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Das verlassene Krankenhaus bei Tschernobyl

Nic

Heft, 28 Seiten, 2020 - ab 23 Nov. erhältlich

Die Stadt Prypjat liegt nur 3 Kilometer von Tschernobyl entfernt. Im hiesigen Krankenhaus wurden unmittelbar nach der Explosion des Atomreaktors die ersten stark verstrahlten Opfer behandelt. Viele von Ihnen sind an der massiven Strahlenbelastung gestorben.

Am 27. April 1986, einen Tag nach der Nuklearkatastrophe, wurde die Prypjat evakuiert. Seither ist die Stadt, wie auch das hier gezeigte Krankenhaus verwaist. 30 Jahre Leerstand hinterlassen Ihre Spuren. Nic führt uns auf einem Rundgang durch verlassene Gänge vorbei an verfallenen OP-Sälen und Behandlungszimmern.

Für alle Fans von Lost Places.

Ab 4 Heften versenden wir versandkostenfrei.

Erikas Weihnachtspuppe

Erikas Weihnachtspuppe

Else Ury

Mit klingendem Frost nahm das alte Jahr seinen Abschied. Jeden Tag wurden die neuen Schlittschuhe auf den mit eisfunkelnder Kristalldecke überzogenen Wiesen angeschnallt. Von Tag zu Tag fiel Hilde bei ihren Holländerbogen weniger auf die Nase, und von Tag zu Tag wuchs Erika ihr neues Kind Magdalenchen mehr ans Herz. Es ging ihr damit, wie es auch mancher Mutter geht, man hat sein Kind trotz aller Schwächen lieb.
Illustration of Richard Gutschmidt for Else Urys Lilli Lilipuy
Illustration of Richard Gutschmidt for Else Urys Lilli Lilipuy

Und allmählich machten sich auch die guten Eigenschaften Magdalenchens bemerkbar. In dem Puppenwinkel blieb es nicht so ordentlich. Im Gegenteil, es sah manchmal recht wüst dort aus. Und da war es doch ganz gut, daß Magdalenchen nicht imstande war, ihrer Meinung über ihre Puppenmutter Ausdruck zu geben. Denn der schuldige Respekt wäre dabei sicher in die Brüche gegangen. Auch das Davonlaufen mußte sie sich versagen. Die beste Charaktereigenschaft Magdalenchens aber bestand darin, daß sie keine Spur gefräßig war. Jeder Pfefferkuchen, ja auch das schönste Weihnachtskonfekt, das ihr Erika bot, verschmähte sie, und das Puppenmütterchen ließ es sich, recht wenig mütterlich, allein gut schmecken. Das wäre bei einer lebendigen Puppe vielleicht kritischer gewesen.

»Wir dürfen heute zu Silvester bis 12 Uhr aufbleiben, wir dürfen Bleigießen und kriegen Pfannkuchen mit Punsch!« Jubelnd klang es im Trio durch das Eberhardsche Haus.

»Du darfst auch aufbleiben, Magdalenchen!« Nesthäkchen, das eben selbst erst die Erlaubnis durch tausend Schmeicheleien von den Eltern erbettelt hatte, sagte es voll Großmut.

Der Weihnachtsbaum wurde noch einmal angesteckt.

»Am Ende kommt Knecht Ruprecht heute, wenn die Weihnachtslichter brennen, noch einmal wieder, um deine Puppe gegen die bestellte lebendige umzutauschen,« sagte lächelnd die Mutter.

»I wo, heute gebe ich mein Magdalenchen aber nicht mehr her!« rief Erika eifrig und küßte ihr Kind auf die Glasaugen.

Es dauert schrecklich lange, bis das alte Jahr Abschied nimmt und das neue unter brausendem Glockenton seinen Einzug in die Welt hält. Trotzdem der Vater lustige Gesellschaftsspiele mit den Kindern arrangierte, lief alle Augenblick eins zur großen Standuhr, ob es denn noch immer nicht zwölf sei.

Die Großen gähnten verstohlen, Klein-Erika fielen die Augen fast zu, Puppe Magdalenchen auf ihrem Schoß war die Verständigste von allen, die hatte längst ihre Lider zugeklappt.

»Kinder, geht doch schlafen, ihr seid ja so müde, das neue Jahr kommt auch ohne euch!« meinte die Mutter.

Aber davon wollte keines was hören.

»Ich werde doch schon dreizehn, Muttchen,« sagte Hilde und reckte sich auf die Zehen.

»Quartaner sind nie müde!« Fritz kämpfte ganz entsetzlich gegen das verräterische Gähnen.

»Ich bin auch noch ganz munter,« versicherte Erika und riß ihre Blauaugen kugelrund auf.

Drei Minuten vor zwölf – nun zwei – jetzt nur noch eine – und »unsere Uhr geht nach!« rief eins der Kinder in die erwartungsvolle Stille hinein, denn draußen auf der Straße erschallten bereits die ersten Prost-Neujahr-Rufe.

Nun ging es auch bei Eberhards mit dem Prost-Neujahr-Schreien los. Plötzlich waren sie alle wieder munter, selbst Magdalenchen, und als Auguste erst den dampfenden Punsch und die Pfannkuchen brachte, da war ihnen alles Gähnen vergangen.

Dann zogen sie in die Küche, dort wurde Blei gegossen. Hilde verbrannte sich zwar tüchtig dabei, goß aber ein wunderschönes Schiff.

»Das soll heißen, daß du dieses Jahr in ein Seebad reist,« deutete Auguste, denn sie verstand sich darauf.

Fritz hatte einen Vogel gegossen, man sah deutlich den spitzen Schnabel.

»Ob das wohl bedeutet, daß ich zu meinem Geburtstag einen Kanarienvogel kriege?« fragte er zweifelnd.

»Ach wo, das bedeutet einfach, daß du einen Vogel hast!« schrie Erika, die Kleinste, aber auch die Frechdachsigste, und tippte zum Überfluß noch gegen die Stirn.

Fritz drohte ihr nur. Denn zum Hauen war es doch wohl heute ein bißchen zu spät und dann – man mag sich doch nicht gleich in das neue Jahr hineinprügeln.

Das Merkwürdigste hatte Erika gegossen, kein Mensch wurde daraus klug, selbst Auguste nicht. Sie hielt es von allen Seiten gegen die Wand, um die Form im Schatten zu erkennen, aber es wollte sich nicht erraten lassen.

»Herrgott, das ist ja Knecht Ruprecht mit dem Sack auf dem Buckel!« rief die Küchenfee plötzlich. »Seht nur, der lange Bart und hinten der Schatten, das ist sein Sack!«

»Ja, und darin hat er deine lebendige Puppe, Erika!« uzte Fritz, der Bösewicht, aus Revanche für den Vogel das Schwesterchen.

Wirklich, Erikas gegossenes Blei zeigte eine entfernte Ähnlichkeit mit Knecht Ruprecht. Jeder mußte es bewundern, sie nahm es sogar mit ins Bett.

Und da träumte sie denn, Knecht Ruprecht sei gekommen, habe ihr die bestellte lebendige Puppe gebracht und dafür das Magdalenchen fortgeholt.

»Nein – nein!« schrie sie laut aus dem Schlaf, daran war aber nicht Knecht Ruprecht schuld, sondern die Pfannkuchen, die sie gegessen hatte.

Aber was man in der Silvesternacht träumt, geht in Erfüllung, sagte Auguste.

Am Neujahrstage waren die Kinder stets bei Großmama zu Mittag geladen. Auch heute zogen sie, nachdem sie sich gründlich ausgeschlafen, seelenvergnügt ab. Denn bei Großmama war es fein. Da gab es eine herrliche Neujahrstorte, und wunderschöne Märchen wußte Großmama zu erzählen.

Als sie am Abend wieder heimkamen, öffnete ihnen der Vater selbst die Tür. Er machte ein ganz merkwürdiges Gesicht und legte überdies den Finger auf den Mund.

»Pst – leise – Knecht Ruprecht war hier, er hat sich geirrt und geglaubt, du hättest die lebendige Puppe erst zu Neujahr bestellt, Erika, er hat sie drin bei Mutter abgegeben.«

»Jawoll!« sagten die beiden Großen wie aus einem Munde.

»Hat er mir etwa mein Magdalenchen wieder mitgenommen?« Das war der Schrei einer Mutter, der man ihr Kind entreißen will. Erika stürzte zum Puppenwinkel. Nein – gottlob – da saß Magdalenchen und blickte stumm und dumm vor sich hin.

»Nun kommt, daß ich euch die lebendige Puppe zeige,« sagte der Vater lachend. Auch die Großen gingen mit, trotzdem sie fest davon überzeugt waren, daß Vater nur Scherz machte.

Aber was war das? Drin im Schlafzimmer neben Mutters Bett stand ein gardinenverhangenes Körbchen, daraus quakte ein winziges Stimmchen.

Vater schlug die weiße Mullgardine zurück, alle drei schauten sie begierig hinein. Da lag wirklich eine lebendige Puppe in den Kissen mit winzigen roten Fäustchen und klaren blauen Augen.

»Mir gehört sie!« sagte Erika energisch und machte Miene, Hand anzulegen.

»Halt – halt –« rief der Vater, und die Mutter setzte glückselig hinzu: »Es gehört euch allen dreien – es ist euer Brüderchen!«

»Was – ein Junge?« Erika machte ein langes Gesicht. »Ich habe mir bei Knecht Ruprecht ein Mädel bestellt mit langen Locken und keinen Jungen mit einem Kahlkopf! Und sprechen und laufen kann er ja auch noch nicht mal, nein, da ist mir mein Magdalenchen doch tausendmal lieber! Den Jungen wollen wir umtauschen, den behalte ich nicht!«

»Na, da werden wir ihn wohl selbst behalten müssen, was, Mutter?« lachte der Vater.

Mutter nickte voll Freude: »Nun ist aus unserem Kleeblatt ein vierblättriges geworden – ein Glücksklee!«

Quelle: Huschelchen und andere Schulmädelgeschichten - Kapitel 4

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