Kunst steht für Leben, für Vitalität. Die neunte Nacht der Kunst auf der Georg-Schumann-Straße im September 2018 war ein Festival der Sinne, an dem ich selber mit einigen Bildern beteiligt war, weil mich eine Leipziger Künstlerin eingeladen hatte. Eine Einladung, der ich sehr gern gefolgt bin, weil ich mit meiner Familie von 1982 bis 2002 selber in Gohlis gelebt habe. Die Georg-Schumann-Straße empfand ich in der späten DDR als Symbol des Zerfalls und des Niedergangs der Gesellschaft, fürdie ich mich in der Jugendzeit entschieden hatte. Dieser Zerfall wurde nicht schon zum Zeitpunkt der deutschen Einheit gestoppt. Das Wiederaufleben der weitläufigen Straße benötigte Jahrzehnte und Ausdauer.
Wenn mich die Malerin Annekatrin Brandl eingeladen hat, in ihrer Ausstellung im einstigen Wannenbad im Hinterhof auf der Georg-Schuman-Straße 116 mitauszustellen, war ich beglückt. Voller Neugier durfte ich die freiheitliche Prozession der Bürgerschaft durch die vielen Präsentationen an diesem Septemberabend miterleben. Hier in den Geschäften an der Straße und dort in wundervollen Hinterhöfen und da in der Bibliothek Gohlis „Erich Loest“ und nicht zuletzt bei dem Verein Pandechaion – Herberge e. V. mit den schmackhaften Speisen, die Flüchtlinge bereitet hatten.
Als
ich dann im Raum einer einstigen Werkstatt neben meinen eigenen
Bildern stand, war ich plötzlich herausgefordert, über das
Mohnleuchten meiner Blumenbilder und über die Blautiefe der
Meeresbilder von Annekatrin Brandl zu philosophieren, die in diesem
Raum vereint waren. Einige der Gedanken möchte ich hier erzählen,
indem ich den 1. September 2018 auf der Georg-Schumann-Straße 116
als ein glückliches Ereignis und als ein Fest des Sehens
beschreibe, bei dem auch einiges über philosophische Ästhetik zu
lernen war. Immerhin ist die Frage, was das Meeresrauschen mit dem
Mohnleuchten zu tun hat, nach meinem Verständnis - als Hobbykünstler
- eine Grundfrage des Philosophierens über Harmonie und Musikalität
in der Malerei.
In der Nacht der Kunst auf der Georg-Schumann-Straße strömten am 01. September 2018 in aller Ruhe erstaunlich viele Leipziger durch die Ausstellung von Annektrin Brandl, die mich eingeladen hatte, drei meiner Bilder auszustellen. Ein Mohntrio und eine Gruppe Stiefmütterchen hingen an der Wand. Beide Aquarelle waren im Jahr 2017 entstanden. Auf einer kleinen Staffelei stand aber auch ein Mohnbild in Acryl aus dem Juli 2018, das die roten Blüten im gelben Getreidefeld zeigt. In diesem kleinen Ausstellungsraum zeigte aber auch Annekatrin Brandl zwei große Holztafeln, auf denen zum einen architektonische Szenen unter dem Titel „Licht in der Stadt“ und zum anderen Wasserszenen unter dem Titel „Meereslicht“ versammelt waren.
Die Menschen, die in den Raum kamen, schauten bei meinen Arbeiten zunächst meist nicht zu dem Mohn, den ich in Acryl gespachtelt hatte. Sie wandten sich vor allem zu den beiden Aquarellen hin. Hier eine Gruppe Stiefmütterchen und dort drei Mohnblüten, die ich in der Seitenansicht gemalt hatte. Bei meinen Farbstudien war es jeweils darum gegangen, sich darauf einzulassen, dass das Wasser auf dem Malkarton fließt und dass die Farbe nach eigenen Fließgewohnheiten aus dem Pinsel strömt und sich frei auf dem Malgrund verteilt. Die Freiheit des Fließens war den Bildern anzusehen. Bei zahlreichen Besuchern fanden sie eine entsprechende Beachtung. Bei den Arbeiten in den Medien Aquarell und Acryl, die ich ausgestellt hatte, wurde die Farbe im Voraus auf der Palette angerührt und gemischt. Anders bei den Pastellarbeiten von Annekatrin Brandl, die sie sowohl in der großen Räumlichkeit des einstigen Wannenbades als auch in dem Nebenraum ausstellte. Bei allen Bildern arbeitete die Künstlerin mit Pastellkreide, die sie Schicht für Schicht direkt auf den Malgrund aufgetragen hat.
Als ich in der Kunstnacht vor den Bildern stand, war ich hin und wieder dazu herausgefordert, über das zu sprechen, was sich den Besuchern darbot. Ich erzählte von meinem stillen Dialog mit Hans-Jürgen Gaudeck, der für ein Mohn-Gedicht von Eva Strittmatter ein Mohnaquarell gezeichnet hatte. Sein Bild wünschte sich meine Frau von mir und ich habe es als Aquarellübung für mich nachempfunden. Es kamen Gäste in den Raum, die das Bild aufmerksam betrachteten, um aus den großen Blüten mit den schlanken Stengeln dann sogar eine Liebessymbolik herauszulesen. Erstaunliche, aber adäquate Deutungen standen plötzlich im Raum, so dass ich auch von meinem Nachdenken über Vulkanästhetik und seelische Eruptionen im Menschenleben erzählen konnte. Immerhin war es der Klatschmohn, der mich legitimiert hatte, die Farbe Rot dick auf die Leinwand zu bringen, wodurch von diesen Leuchtflecken zum Teil heftige Emotionen ausgelöst werden, wie Exzess und Rausch. Ich erzählte von dem Vulkanfotografen Wolfgang Müller, dessen Aufnahmen mich mit angeregt hatten, als ich im Sommer 2018 damit begann, den Mohn am Wegesrand in seiner Farbkraft zu porträtieren. In den Gesprächen über meine drei Bilder eröffnete sich mir die Chance, einige der Gedanken zu testen, die ich gerade zum „Mohnleuchten“ formuliert hatte. Darunter war auch der Hinweis, dass von den Farben die Musik der Malerei ausgehe.
Im Rotbraunschimmer waren auf der einen Tafel architektonische Gruppen zu sehen und auf der anderen Tafel erblickten die Besucher Meeresszenen im Blaufarbton. Beide Bildgruppen hatte die Malerin Annekatrin Brandl ausgestellt, die mir die Tür geöffnet hatte, mit Blumenbildern an der Nacht der Kunst teilzunehmen. Dadurch traten meine Bilder mit den Arbeiten der jungen Leipziger Malerin in einen Dialog. Bei aller Differenz in Technik und Thema entdeckte ich eine Gemeinsamkeit: Beide hatten wir unsere Bilder in einer Ästhetik verfasst, die ich als eine Nicht-Grün- Ästhetik bezeichnen möchte. Der Verzicht auf das Pflanzengrün stellt auf den ersten Blick eine Ungeheuerlichkeit dar. Ohne Pflanzen hätten wir keine Luft zum atmen und keinen Salat zu essen. Pflanzen bilden die erdgeschichtliche Basis jeglichen Tier- und Menschenlebens. Die Farbe Grün beeinflusst unser Wohlbefinden daher weitaus stärker, als uns dies meist bewusst wird. Aber in der künstlerischen Abstraktion ist Erstaunliches erlaubt. Annekatrin Brandl malt Häusergruppen, vor denen keine grünen Bäume stehen. Höchstens die Andeutung einer kugligen Baumkrone erlaubt sie sich. Man sieht auch keine Menschen und kann sich folglich nicht sicher sein, ob die Häuser, die sie ins Bild gesetzt hat – wie ihr Elternhaus – wirklich bewohnt sind. Wir schauen und wir rätseln. Wir beginnen ein Selbstgespräch, bei dem wir unbewusst und dennoch systematisch die Räume der Bilder mit ihrem Vordergrund und ihrem Hintergrund durchschreiten. Wir entdecken sehr bald, dass die architektonischen Gruppen und Häuserzeilen von Annekatrin Brandl meist deutlich in die Grunderzählung der Bibel eingebettet sind, wonach Gott zunächst einmal Himmel und Erde geschaffen hat. Ihre Häuserfassaden finden sich ein in das Oben des Himmels und das Unten der Erde. Wir erkennen menschliche Behausungen und werfen die Frage danach auf, wo wir uns eigentlich Zuhause fühlen. In einem Teil der Arbeiten von Annekatrin Brandl entfalten sandsteinfarbene Ockertöne und rotbraune Ziegelflächen ein Spiel der Farben, in dem wir die Schwerkraft spüren und unser Dasein in seiner Erdgebundenheit porträtiert sehen. Die Leipziger Künstlerin steht mit ihrer Brauntonliebe in der Geistestradition von Paula Modersohn-Becker, der es auf die Erdung der Menschen ankam. Wir denken unweigerlich an Friedrich Nietzsche, der in Worpswede verehrt wurde. Der Denker legte seinem Zarathustra den Satz in den Mund: „Ich schwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu ...“.
Auf den Ziegelflächen des einstigen Wannenbades der Georg-Schumann-Straße entfaltete das Gemälde „Elternhaus“ mit dem hohen und weiten Ockerhimmel, mit dem hell leuchtenden Horizont und dem rötlichen Haus mit den beiden Laternenmasten davor eine erstaunliche emotionale Kraft. Aus Farbflächen wurde ein Emotionsraum. Ein Raum der Erinnerung der Künstlerin an ihr Woher und an ihr Zuhause. Ohne Mutter, Vater und Geschwister einzeln ins Bild zu setzen, holte die Künstlerin den Betrachtern ein Bild vor Augen, das von Herkunft und Heimat erzählt, indem es einfach nur Häuser zeigt. Wir empfinden Bodenhaftung und erahnen unser Verwurzelt-Sein in Gemeinschaften, die Häuser errichten, gestalten und bewohnen.
Sie schöpft aus rotbraunen sowie Ocker betonten Farbwelten, aber sie lässt sich auch auf blaue Farbwelten ein, um unsere Lebenswelt als ein irdisches Dasein derart ins Bild zu setzen, dass beim Betrachtenden sogenannte Prototypen oder Urbilder aus dem Unterbewusstsein heraus wachgerufen werden.
Annekatrin Brandl hat für die Nacht der Kunst am 01. September 2018 Elementarbilder geschaffen. Ihre Bilder sind Abstraktionen. Die Besucher hatten räumliche Szenen vor Augen, bei denen auf Vieles verzichtet wurde, um Ursprüngliches herauszuheben und durch die Harmonie der Farben sichtbar zu machen. Die Malerin verzichtete bei ihren Bildern auf jeden Zierrat. Sie ließ jeweils Flächen aufeinandertreffen. Mit oft geringen Differenzen in den Farbtönen. Bei den Besuchern entstand Farbklang. Sowohl durch die Bilder in den Farbspielen der tiefen Blautöne als auch durch die Bilder in den Rot- und Ockertönen. Beides waren extreme geistige Verdichtungen. Hier die Häusergruppen auf der Tafel „Licht in der Stadt“ und dort die Meer- und Seeszenen auf der Tafel „Meereslicht“. In beiden Farbspielvarianten kommt ein Gemeinsames zum Ausdruck. Die „Mutter Erde“ musiziert sowohl im Ockerfarbklang als auch im Tiefblau des Meeres. Ozeane wie Kontinentalschollen vereinen sich zum Oberflächengesicht unseres Heimatplaneten. Blautöne wie Ockerfarben sprechen uns an bis tief in unser Unterbewusstsein hinein.
Das „Nachtmeer“ im Großformat an den Wänden des einstigen Wannenbades durchtönte den gesamten Raum mit einer Urtiefe und Durchdringung, der sich die Besucher nicht entzogen haben. Zu sehen ist: Nur dunkelblaue Meeresweite durchsetzt von schwarzblinden Nachtsehflecken vor violettem Himmel. Eine Komposition, bei der sich die Besucher von der Urgewalt des Wassers auf sich selbst hingeführt erlebten, um sich vom Lärm des Tages abzuwenden und in der Dunkelheit auf das Rauschen des Meeres einzulassen. Aus den Farbflächen der Bilder von Annekatrin Brandl erwachsen Resonanzen, in denen wir uns als dialogische, als sich erinnernde, als sich zwischen divergierenden Emotionen entlangbewegende Wesen erleben. Ob Meerbilder oder Mohnbilder, durch kontrastreiche Farbflächen werden wir in emotionale Schwingungen versetzt. Wir erleben uns im Widerstreit des Möglichen. Unsere Aufmerksamkeit fokussieren wir auf das Eine oder das Andere. Unseren Weg im Leben finden wir im jeweiligen biografischen Abschnitt auch nur im Wechselspiel der rivalisierenden Kräfte und im Zusammentreffen gegensätzlicher Erfahrungen.
Beim Blick auf das lange schmale Meeresbild mit dem Segel auf der Tafel „Meereslicht“ waren sich die Besucher der Bilderschau nicht sicher, ob die fiktiven Betrachter noch eine Weile verharren und sehnsuchtsvoll in die Richtung des Horizonts mit dem hellen Licht blicken können oder ob sie besser die Flucht ergreifen sollten vor dem Unwetter, das von rechts her über dem dunklen Meer aufzieht. Menschsein ist ein Dasein, das mit Entscheidungen einhergeht, die an Verzweigungen zu treffen sind. An Weggabelungen können verschiedene Pfade eingeschlagen werden. Es ist die besondere Kunst der Malerin Annekatrin Brandl, in ihren Bildern ursprüngliche Ausdrucksformen zu finden, bei denen es immer auch um die Frage geht, wie sich im Zusammenspiel von Erdschwere, Horizontweite und Menschenliebe in unserem Dasein sowohl Sinn und Freiheit als auch Heimat eröffnen.
September 2018
Bildnachweis
Bilder 4 bis 8 Rechte: Annekatrin Brandl
Kopfbild und Bilder 1 bis 3 Rechte: Dr. Konrad Lindner