Teil 1: Fragmentarisches Leben
„... aber das Pferd der Königstochter hieß Falada und konnte sprechen." So heißt es im Märchen der Gebrüder Grimm „Die Gänsemagd". Für mich war das rätselhafte Pferd der Königstochter, das treu war über den Tod hinaus, immer die Hauptperson in der Geschichte. Und dadurch, dass sein Kopf, angenagelt unter dem finsteren Tor, noch sprechen und der Königstochter schließlich zu ihrem Recht verhelfen konnte, wurde eine Welt wieder ins Lot gebracht, die eine niedere Person, die Kammerjungfer der Königstochter, für eine Weile frech in Unordnung gebracht hatte. Das Märchen wurde für uns Kinder mit seiner grausamen Strafe für die Kammerjungfer, die es unternahm, die Verhältnisse umzukehren und auch einmal Königin zu sein, zu einem glücklichen und zufriedenstellendem Ende gebracht.
Rudolf Ditzen legte sich im Jahre 1920, als sein Roman „Der junge Goedeschal" erschien, aus Rücksicht auf seine Eltern den Künstlernamen Hans Fallada zu. Er war ein rechtes Sorgenkind, was nicht seiner Herkunft geschuldet war. Er wurde am 21. Juli 1893 als Sohn des Landrichters Wilhelm Ditzen und seiner Ehefrau Elisabeth in Greifswald geboren. Sein Vater machte eine beeindruckende juristische Karriere, die ihn 1908 Reichsgerichtsrat am Reichsgericht in Leipzig werden ließ, dem obersten Straf- und Zivilgericht im Deutschen Reich.
Die Familie Ditzen siedelte im Jahre 1909 nach Leipzig über, und hier beginnt eine Rudolf Ditzens ganzes Leben begleitende Kette von Unglücken, die ihn körperlich und seelisch schwer beeinträchtigte und den heutigen Betrachter ratlos lässt, dass dieser Unglücksmensch zu einem der eindringlichsten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, einem Chronisten seiner Zeit ohnegleichen werden konnte.
Am 17. April 1909 gerät er mit seinem Fahrrad unter einen Pferdewagen. Magen und Zwölffingerdarm werden gequetscht, Huftritte der Pferde treffen seinen Kopf, die Unterlippe wird gespalten, Zähne werden ausgeschlagen, ein Bein ist gebrochen und er hat eine Gehirnerschütterung.
Nach fünf Monaten kann Rudolf Dietzen endlich wieder das Gymnasium in Leipzig besuchen. Nach einer Hollandfahrt mit den „Wandervögeln" erkrankt er an Unterleibstyphus und leidet danach an Depressionen. Ab 1911 besucht er das Fürstliche Gymnasium in Rudolstadt im damaligen Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt und erschießt bei einem Doppelselbstmordversuch seinen Schulkameraden Hanns Dietrich von Necker. Er will sich daraufhin selbst töten, verletzt sich lebensgefährlich und wird später in die psychiatrische Klinik der Universität Jena eingeliefert. Die Anklage gegen ihn wird fallengelassen, da sich „Ditzen zur Zeit der Begehung der Tat in einem Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit (befand), durch welche seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war (§51 StGb)".
Teil 2: Großes Werk
Liest man Falladas Bücher heute, so ist an der realistischen Darstellungsweise, der Sprache mit Wortwahl und den (meisterhaften) Dialogen sowie den gesellschaftlichen Zuständen (Bürokratie, Arbeitslosigkeit mit allen zugehörigen Entwürdigungen, Undurchsichtigkeit der Finanzwelt, Polizei, Behördenwelt, Ohnmacht gegenüber staatlichem Handeln usw.) und den sogenannten menschlichen Beziehungen kaum zu merken, dass die Bücher vor nunmehr 70 bis 80 Jahren geschrieben wurden. Haben sich die kapitalistische Welt und ihre „kleinen Leute" so wenig geändert? Es muss wohl so sein. Ich schreibe die kleinen Leute in Anführungszeichen, weil ich den Begriff „einfache Leute" vorziehe. Denn die kleinen Leute waren oft große Leute, die tapfer um ihr Überleben kämpften. Sie werden uns nahegebracht durch die Liebe Hans Falladas zu ihnen und die Kenntnis ihrer Lebensumstände, die zeitweise auch seine Lebensumstände waren.
In der DDR gab es ein nicht nachlassendes Interesse an den Büchern dieses Schriftstellers. Die einfachen Leute fanden sich mit ihren Erfahrungen aus der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus darin wieder. Endlich, so glaubten sie, hatten sie Lebensumstände erreicht, die sie - wie Falladas Gestalten - immer ersehnt hatten. Dazu gehörten eine bezahlbare Wohnung, erschwingliche Nahrungsmittel, ein sicherer Arbeitsplatz, kostenlose Bildung bis in den akademischen Bereich für ihre Kinder, kostenlose medizinische Versorgung, anscheinende Durchschaubarkeit der gesellschaftlichen Hierarchien und ein gesellschaftspolitischer Überbau, der auf alle Fragen eine Antwort zu haben schien.
Es waren deshalb nicht diese Leute, die 1989 als erste auf die Straße gingen, allenfalls schlossen sie sich später den Forderungen nach politischen Veränderungen an. Angesichts der endlich erreichten Lebenssicherheit und eines vergleichsweise guten Auskommens bei politischem Wohlverhalten entging ihnen, dass ihr Land in „ein quasi feudalistisches System zurückgefallen war" (Jürgen Kuczynski), das an sich selbst zugrunde ging und in dem nicht einmal die Forderungen der Französischen Revolution nach Gewaltenteilung, die Voraussetzung für die selbstverantwortete Teilhabe des Citoyen, erfüllt waren. Es entging ihnen oder sie konnten oder wollten es nicht wahrhaben - diese einfachen Leute.
Kaum ein deutscher Schriftsteller des 20. Jahrhunderts hat mit solcher Wirklichkeitsnähe, so „lebenshungrig" und mit einer solch schonungslosen Einbeziehung seiner eigenen Person in ihrer Kleinheit, Schwäche und ihren zeitlosen Wünschen und mit einer so selbstverständlichen Eindringlichkeit geschrieben wie Hans Fallada.
Es gibt zwei Stellen im „Eisernen Gustav", die in zu Herzen gehender Weise Falladas Nähe zu den einfachen Leuten wie auch ihre Sehnsucht nach einem sauberen Leben beschreiben. Es ist zum einen das „Märchen vom Bäckerladen" und das anschließende Betteln des kleinen Gustävings um ein Stück Brot mehr, und zum anderen die Erinnerung des alten Droschenkutschers an die „Jugend- und Sternenkühle seiner Knabenjahre". Deshalb empfehle ich von den unten aufgeführten Büchern als erstes den „Eisernen Gustav", der einem den ganzen Fallada vor Augen führt.
Fallada, Hans. 2000. Geschichten aus der Murkelei. Mit einem Nachwort von Sabine Lange. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag
Fallada, Hans. 1983. Wer einmal aus dem Blechnapf frißt. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Fallada, Hans. 1986. Bauen, Bonzen und Bomben. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
Fallada, Hans. Pfingstfahrt in der Waschbalje. In: Deutsche Erzähler des 20. Jahrhunderts. Band II. Berlin 1957, Verlag Neues Leben.
Fallada, Hans. 1970. Kleiner Mann - was nun? Roman. Berlin und Weimar: Aufbau Verlag
Fallada, Hans. (o.J.) Fridolin der freche Dachs. Eine zwei- und vierbeinige Geschichte mit Zeichnungen von Hans Baltzer. Berlin: Kinderbuchverlag
Fallada, Hans. 1989. Hoppelpoppel wo bist du? und andere Kindergeschichten. Leipzig: Philipp Reclam Junior
Fallada, Hans. 1977. Der eiserne Gustav. Roman. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag
Fallada, Hans. 1987. Der Trinker. Roman. Der Alpdruck. Roman. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag
Börner, Emil. 2010. „Wenn Ihr überhaupt nur ahntet, was ich für einen Lebenshunger habe!" Hans Fallada in Thüringen. Ausstellungskatalog. Weimar und Jena: Hain-Verlag.
Grimm, Jacob und Wilhelm. 1977. Die Gänsemagd. In: Kinder- und Hausmärchen. München
Tucholsky, Kurt. (Ignaz Wrobel). 1931. Bauern, Bonzen, Bomben. In: Die Weltbühne vom 7.3.1931, Nr. 14, S. 496 (Weblink: http://www.textlog.de/tucholsky-bauern-bonzen. Web-Zugriff am 20. 8. 2011)
Liersch, Werner. 1981. Hans Fallada. Sein großes kleines Leben. Biografie. Berlin: Verlag Neues Leben.