„Am
Sonnabend vormittag fuhr an der Ecke der Elisenstraße
(Bernhard-Göring-Straße) und Kantstraße ein 16jähriger Schüler
aus der Schenkendorfstraße (Nr. 61) mit seinem Fahrrade in ein
Fleischergeschirr. Der Radfahrer wurde umgerissen und erlitt
Verletzungen am Kinn und an den Beinen. Mit dem Krankenwagen wurde der
Verunglückte in die elterliche Wohnung gefahren“, las Leipzig am
Montag, den 19. April 1909, in der Zeitung. Der Gymnasiast hieß
Rudolf und war vor drei Wochen erst an die Pleiße gezogen. Vater
Wilhelm Ditzen war ans Reichsgericht berufen worden. Fürs
Königin-Carola-Gymnasium sollte Rudolf an eben jenem Montag seine
Aufnahmeprüfung bestehen, denn die Lehrpläne seiner bisherigen
Schule in Berlin glichen nicht denen in Sachsen. Tagelang hatte der
Abiturient gepaukt, zur Belohnung für all die Mühen hatte der Vater
dem Sohne ein Fahrrad geschenkt. Der Knabe wollt‘ es ausprobieren.
„Der Rausch der Schnelligkeit, die Freude über das schöne, flinke
Radbezaubern mich immer mehr, in kurzem Bogen, ganz schräg liegend,
sause ich um die Ecke und sehe direkt vor mir einen Fleischerwagen,
dessen beide Braune auf mich zu galoppieren! Ob ich noch versucht
habe zu bremsen, weiß ich nicht mehr. Ich sehe nur noch zwei braune
Pferdebrüste, die hoch, hoch sich über mich erheben, und lange
Pferdebeine mit blinkenden Hufeisen, und die Beine werden auf mich zu
immer länger, immer länger ...“ Länger als ein Vierteljahr liegt
Rudolf Ditzen darauf im Krankenhaus. Der Pferdehuf hatte dem Jungen den Kiefer zertreten. Die Wagenräder waren über ihn hinweggerollt.
Ein Fuß gebrochen.Magenriss und -quetschung. Zunächst darf der
Knabe nichts mehr essen, wird mit Morphium behandelt und fragt sich:
„Oh, du Gott, der du behauptest, der Gerechte zu sein, warum ich?“
Rudolfs Genesung dauert. Schwindelanfälle bleiben. Der Fuß heilt langsam. Morphium hilft und Nietzsche, Hofmannsthal und Oscar Wilde. Doch die seelische Verletzung hat tiefe Spuren im Kinde hinterlassen. Im Juli ist Rudolf soweit wieder hergestellt, dass er mit Eltern und Geschwistern nach Tabarz in den Urlaub fahren kann. Die Mutter weiß: „Von da an war er höchst sonderbar, äußerst verschlossen, und schloss sich soviel wie möglich von uns ab.“Des Knaben Verwirrung der Gefühle wird noch größer. Drei seiner Mitschüler beenden ihr Leben selbst. Andrerseits spürt Rudolf das Frühlingserwachen seiner eigenen Geschlechtlichkeit. Aber Käthe Matzdorf, die Erwählte, erwidert seine Annäherungsversuche nicht. Er schreibt ihr Liebesbriefe und denunziert sich „als ein Freund, der wacht“, bei ihrer Mutter selbst. „In den Anlagen der Promenade zwischen fünf und sechs werden Sie den Schüler mit Ihrer Tochter Unzucht treiben sehen.“ Die Mutter, bass erschüttert, lässt die Handschrift prüfen. Schreiber: Rudolf Ditzen. Der Vater nimmt ihn von der Schule, schickt ihn ins Internat nach Rudolstadt. Dort will er mit einem Freund Doppelselbstmord begehen. Rudolf schießt gegen die Sonne und – trifft Hanns Dietrich von Necker tödlich. Im Sanatorium zu Tannenfeld bei Gera reift in Rudolf Ditzen der Plan, sich die Geschichte von der Seele zu schreiben. Der junge Goedeschal, ein Pubertätsroman erscheint 1920 im Verlag Ernst Rowohlt, Berlin. Der junge Autor gab sich den Namen Hans Fallada und schrieb fortan Weltliteratur.
Bildnachweis
Kopfbild: Hans Fallada aus Wikimedia, gemeinfrei.
Abb. 1 und 2: Henner Kotte.