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Jürgen Krätzer

Kennst du Gotthold Ephraim Lessing?

Jürgen Krätzer eröffnet uns eine neue Sicht auf den Autor. Er war eine faszinierende Persönlichkeit, ein kluger Kopf mit spitzer Zunge und sensiblem Herzen – ein „Freigeist“.

Prof. Dr. rer. pol. Werner Gumpel

Prof. Dr. rer. pol. Werner Gumpel

Dipl.-Päd. Ursula Brekle

Prof. Dr. Werner Gumpel  Quelle: W. Gumpel
Prof. Dr. Werner Gumpel Quelle: W. Gumpel

Dr. rer. pol. Werner Gumpel, Universitätsprofessor, geb. 1930

Wann waren Sie das erste Mal in Leipzig und wie war Ihr Eindruck?

Der erste Besuch geschah in der Kindheit, da die Großeltern dort lebten. Nach der Wende erster Besuch 1990. Der Eindruck war verheerend.

Warum wollten Sie zum Studium nach Leipzig gehen?

Leipzig war wegen der Familiengeschichte nahe liegend. Ich wurde zum Wintersemester 1949/50 an der Uni Leipzig immatrikuliert, um dort Zeitungswissenschaft zu studieren.

Was hat Sie in Leipzig besonders beeindruckt? (Welche Leipziger Persönlichkeit aus der Historie oder/und Gegenwart? Haben Sie einen Lieblingsplatz? usw.)

Nichts.

Wie und warum haben Sie sich während Ihres Studiums politisch engagiert?

Nach meinem persönlichen Empfinden unterschieden sich die Zustände nur wenig von denen der Hitler-Diktatur. Wenn sich niemand engagierte, würde sich nichts ändern. Es galt den anderen Studenten, die nicht linientreu waren, zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. Wir wollten ihnen so etwas wie eine moralische Stütze sein.

Ich habe Flugblätter, die Belter und auch Jenkner aus Berlin vom RIAS geholt hatten, an andere Studenten verteilt, allerdings aus Sicherheitsgründen nicht persönlich, sondern indem ich sie in die Briefkästen der von mir ausgekundschafteten Wohnungen geworfen habe.
Belter und ich trafen uns in den Lehrveranstaltungen, aber auch in der Freizeit. Diskutiert wurde über politische Themen und die allgemeine Lage im Staat und an der Uni.
Von der „Gruppe" kannte ich nur Belter, Du Menühl und Jenkner. Es war eine Vorsichtsmaßnahme, jeder sollte möglichst nur wenige Namen kennen. Die übrigen Gruppenmitglieder lernte ich erst auf dem Transport von Leipzig nach Dresden (Bautzner Straße) kennen.

Ehem. Siedlung der Deutschen Workuta  Foto: Archiv R. Bude  Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft
Ehem. Siedlung der Deutschen Workuta Foto: Archiv R. Bude Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft

Was haben Sie für Ihre politische Haltung ausstehen müssen?

Ich wurde gemeinsam mit Jenkner am 5. Oktober 1950 von den Deutschen verhaftet und am 9.Oktober an die Russen übergeben. Einen Haftbefehl gab es nicht. Vorgeworfen wurde mir antisowjetische Propaganda und Spionage (ich hatte auch Sendungen für den RIAS geschrieben, von denen mir aber nur eine nachgewiesen werden konnte.) Urteil: 2 X 25 Jahre Zwangsarbeit, zusammengezogen auf 25 Jahre.
Ich wurde nach Workuta (UdSSR) verbracht. Besonders belastend: Jegliche Verbindung zu den Angehörigen war unterbunden. Die Eltern erfuhren nichts von meiner Verhaftung, Verurteilung und Verbringung in die UdSSR. Erst nach dreieinhalb Jahren konnte ich das erste Lebenszeichen geben.
Im Lager waren vor allem Gefangene aus der Ukraine, den baltischen Staaten, aus dem Kaukasus und Zentralasien, aber auch Russen und Juden. Die Gefangenen (und natürlich auch wir Deutschen; am Anfang waren wir nur ca. 20 Deutsche im Lager) wurden im Kohlebergbau unter und über Tage sowie zum Bau der Polarstadt Workuta (sie liegt 160 Km nördlich des Polarkreises) eingesetzt. Für die Bergleute war die Ernährung besser als für die Bauarbeiter, auch die Unterbringung etwas besser. Ich war auf Grund meiner Schwäche im Bau eingesetzt, bei 12 Stunden Arbeitszeit (erst nach Stalins Tod wurde das geändert) und einem Anmarsch von ca. einer Stunde. Auf neun Arbeitstage wurde ein Ruhetag gewährt. Die Essensration hing von der erbrachten Normerfüllung ab. Ich war so schwach, dass ich kaum noch laufen konnte.

Gräberfeld beim ehem. Schacht 29 Foto: Archiv R. Bude  Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft
Gräberfeld beim ehem. Schacht 29 Foto: Archiv R. Bude Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft

Einmal in zehn Tagen konnten sich die Gefangenen in der „Banja" richtig waschen. Ansonsten  stand nur ein Trog zur Verfügung, der angebohrt war. In den Kopf hohen Löchern sorgten Nägel dafür, dass das Wasser nicht abfloss. Mit den Händen wurde jeweils ein Nagel nach oben gedrückt. So konnte man sich wenigstens das Gesicht benetzen. Vor der Baracke, im Winter in der Baracke, stand ein Kübel, in den die Gefangenen urinieren konnten. Er wurde am Tag von Invaliden geleert. Die „größeren Geschäfte" erledigte man in einem windigen Holzverschlag, der über einem Erdaushub errichtet war. Direkt über dem Aushub waren Bretter befestigt, in die kreisrunde Löcher geschnitten waren. Darüber hockten die Gefangenen auch bei Temperaturen unter 50 Grad Celsius. Toilettenpapier oder ähnliches gab es nicht.  Zahnpflege war nicht möglich, da es Zahnbürsten und Zahnpasta ebenso wenig gab wie Seife, letztere wurde allerdings für den Aufenthalt in der Banja in schlechtester Qualität und als Ministück ausgegeben.

Die medizinische Versorgung war miserabel. Um krankgeschrieben zu werden, musste man schon ganz erheblich erkrankt sein. Schlimm waren die häufigen Hepatitis-Epidemien und die Erkrankungen an Tuberkulose. Ein wirkliche Behandlung gab es nicht (eigene Erfahrung!). Josef Scholmer  hat hierüber in seinem Buch „Die Toten kehren zurück" (2. Auflage unter dem Titel „Als Arzt in Workuta") berichtet. Er hat mir, als ich Gott sei Dank fälschlicher Weise mit angeblicher Kehlkopf-Tuberkulose in die Krankenbaracke abgeschoben wurde, psychisch beigestanden. Als Arzt durfte er als Deutscher natürlich nicht arbeiten.

Sie waren mit Herbert Belter befreundet und standen ihm nahe. Was wussten Sie von seinem Schicksal?

Ich wusste von seiner Verurteilung, denn wir wurden gemeinsam verurteilt. Letzten Kontakt hatte ich im Gefängnis Berlin-Lichtenberg, wohin wir nach der Verurteilung verbracht worden waren. Er befand sich mit zwei weiteren Todeskandidaten in der Nebenzelle. Wir verständigten uns durch Klopfzeichen (Morse-Alphabet) bis er aus der Zelle geholt und zur Urteilsvollstreckung nach Moskau gebracht wurde.

Wann sind Sie, unter welchen Umständen und wohin nach Deutschland zurückgekehrt? Wo haben Sie schließlich gelebt?

Ich wurde Mitte März 1955 von Workuta nach Suchobeswodnoje, nordöstlich von Gorki (heute Nishnij Novgorod) in der Taiga gebracht, wo die Deutschen gesammelt wurden, um dann nach dem Besuch Adenauers als „Kriegsgefangene" nach Deutschland entlassen zu werden. Ich bin niemals Soldat gewesen, weil ich zu jung war. Am 16. Oktober wurde ich in die DDR entlassen. Nach zehn Tagen verließ ich die Heimatstadt Annaberg-Buchholz und meine Eltern und floh in den Westen. Seit 1964 lebe ich in München.

Erfolgte in den 90er Jahren eine Rehabilitation durch den Militärstaatsanwalt der Russischen Föderation? Mit welcher Begründung? Mussten Sie dafür einen Antrag stellen?

Ich wurde von der russischen Militärstaatsanwaltschaft voll rehabilitiert, da ich zu Unrecht verurteilt worden sei und ein russisches Gericht mich als DDR-Bürger und dazu nach dem russischen Strafgesetzbuch gar nicht hätte verurteilen dürfen. Eine Entschuldigung oder ein Wort des Bedauerns gab es nicht. Der Antrag auf Rehabilitierung wurde nicht von mir, sondern von meinem Kameraden Dieter Scharf (verstorben) für die ganze Gruppe gestellt.

Welchen beruflichen Werdegang haben Sie genommen? Waren Sie weiter politisch aktiv?

Studium der Volkswirtschaft von 1956 bis 1960 in Nürnberg (heute Universität Erlangen-Nürnberg)
Promotion 1963 an der Universität Hamburg, Institut für Verkehrswissenschaft
Habilitation 1970 an der Ludwig-Maximilians-Universität München
Berufung zum o. Professor der LMU im März 1974. Dort Vorstand des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft Ost- und Südosteuropa.

Politisch wurde ich nicht mehr aktiv.

Welche Auszeichnungen erhielten Sie für Ihre Lebensleistung?

Ich wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Persönliches:

Wo ist Ihre Heimat? Was verbindet Sie mit Ihrer Heimat?

Die Heimat ist das Erzgebirge (Annaberg-Buchholz). Mit ihm verbinden mich meine Kindheit und die Schönheit der Natur.

Welches Buch oder welche Bücher würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?

Den „Faust" von J. W. Goethe

Sie haben eine Vielzahl an Veröffentlichungen vorzuweisen. Beabsichtigen Sie noch ein Buch
zu schreiben?

Nichts ist unmöglich

Was war für Sie Ihr größter Erfolg?

Es gab beruflich viele Erfolge. Privat: Dass ich die richtige Frau gefunden habe.

Wo haben Sie sich niedergelassen und warum gerade dort?

München, wohin ich einen Ruf erhalten hatte. Es war immer mein Wunsch gewesen, in dieser
schönen Stadt zu leben.

 

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