Leipzig-Lese

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Leipzig - Die 99 besonderen Seiten der Stadt
ISBN: 978-3-95462-595-7
Leipzig ist Messe und Universität, Völkerschlacht und Kabarett. Es ist Heimstatt der Bücher, des Sports und der Schwarzen Szene. Doch welche Menschen prägten die Stadt häufig im Verborgenen?
Henner Kotte zeigt in seinen vergnüglichen Betrachtungen, dass sich abseits ausgetretener Tourismuspfade, aber auch im Altbekannten noch viel Überraschendes finden lässt. Das Buch ist mit dem ITB BuchAward 2018 ausgezeichnet.

Oh, Fallada, der du da lagest

Oh, Fallada, der du da lagest

Henner Kotte

Unfallkreuzung. (1)
Unfallkreuzung. (1)

„Am Sonnabend vormittag fuhr an der Ecke der Elisenstraße (Bernhard-Göring-Straße) und Kantstraße ein 16jähriger Schüler aus der Schenkendorfstraße (Nr. 61) mit seinem Fahrrade in ein Fleischergeschirr. Der Radfahrer wurde umgerissen und erlitt Verletzungen am Kinn und an den Beinen. Mit dem Krankenwagen wurde der Verunglückte in die elterliche Wohnung gefahren“, las Leipzig am Montag, den 19. April 1909, in der Zeitung. Der Gymnasiast hieß Rudolf und war vor drei Wochen erst an die Pleiße gezogen. Vater Wilhelm Ditzen war ans Reichsgericht berufen worden. Fürs Königin-Carola-Gymnasium sollte Rudolf an eben jenem Montag seine Aufnahmeprüfung bestehen, denn die Lehrpläne seiner bisherigen Schule in Berlin glichen nicht denen in Sachsen. Tagelang hatte der Abiturient gepaukt, zur Belohnung für all die Mühen hatte der Vater dem Sohne ein Fahrrad geschenkt. Der Knabe wollt‘ es ausprobieren. „Der Rausch der Schnelligkeit, die Freude über das schöne, flinke Radbezaubern mich immer mehr, in kurzem Bogen, ganz schräg liegend, sause ich um die Ecke und sehe direkt vor mir einen Fleischerwagen, dessen beide Braune auf mich zu galoppieren! Ob ich noch versucht habe zu bremsen, weiß ich nicht mehr. Ich sehe nur noch zwei braune Pferdebrüste, die hoch, hoch sich über mich erheben, und lange Pferdebeine mit blinkenden Hufeisen, und die Beine werden auf mich zu immer länger, immer länger ...“ Länger als ein Vierteljahr liegt Rudolf Ditzen darauf im Krankenhaus. Der Pferdehuf hatte dem Jungen den Kiefer zertreten. Die Wagenräder waren über ihn hinweggerollt. Ein Fuß gebrochen.Magenriss und -quetschung. Zunächst darf der Knabe nichts mehr essen, wird mit Morphium behandelt und fragt sich: „Oh, du Gott, der du behauptest, der Gerechte zu sein, warum ich?“

Wohnhaus in der Schenkendorfstraße 61. (2)
Wohnhaus in der Schenkendorfstraße 61. (2)

Rudolfs Genesung dauert. Schwindelanfälle bleiben. Der Fuß heilt langsam. Morphium hilft und Nietzsche, Hofmannsthal und Oscar Wilde. Doch die seelische Verletzung hat tiefe Spuren im Kinde hinterlassen. Im Juli ist Rudolf soweit wieder hergestellt, dass er mit Eltern und Geschwistern nach Tabarz in den Urlaub fahren kann. Die Mutter weiß: „Von da an war er höchst sonderbar, äußerst verschlossen, und schloss sich soviel wie möglich von uns ab.“Des Knaben Verwirrung der Gefühle wird noch größer. Drei seiner Mitschüler beenden ihr Leben selbst. Andrerseits spürt Rudolf das Frühlingserwachen seiner eigenen Geschlechtlichkeit. Aber Käthe Matzdorf, die Erwählte, erwidert seine Annäherungsversuche nicht. Er schreibt ihr Liebesbriefe und denunziert sich „als ein Freund, der wacht“, bei ihrer Mutter selbst. „In den Anlagen der Promenade zwischen fünf und sechs werden Sie den Schüler mit Ihrer Tochter Unzucht treiben sehen.“ Die Mutter, bass erschüttert, lässt die Handschrift prüfen. Schreiber: Rudolf Ditzen. Der Vater nimmt ihn von der Schule, schickt ihn ins Internat nach Rudolstadt. Dort will er mit einem Freund Doppelselbstmord begehen. Rudolf schießt gegen die Sonne und – trifft Hanns Dietrich von Necker tödlich. Im Sanatorium zu Tannenfeld bei Gera reift in Rudolf Ditzen der Plan, sich die Geschichte von der Seele zu schreiben. Der junge Goedeschal, ein Pubertätsroman erscheint 1920 im Verlag Ernst Rowohlt, Berlin. Der junge Autor gab sich den Namen Hans Fallada und schrieb fortan Weltliteratur.

Bildnachweis

Kopfbild: Hans Fallada aus Wikimedia, gemeinfrei.

Abb. 1 und 2: Henner Kotte.

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