Rabitzgewölbe mit Stuckkassetten.
An der Nordseite befand sich der Thoraschrein, rechts und links davon die Räume für den Kantor und den Rabbiner. In der Mitte des Saals stand das Rednerpult auf der Bima. Oberhalb an der Nordseite befand sich die Sängerempore, rechts und links davon die Frauenempore. Große Bogenfenster an den Längsseiten erhellten den Saal und betonten den orientalischen Stil. Diese aufwändige Innengestaltung stand im Gegensatz zur eher schlicht gehaltenen Gebäudefront, mit nur wenigen Ornamenten. Auf jüdische Symbole wie einen Davidsstern wurde bewusst verzichtet. Die Synagoge sollte sich den umliegenden Bauten unterordnen.
Neben dem Stifter Chaim Eitingon sind weitere bekannte Persönlichkeiten mit der Synagoge verbunden. Der Gemeinderabbiner Ephraim Carlebach prägte das jüdische Gemeindeleben in Leipzig über Jahrzehnte, zunächst als Rabbiner in der Synagoge in der Keilstraße, später als Begründer und Leiter der „Höheren Israelitischen Schule“ in der Gustav-Adolf-Straße 7 und ab 1922 als Rabbiner in der Ez-Chaim-Synagoge. Carlebach, ein „phänomenaler Redner“, emigrierte im März 1936.
Dass die Gottesdienste der Ez-Chaim-Synagoge auch über Leipzigs Stadtgrenzen hinaus Beachtung fanden, lag jedoch vielmehr am Oberkantor Nahum (Nathan) Wilkomirski. Er wurde vor allem für seine wunderschöne Stimme gerühmt. Im Stadtführer „Leipzig. Was nicht im Baedeker steht“ von 1929 heißt es über Wilkomirski: "Tritt ein. Wenn du Glück hast, ist Festtag und rechts an der Tafel steht: ‚Heute betet Wilkomirsky’. Was Rosenblatt in New York und Fleischmann in Köln, das bedeutet Wilkomirsky den Juden in Laibzj.“ 1936 nach Polen abgeschoben, emigrierte Nahum Wilkomirski zunächst nach Paris und London, um sich ab 1945 in den USA niederzulassen. Er starb mit 69 Jahren in Oakland/Kalifornien.
Zu den regelmäßigen BesucherInnen der Synagoge gehörte auch Thea Hurst, geb. Gersten. Sie wurde am 12. November 1925 geboren und lebte mit ihrer Familie bis 1939 in der Thomasiusstraße am Nikischplatz. Sie konnte über Warschau nach England fliehen und lebte hier bis 2016. Mit Lesungen aus dem „Tagebuch der Thea Gersten“ wurde sie deutschlandweit bekannt.
Die Ez-Chaim.Synagoge wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 von nationalsozialistischen Gruppen in Brand gesetzt und zerstört. Die Feuerlöschpolizei hatte offenbar nur den Auftrag, das Feuer nicht auf Nachbargebäude übertreten zu lassen. Bereits wenige Tage später begann ein privates Unternehmen mit den Abbrucharbeiten. Die Kosten hierfür wurden dem Verein in Rechnung gestellt – die Bruchsteine hingegen von der Abbruchfirma verkauft.
Nach der Zerstörung der Ez-Chaim-Synagoge wurde auf dem Grundstück ein Parkplatz eingerichtet, der unterschiedliche Besitzer hatte – sowohl in der DDR-Zeit als auch danach. Da keine dauerhaft sichtbaren Erinnerungszeichen an die Synagoge erinnern, engagieren sich der Bürgerverein Kolonnadenviertel e.V. und die Initiative Notenspur Leipzig e.V. mit regelmäßigen Veranstaltungen für eine lebendige Erinnerungskultur. Unter anderem kann eine 40-seitige Broschüre kostenlos beim Bürgerverein bestellt werden (info@die-kolle.de).
Quelle
„Juden in Leipzig – eine Dokumentation“ Leipzig 1988
Bildnachweis
Abb. 1 und 3: aus Wikimedia, gemeinfrei
Abb. 2 und 4: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig