Mein Fahrrad rollte den Luppedamm entlang in Richtung Leipzig. Vorbei am Auwaldkran der Universität. Unterwegs zu einem Treffpunkt: Zum Pavillon im Palmengarten. Am Samstag, den 18. Juli 2020 trafen sich Studentinnen und Studenten der Philosophie im Park. Ein kleiner Umtrunk aus Anlass des dritten Heftes der "Leipziger Schriften", die philosophische Texte versammeln. Ich hatte einen Artikel zur Hegel-Forschung in Leipzig beigesteuert und war deshalb eingeladen. Trotz der Wärme des Tages ließ ich mir die Fahrradtour hin zu den Studenten nicht nehmen. Weil in dem Heft anspruchsvolle, aber auch verständlich verfasste Texte versammelt sind. Weil es um die Übersetzung des Grundbegriffs des Geistes in den Begriff der Praxis und um die Analyse des menschlichen Könnens geht. Weil man auf Sätze stößt, wie den Hinweis: "Während Wissen meint, bestimmte Regeln zu kennen, heißt Können, sie korrekt anzuwenden." Weil die Frage nach Gott aus dem Philosophieren nicht ausgeklammert, sondern mit Thomas von Aquin gehaltvoll hineingenommen wird. Weil über das innere Gebet der Heiligen Teresa ebenso nachgedacht wird wie über den Liebesbegriff bei Karl Marx. Weil eine kleine Hinführung zur Philosophie des Geistes in der "Phänomenologie" Hegels zu finden ist, aber auch Gedanken zu Anthropologie und Geist bei Max Scheler mit dem Satz: "Menschwerdung ist Erhebung zur Weltoffenheit kraft des Geistes." Aber vor allem auch, weil mich Studentinnen der Universität eingeladen haben, an die ich vor 50 Jahren selber zum Studium kam. Das geschah 1970 in der Hoffnung, dass zu erfahren sei, was Philosophie ist und im Menschenleben leisten kann. Aus heutiger Sicht landete ich in Gestalt des Marxismus-Leninismus in einer Zivilreligion und in Halbbildung. Doch manchmal ist halbe Bildung besser als keine Bildung.
Als Sohn eines Försters aus einem norddeutschen Dörfchen wähnte ich mich damals an einem Ort des Wissens, als wir mit dem Studium der formalen Logik und des Werkes "Das Kapital" von Marx ebenso begannen, wie mit der Diskussion über "Das Kommunistische Manifest" des schwarzbärtigen Sozialphilosophen aus Trier. Ich war in der Fachrichtung des "Wissenschaftlichen Sozialismus" gelandet und glaubte ein Leben im Geiste der Thesen über Feuerbach zu beginnen. Marx hatte 1845 in Brüssel notiert: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an sie zu verändern." Mir wurde in jenen Jahren nicht bekannt, dass Hegel ein bodenständigerer und besserer Denker der Praxis war als Marx. Ich übersah auch, dass Marx große Stücke auf die Rechtsphilosophie Hegels hielt. In die gedankliche Struktur dieser bis heute relevanten Theorie der Bürgergesellschaft führte mich niemand ein, obwohl Marx dieselbe in den "Deutsch-Französischen Jahrbüchern" (1844) als die "konsequenteste, reichste und letzte Fassung" rechtsphilosophischen Denkens würdigte. Im politischen Denken sah es bei mir in den Studentenjahren nicht viel besser aus. Den Realen Sozialismus von Rostock bis Wladiwostok sah ich nicht als kommunistische Bevormundung an, sondern als Verwirklichung der gesellschaftlichen Ideen von Marx, Engels und Lenin. Darüber, dass Marx als Journalist ein Kämpfer für Meinungsfreiheit war, die im deutschen Osten von der Maxime der Parteilichkeit verdrängt worden war, stolperte ich ebenfalls nicht.
Die Skepsis gegenüber dem eigenen kommunistischen Wunderglauben begann sich erst, aber dafür umso heftiger zu regen, als ich während des Rufs nach Glasnost und Reformen an der damaligen Karl-Marx-Universität bereits Dozent des Dialektischen und Historischen Materialismus war. Der Weg heraus aus der politischen wie geistigen Kasernierung begann vor dem Herbst 1989, wurde aber unumkehrbar, als die Parteiherrschaft der SED im Frühjahr 1990 in sich zusammenbrach. Das politisch erzwungene Ausscheiden aus der Universität Leipzig war 1992/93 auch für mich nicht schön, bedeutete aber keine Verbannung nach Sibirien. Der Sprung in den Beruf des Wissenschaftsjournalisten eröffnete die großartige Chance, die Neugestaltung der Wissenschaftslandschaft in Leipzig und in Sachsen von den Universitätsinstituten über die Bibliotheken bis zu den Max-Planck-Instituten mit Radiobeiträgen zu begleiten. Gewiss: Ein zu radikaler personeller Wechsel erfolgte auch am Institut für Philosophie der Universität Leipzig. Aber unter den Neuberufenen traten Schritt für Schritt mehrere tüchtige Denker und Publizisten hervor, die freiheitliche und geistige Werte einer offenen Welt auf respektable Weise vorzuleben wussten. Nicht nur Professoren, auch Professorinnen. Leipzig entwickelte sich im Laufe von drei Jahrzehnten zu einem Ort der vielschichtigen Forschungen insbesondere zum sogenannten Deutschen Idealismus. Leipzig begann national wie international von sich Reden zu machen. Vergleichbare Schauplätze der Wissenschaft hatte es vor Ort lange nicht mehr gegeben. Seit dem Ende der Weimarer Republik schwanden an der Universität Leipzig die Rahmenbedingungen für wissenschaftliche Schulen wie sie in Leipzig einst mit den Namen der Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald in der physikalischen Chemie und mit Werner Heisenberg in der theoretischen Physik verknüpft waren. In Heisenbergs Leipziger Theorie-Seminar zur "Struktur der Materie" waren es vorzugsweise junge Leute und häufig jüdische Intellektuelle, die den Ton angaben und die für Dynamik in der Theorienbildung sorgten. Ein jugendlicher und weltoffener Geist, wie er von 1927 bis 1933 in der Linnéstraße bei Heisenberg und Friedrich Hund herrschte, wird im Geisteswissenschaftlichen Zentrum der Universität Leipzig in der Beethovenstraße heutzutage von vielen Professorinnen und Professoren wach gehalten.
Ich strampelte an dem besagten Juli-Samstag des Jahres 2020 mit freudiger Erwartung in Richtung Palmengarten. Wegen Corona ein Treffen in kleinen Gruppen. Im Schatten des Parks wartete auf einem großen Tisch in gedruckter Form die 3. Ausgabe der "Leipziger Schriften". Ein Heft mit Autoren unterschiedlicher Denkhaltung und je eigener Erzählweise. Ein Heft mit Texten, aber auch mit originellen Bildern; wie den Liebenden, die luftig über den Bach mit dem Krokodil laufen. Wissenschaft und Kunst vereint. Ein Heft mit einem angenehmen Schriftdesign. Das anfassbare Werk vieler Hände und tüchtiger Köpfe. Im Herausgebervorwort zum ersten Heft der Zeitschrift, das im Jahr 2018 erschien, feiert Anna Oswald das Wunder des Denkens, das jedoch nie perspektivlos ist. Sie benennt aber auch das wichtige wie beschwingende Vorhaben, den studentischen Diskurs über die Seminararbeit und die Räume der Universität hinaus in die Stadt und in die weite Welt zu tragen. Als Anliegen der "Leipziger Schriften" führt Anna Oswald gute Gründe an: "Wenn diese Zeitschrift eine bestimmte Weltanschaulichkeit mit sich bringt, denn wie überhaupt kann etwas Unweltanschauliches getan werden, dann ist es ihr Ziel, das Denken überhaupt zu befördern und zu einer philosophischen Praxis einzuladen. Sie gerät natürlich selbst schon in Verlegenheit, da sie den Anspruch hat, sowohl akademisch als auch nicht akademisch zu sein – in beiden Weisen jedoch eine Form zu wahren, die dem philosophischen Gegenstande gemäß ist. In welcher Hinsicht aber soll sie akademisch sein? Sie will Studierende dazu einladen ihre Forschungsgegenstände in Form eines Aufsatzes einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen und dadurch zum Streite innerhalb der Wissenschaft zu werden. Diese Ausgabe will in einem anderen Verständnis jedoch nicht akademisch sein, insofern sie nämlich für alle philosophisch Interessierten offenbleiben möchte und zu einem Diskurs beitragen möchte, der nicht allein auf die Universität begrenzt sein soll."
Das inzwischen dritte Heft der Leipziger Studentenzeitschrift, das auf den Begriff des Geistes fokussiert ist, beweist, dass das studentische Unternehmen kein Strohfeuer, sondern beherzte, kompetente und anschauliche Arbeit am Begriff ist. In einer Stadt, in der Leibniz, Goethe, Schelling, Nietzsche, Kästner, aber auch Carl Friedrich von Weizsäcker und Angela Merkel studierten, ist eine studentische Feier im Grünen gut verortet, die dem flüssigen, weltoffenen und kritischen Text verpflichtet ist. Beschwingt von dem Fluss der Gespräche mit den jungen Leuten im Palmengarten über das Philosophieren im Fluss des Wirklichen fuhr ich dann wieder am Luppedamm zurück nach Hause. Erfüllt von dem Affekt, dass es nie zu spät ist, durch das Lernen mit und durch Studenten aus Halbbildung ein Mehr an Bildung zu machen. Nie hätte ich mir als Student 1970 träumen lassen, dass man mit Marx über seinen Begriff der Praxis von Fichte her, von Schelling her und vor allem von Hegel her, mit Erfolg streiten und sein Konzept des Handelns kritisieren kann. Aber das ist erforderlich, wenn man seine Theorievorschläge zur Analyse des Sozialen denkend würdigen möchte. Das Denken überhaupt gerade auch über Marx zu befördern, ist aus meiner Sicht ein starker wie wichtiger Impuls von Heft 3 der "Leipziger Schriften". Nachtrag zum Begriff der Liebe: Als ich 1970 zu Studium nach Leipzig kam, kaufte ich mir ein zweibändiges "Philosophisches Wörterbuch". Das Stichwort "Liebe" war leider unauffindbar. Ausgerechnet als ich mich im Studentensommer verliebte und meine Frau entdeckte. Anders im Juli 2020. Als ich vom Palmengarten nach Hause fuhr, hatte ich die neuen "Leipziger Schriften" im Gepäck, in denen Liebe als Grundbegriff der Philosophie besprochen wird. Durch die Artikel: "Liebe als Zugang zur Weisheit", "Zum Liebesbegriff bei Marx" , "Vom Traum des Wir", "Amor – das Ideal der romantischen Liebe" sowie "Die Liebe Teresa von Avilas". Dazu ein Zitat aus dem Ersten Brief von Paulus an die Korinther, das Sinn stiftet: "Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles."
22. Juli 2020
Zugang zur digitalen Ausgabe der „Leipziger Schriften“: www.leipziger-schriften.de
Übersicht der Aufnahmen vom 18. Juli 2020:
Philosophentreffen im Palmengarten Gruppengespräche im Philosophenkreis Leipziger Schriften im Julilicht
Leipziger Schriften auf dem Holztisch
Leipziger Schriften im Parkmilieu
Redaktions- und Autorenkreis der Schriften von Links nach Rechts Anna Heidelk, Alexej Licharew, Jana Baum, Markus Schmidt und Anna Oswald.
Cover der Leipziger Schriften mit handgemaltem Kreis.
Der Autor dankt Jana Baum und Christa Vlad, dass Sie für diesen Artikel ihre Aufnahmen vom 18. Juli 2020 zur Veröffentlichung beigesteuert haben.
Bildnachweis
Abb. 1,4,5 und Kopfbild: Jana Baum und Christa Vlad
Abb. 2 und 3: Wikimedia - gemeinfrei