Leipzig-Lese

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Johann Joachim Winckelmanns Wirken auf Schloss Nöthnitz und in Dresden

Klaus-Werner Haupt

Nach rastlosen Jahren findet Johann Joachim Winckelmann auf dem nahe Dresden gelegenen Schloss Nöthnitz eine Anstellung als Bibliothekar. Die bünausche Bibliothek und die Kunstsammlungen der nahen Residenzstadt ermöglichen Kontakte mit namhaften Gelehrten. In ihrem Kreise erwirbt der Dreißigjährige das Rüstzeug für seine wissenschaftliche Karriere. Sein epochales Werk „Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst“ (1755) lenkt den Blick auf die Kunstsammlungen Augusts III. und ebnet den Weg nach Rom.

Winckelmanns Briefe, von denen mehr als fünfzig aus den sächsischen Jahren überliefert sind, lassen seinen Karrieresprung, aber auch seine persönlichen Nöte vor unseren Augen lebendig werden. Zwei Gastbeiträge über die jüngere Geschichte des Schlosses und die Visionen der Freunde Schloss Nöthnitz e. V. runden den Jubiläumsband ab.

Unser Haus Erde braucht Biodiversität

Unser Haus Erde braucht Biodiversität

Dr. Konrad Lindner

0. Käme Linné nach Leipzig

Martin Freiberg und der Autor vor der Linné-Büste, von li (1)
Martin Freiberg und der Autor vor der Linné-Büste, von li (1)

Er würde freudig lächeln, käme er ins heutige Leipzig. Nicht nur eine Straße trägt seinen Namen, sondern sein Ansatz der Forschung ist in dieser Stadt der Biowissenschaften höchst lebendig. Die Rede ist von dem Arzt und Naturforscher Carl von Linné. Der geistige Vater der modernen Taxonomie, der den Pflanzen- und Tierarten der Erde einfache zweiteilige lateinische Namen zuordnete, optimierte in der neuzeitlichen Wissenschaft die globale Kommunikation über die Formen des Lebenden. Zum Nutzen des weltweiten Handels. Der Schwede Linné war in der Biologie ein ebenso bedeutsamer Naturforscher wie der Brite Isaak Newton in der Physik. Käme Linné nach Sachsen, würde es ihn zuallererst in den Botanischen Garten der Universität Leipzig locken, wo seine Büste steht. Dieser Traditionsort der Wissenschaft ist einer der ältesten Botanischen Gärten der Welt. Der Gelehrte aus dem Jahrhundert der Aufklärung würde aber weniger seinen Kopf aus Bronze bestaunen, sondern er würde zielstrebig auf den Ökologen und Botaniker Christian Wirth zusteuern. Professor Wirth ist in Nachfolge von Wilfried Morawetz seit 2009 Direktor des Botanischen Gartens in Leipzig, der auf das Jahr 1542 zurückgeht. Er ist aber auch einer der Gründungsdirektoren des iDiv.

1. Stadt der Biodiversitätsforschung

Christian Wirth bei seinem Vortrag am 9. Juni 2017 (2)
Christian Wirth bei seinem Vortrag am 9. Juni 2017 (2)


Hinter dem Kürzel aus vier Buchstaben steht das Deutsche Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung, das im Jahr 2012 an der Universität Leipzig aus der Taufe gehoben wurde. Könnte Christian Wirth den großen Linné nun auch in diesem Forschungszentrum inmitten der Bio City begrüßen, wie am 9. Juni 2017 Beate Schücking, die Rektorin der Universität Leipzig, und Stanislaw Tillich, den Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen, dann wäre das ein geistiges Ereignis von besonderem Rang. Der geschäftsführende Direktor des iDiv schätzt wie alle Botaniker und Zoologen den Kollegen aus dem 18. Jahrhundert, der sich darum bemühte, die Formen des Lebenden in ihrer Vielfalt zu entdecken, zu ordnen und zu klassifizieren.

Christian Wirth, Rektorin Schücking und BM Heiko Rosenthal schauen auf den Auwaldkran, von re(3)
Christian Wirth, Rektorin Schücking und BM Heiko Rosenthal schauen auf den Auwaldkran, von re(3)

Christian Wirth würde aber auch das Neue der heutigen Biodiversitätsforschung unterstreichen, wie er es anlässlich der Wiedereröffnung des Projektes zur Erforschung der Baumkronen im Auenwald am 9. Juli 2014 tat:

„Nein, ich bin keine Wiedergeburt von Herrn Linné. Linné hat sich mit Klassifikation beschäftigt. Wir aber haben die Aufgabe, zu verstehen, was die Funktion dieser Vielfalt ist. Wir möchten nicht nur ausschließlich beschreiben und inventarisieren, sondern tatsächlich die Zusammenhänge und Mechanismen verstehen, was Biodiversität tatsächlich bewirkt.“ Wäre der einstige Direktor des Botanischen Gartens zu Uppsala im Juni 2017 beim Pressetermin im iDiv mit dabei gewesen, wäre er in ein junges Team eingetaucht, von dem die Biologie und die Ökologie bezogen auf Probleme der irdischen Artenvielfalt mit modernster Labortechnik sowie mit der Kapazität von Großrechnern vereint werden. Im iDiv stecken viele aufregende Geschichten aus der Welt der Forschung. Zum Beispiel die Idee, die Interaktion von Raupen und Eichen in der Abhängigkeit vom Eichenwachstum zu erkunden. Mit diesem Thema wird sich Nicole M. van Dam im iDiv befassen, eine niederländische Professorin, die auch Lampenfieber hätte, wenn der König der Blumen aus Schweden in Leipzig aufkreuzen würde. Die molekularbiologisch arbeitende Forscherin kann darüber aufklären, dass Eichen und Pappeln verschiedenen Lebensstilen folgen. Hier – bei den Pappeln - geht’s schnellwüchsig und kurzlebig zu, aber doch mit vielen Nachkommen, und dort – bei den Eichen - ein langsames, aber streng rhythmisches Wachstum – erst Spross und dann Wurzel - und eben ein sehr langes Leben. Zwei verschiedene Strategien. Doch beide erfolgreich. Nun aber die Frage, wie sich die Eichen gegen ihre Fressfeinde zur Wehr setzen und welche Rolle dabei der rhythmische Wechsel zwischen Sprosswachstum und Wurzelwachstum spielt. Nicole van Dam könnte dem Herrn Linné aber auch davon berichten, dass das gewohnte Zusammenspiel von Kohlmeise, Raupe und Eiche durch den Klimawandel offenbar immer schlechter funktioniert, wie ihre Kollegen in den Niederlanden herausgefunden haben. Derartige Befunde sind in der ganzheitlichen Ökologie für das 21. Jahrhundert von großer Wichtigkeit. Die Wissenschaft wendet sich mehr und mehr der Sorge über die massive Zunahme der vom Menschen verursachten Artenvernichtung zu.

Damit gelangt man bei dem Punkt an, der den Taxonomen Linné sehr erregen würde, käme er in den zentralen Raum des iDiv. Hier befindet sich an der Frontwand eine große Tafel mit "Blasen", die für die einzelnen Pflanzen und Tiere und Pilze und Bakterien stehen

Auf der Taxamap sind alle rund 2,2 Millionen derzeit beschriebenen Arten dargestellt. Es handelt sich um nicht weniger als um eine Karte des Lebens aller bislang bekannten Organismen der Erde. Das größte Wort auf dieser Darstellung lautet „Insecta“. An der Wand befindet sich kein zeitliches Schema, wie die üblichen Stammbäume in der Tradition von Charles Darwin, sondern ein taxonomisches Bild, das die Fülle wie die Verwandtschaftsbeziehungen der Arten und Gattungen symbolisch ausdrückt. Somit ein Schema in der Tradition des Linné, weshalb auch auf das gute Latein zurückgegriffen wird. Der Fokus liegt auf dem quantitativen Umfang der einzelnen biologischen Gattungen und Familien im Hier und Heute unseres Planeten.

2. Taxonomische Weltkarte

Von der Frontwand des gemeinsamen Diskursraumes im Zentrum für Biodiversitätsforschung in Leipzig könnte Linné voller Erregung mit der Taxamap - mit der taxonomischen Weltkarte – so etwas wie einen Algorithmus der Artenvielfalt erblicken. Aufgeführt ist das Produkt von 3,5 Milliarden Jahren Evolution. „Eine Schöpfung, die wir zu bewahren haben,“ wie Christian Wirth am 9. Juni 2017 formulierte, als er das Schema kommentierte.Ein nüchternes Bild mit hoher Datendichte, das von Martin Freiberg programmiert worden ist. Freiberg ist der Kustos des Botanischen Gartens der Universität Leipzig und ein Baumkronenforscher, der in Südamerikas Regenwäldern oben in den Wipfeln der Urwaldriesen ein Dutzend Epiphyten entdeckt hat. An seinem Schema zur Biodiversität fällt auf: Die Gattung „Homo“ ist nur ein kleines Bläschen, das man auf der taxonomischen Karte nicht so leicht findet. Wenn Christian Wirth nun auch in der Gegenwart des berühmten Linné – des „Newton des Grashalms“ - zu einer Präsentation das Wort ergreifen würde, dann stände sogleich wie ein Knall eine überraschende Aussage im Raum: Bisher sind erst etwa 10 % der auf der Erde lebenden Arten beschrieben worden. 90 % der Arten kennen wir noch nicht! Die Konsequenz dieses unerwarteten Befundes ist prekär. Da wir in einer Phase unseres Planeten leben, in der die Aussterberaten durch den Menschen bereits so hoch geworden sind, wie bei einem „geologischen Massensterben“, das durch Meteoriten verursacht wurde, befindet sich die Biodiversitätsforschung in einem Dilemma:
Ein großer Teil der Arten, die wir noch gar nicht entdeckt haben, aber im eigenen Interesse sehr gern erforschen würden, wird gerade von uns vernichtet. Auch in Deutschland ist beispielsweise die Ausdünnung der Insektenfauna durch Pestizide längst in vollem Gange. Wohin dieser Trend führen kann, ist in China zu erleben. In bestimmten Regionen des Obstanbaus werden die Apfelbäume, wie Christian Wirth im Juni 2017 - vor der Taxamap stehend - berichtet hat, bereits per Pinsel von Menschenhand bestäubt. Deshalb, weil die Bienen weggestorben sind. Ein Beispiel, dass gewaltige Wirtschaftsschäden bevorstehen oder noch unentdeckte Heilmittel jetzt auch unentdeckt verschwinden, wenn die Interaktion von Pflanzen und Insekten weiter zusammenbricht.

3. Ökologische Umkehr

Papst Franziskus (4)
Papst Franziskus (4)

Die „ökologische Umkehr“, von der Franziskus in seiner Umwelt-Enzyklika (2015) schreibt, ist nötiger denn je. Eine derartige Umkehr erfordert zunächst einmal, die Spiritualität und die Geistigkeit nicht weiter von der Leiblichkeit zu trennen. Die Umkehr im Umgang mit der Natur macht aber vor allem Technologien erforderlich, die sich besser in die Kreisläufe des irdischen Lebens einpassen. Es geht darum, dass wir unseren zweiten und „unorganischen Leib“, als den der junge Marx 1844 in Paris die Erde bezeichnete, nicht weiter vergewaltigen wie bisher. Die Herausforderung, ein Leben ohne Entfremdung von der Natur möglich zu machen, könnte trotz der anhaltenden Widerstände zur großen Chance werden. Der Vision eines wirklich menschlichen Lebens verlieh Franziskus in „Laudato si'“ auf ansteckende Weise Ausdruck. Eine Vision, von der sich nicht nur Theologen und Philosophen, sondern auch Biologen und Ökologen – nicht zuletzt das Forscherteam um Christian Wirth – in ihrem Tun leiten lassen. Denn: Unser Haus Erde braucht – was schon Linné wusste - die Biodiversität und nicht die vom Menschen verfertigte Artenausrottung.

Daten zum iDiv:

Der Name „iDiv“ ist das Kürzel für Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung. Die Einrichtung besteht seit 2012 in Leipzig. Sie ist eines der vier Forschungszentren der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Das Zentrum hat die Besonderheit, dass es über drei Bundesländer – Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen – ausgedehnt ist und von drei Universitäten betrieben wird (Universität Leipzig, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Martin-Luther-Universität Halle). Zum iDiv gehören gegenwärtig 219 Mitarbeiter. 40 % der wissenschaftlichen Mitarbeiter kommen aus dem Ausland. Zu den wichtigsten außeruniversitären Partnern zählen das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung sowie drei Max-Planck-Institute und vier Leibniz-Institute.

Quellen und Literatur:

Staffan Müller-Wille: Botanik und weltweiter Handel. Zur Begründung eines Natürlichen Systems der Pflanzen durch Carl von Linné (1707 – 78). Berlin 1999.

Konrad Lindner: Die Linnéische Sozietät zu Leipzig – über einige Wirkungen der mitteldeutschen Gelehrtengesellschaft um 1800. In: Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650 – 1820). Teil 1. Hrsg. von Detlef Döring und Kurt Nowak. Leipzig 2000. S. 211 – 229.

Interview mit Christian Wirth vom 9. Juli 2014 in Leipzig.

Mitschnitt der Präsentation des iDiv vom 9. Juni 2017 in Leipzig.

Bildnachweis:

Kopfbild und Abb. 4: aus Wikimedia Commons, gemeinfrei

Abb. 1 bis 3: Archiv Konrad Lindner



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