„Gehen Sie doch zu dem großen Mann der Physik, zu Heisenberg in Leipzig", lautete der Rat, den der Polymerchemiker Hermann Mark im Wintersemester 1927/28 an der Technischen Hochschule in Karlsruhe seinem Studenten Edward Teller gab. ¹ In Karlsruhe hatte der 20-Jährige aus Budapest gerade seine Vordiplomprüfungen in Chemie und Mathematik mit ausgezeichneten Ergebnissen bestanden. Aber bei ihm war unterdessen der Wunsch und Wille gewachsen, das Periodensystem der Elemente von der neuen Quantentheorie des Atoms her verstehen zu lernen. Sein Studium in Karlsruhe brachte Teller daher nicht zum Abschluss. Er folgte dafür aber dem Rat von Hermann Mark, von der Chemie in die Physik zu wechseln und die moderne Physik aus erster Hand zu studieren.
Nach einer Zwischenstation bei Arnold Sommerfeld in München kam der Chemiker, den die theoretische Physik und speziell das Verhalten der Elektronen in der Atomhülle als Forschungsthema faszinierte, nach Leipzig in die Linnéstraße 5. Als Teller das erste Mal ins Theoretisch-Physikalische Institut marschierte, humpelte er, denn er hatte in München im Juli 1928 bei einem Unfall seinen rechten Fuß verloren. Heisenberg nahm den Neuankömmling von der Technischen Hochschule Karlsruhe gut und gern auf, denn ihn interessierten die Fragen des Molekülbaus seit Jahren. Längst war die Zeit gekommen, in der es darauf ankam, die Quantentheorie nicht mehr nur auf das Wasserstoffatom, sondern nun auch auf das einfachste Molekül anzuwenden. Die Anwendung der neuen Theorie auf das Wasserstoffmolekül, das aus zwei Kernen und zwei Elektronen aufgebaut ist, war immer noch zu schwierig. Aber die Anwendung auf das Wasserstoffmolekülion, das aus zwei Kernen und nur einem Elektron besteht, wurde in der Fachpresse der theoretischen Physik gerade diskutiert.
Für einen jungen Wissenschaftler aus der Chemie gab es somit Arbeit in den Bahnen der neuen Physik.
Im Wintersemester 1928/29 musste Teller bei Heisenberg keine Vorlesungen besuchen. Der Professor nahm ihn sogleich in das Forschungsseminar zur „Struktur der Materie" auf. Teller musste ein Referat über die mathematische Sprache der Quantentheorie und zwar über die Symmetriearbeiten seines ungarischen Kollegen Eugene Wigner halten. Vor allem aber stellte Heisenberg seinem Doktoranden eine Aufgabe, die beide brennend interessierte: die Berechnung der Eigenschaften des Wasserstoffmolekülions auf der Grundlage der Quantentheorie. Als Heisenberg Anfang 1929 seine schon länger geplante Weltreise begonnen hatte und bei seinen Schiffstouren auf den Weltmeeren eifrig Tischtennis trainierte, damit keiner seiner Doktoranden ihn künftig beim Spiel mehr schlagen können sollte, saß Teller in Leipzig an seiner Rechenmaschine. Er rechnete und rechnete. Nacht für Nacht rasselte die Maschine. Die weitere Betreuung seiner Arbeit übernahm im Mai 1929 Friedrich Hund, der mit Heisenberg seit den sogenannten Bohr-Festspielen von 1922 in Göttingen gut bekannt war. Professor Hund war durch sein Buch über Linienspektren und periodisches System der Elemente (1927) der beste Fachmann für Molekülbau im Allgemeinen und für die Berechnung des Wasserstoffmolekülions im Besonderen.
Nach der Rückkehr von der Weltreise im November 1929 mischte sich Heisenberg nicht in die Betreuung ein. Er drängte aber seinen Doktoranden, die Berechnungen nicht weiter fortzusetzen, sondern abzuschließen und die Ergebnisse zu Papier zu bringen. Am 6. Februar 1930 reichte Teller seine Dissertationsschrift versehen mit seinem Lebenslauf an der Universität Leipzig ein. Bereits am 9. Februar 1930 verfasste Friedrich Hund ein ausführliches Gutachten und bewertete die Arbeit mit dem Prädikat „Sehr gut". Am 10. Februar 1930 stimmte Heisenberg dem Urteil seines Kollegen Hund zu und gab ebenfalls die Note „Sehr gut".
Am 23. Februar 1930 absolvierte Teller die mündliche Doktorprüfung in Physik bei Friedrich Hund, in Mathematik bei Paul Koebe und in Chemie bei Max le Blanc jeweils mit dem Prädikat „ausgezeichnet".
Da der Doktorand Teller in Leipzig keine Vorlesungen besucht hatte und auch bei Professor Koebe keine Lehrveranstaltungen belegt hatte, war es besonders in der Mathematik sehr schwer, ein hervorragendes Prädikat zu erreichen. Dem Professor gefiel es überhaupt nicht, dass der ungarische Doktorand nicht in seine Vorlesungen gekommen war. Im Interview zu seinem Studium in Leipzig erzählte Edward Teller von einer List, die er anwenden musste, um die Hürde der Prüfung bei Professor Koebe mit Erfolg nehmen zu können. Teller sprach mit den Studenten des Mathematikers Koebe, um herauszufinden, was für Fragen er in seinen Prüfungen stellt. Über den Verlauf der Prüfung vom 23. Februar 1930, die in der Zeit von 11.00 bis 12. 00 Uhr stattfand, und auch über den Effekt der getroffenen Vorkehrung berichtete Teller im Interview. Über Professor Koebe erzählte er: „Nachdem er einige triviale, einfache Fragen gestellt hat, sagte er mir: 'Nun Herr Teller, reden Sie, worüber Sie wollen!' Und da war ich völlig vorbereitet. Denn ich wusste, das tat er in den meisten Examen. Da habe ich einen ziemlich verwickelten Beweis genau beschrieben. Dann hörte er eine gute halbe Stunde oder länger zu und erschien sehr interessiert. Dann sagte er: 'Aber Herr Teller, Sie wissen doch wahrscheinlich, dass dieser Beweis zum erstenmal von mir geliefert wurde.' 'Ja,' sagte ich, 'Herr Professor, das weiß ich.' Was ich ihm nicht gesagt habe, dass das genau der Grund war, dass ich darüber geredet habe. So habe ich meine I bekommen."²
Die Geschichte mit Paul Koebe, die Teller im Alter zum Besten gab, steht nicht in den Akten der Universität Leipzig. Aber die herausragenden Arbeits- und Forschungsergebnisse des begabten ungarischen Naturwissenschaftlers haben dauerhafte Spuren in den überlieferten Akten hinterlassen.
Nach dem Abschluss der Dissertation wurde Edward Teller neben Felix Bloch der zweite Assistent von Heisenberg am Theoretisch-Physikalischen Institut. Erst jetzt besuchte Teller bei Heisenberg die Vorlesungen, weil er gemeinam mit Felix Bloch die Übungsaufgaben der Studenten korrigieren musste. Im Sommersemester 1930 und im Wintersemester 1930/31 agierte der frischgebackene Doktor der Physik in der
Linnéstraße 5 als Assistent. Im Mai 1931 ging Teller an die Universität Göttingen, um am Chemisch-Physikalischen Institut bei dem Chemiker Arnold Eucken als Assistent eingestellt zu werden. Noch war die Herkunft aus einer jüdischen Anwaltsfamilie kein Hinderungsgrund für die Anstellung an einer deutschen Universität. Mit dem Wechsel nach Göttingen war die Studienzeit von Edward Teller, die er in Budapest und Karlsruhe begann, um sie nach einer Zwischenstation in München bei Heisenberg und Hund in Leipzig fortzusetzen, endgültig abgeschlossen. In seinen Lebenserinnerungen schreibt Edward Teller dankbar und anerkennend, dass er in Leipzig bei Heisenberg ein geistiges Zuhause gefunden habe: „I also found something I had never possed before: a home for my spirit." ³
Bei seinem Professor in der Linnéstraße lernte Teller nicht nur, wie man Moleküle berechnet, sondern er lernte auch, wie man Werke von Johann Sebastian Bach auf dem Klavier spielt. Das wichtigste Ergebnis der Doktorandenzeit aber war die Anwendung der Quantentheorie auf die Erforschung der einfachsten Moleküle. Seinem Lehrer Heisenberg schrieb Teller später einmal über die Bedeutung seiner Leipziger Jahre: „Mit Ihrer Hilfe wurde ich aus dem Sumpf der Chemie gerettet und steuerte in die Klarheit der Physik."?
Teller gehört neben Felix Bloch und Rudolf Peierls zu den „drei genialen jungen Physikern" in Leipzig, die Heisenbergs Schule in der Weimarer Republik Weltruf verleihen. Er zählt zu zwei Leipziger akademischen Familien, an deren Spitze Nobelpreisträger stehen. Er ist der Schüler von Heisenberg; er ist durch seinen Lehrer Georg Bredig in Karlsruhe aber auch ein akademischer Enkel von Wilhelm Ostwald.
Im September 1933 verlässt der jüdische Wissenschaftler Göttingen und emigriert nach London. Durch seine politischen Erfahrungen in Ungarn und durch die nüchterne Einschätzung der Machtübernahme Hitlers in Deutschland ist er rechtzeitig vor der heraufziehenden Gefahr gewarnt. 1934 geht Teller zu Niels Bohr in Kopenhagen. Bereits 1935 holt ihn George Gamow an die George Washington University in Washington D. C.. Angeregt von Leo Szilard arbeitet sich Teller in die Kernphysik ein und nimmt die amerikanische Staatsbürgerschaft (1941) an. 1942 wird er Mitarbeiter im Aufbaustab für das Manhattan-Projekt mit dem Ziel der raschen Atombombenentwicklung (Kernspaltung und Kernfusion). Am 16. Juli 1945 ist Teller in New Mexico Augenzeuge des ersten Tests einer Atomwaffe. Im Kalten Krieg setzt er sich vehement für den Bau der amerikanischen Wasserstoffbombe ein. Dabei leitet ihn das patriotische Motiv, in der Rivalität mit der Sowjetunion eine „Superbombe für die freie Welt" zu entwickeln. Ein Motiv, das sein russischer Gegenspieler Andrej Sacharow respektiert, während sich viele amerikanische Kollegen von Teller und seinem Rüstungsengagement abwenden.
12. Januar 2015
¹ Ein Atomphysiker erzählt. Edward Teller zwischen Leipzig und Livermore. Universität Leipzig 1998. S. 11.
² Telefoninterview mit Edward Teller vom 16. November 1995. - Vgl. Das „goldene Zeitalter" der Atomphysik. Ein Mut-Interview mit Edward Teller von Konrad Lindner. In: Mut. Forum für Kultur, Politik und Geschichte. Nr. 349. September 1996. S. 60.
³ Edward Teller with Judith L. Shoolery: Memoirs. A Twentieth-Century Journey in Science an Politics. Cambridge, Massachusetts 2001. S. 58.
? Zitiert nach H. Rechenberg: Werner Heisenberg - Die Sprache der Atome: Leben und Wirken - Eine wissenschaftliche Biographie - Die 'Fröhliche Wissenschaft' (Jugend bis Nobelpreis). Band 2. Berlin / Heidelberg 2010. S. 828.
Bildnachweis
UAL: (1) bis (3)
Wikimedia Commons, gemeinfrei: Kopfbild und (4)
Archiv Dr. Konrad Lindner: (3) und (5)
Der Bertuch Verlag dankt dem Direktor des Universitätsarchivs Leipzig, Herrn Dr. Jens Blecher, für die Erlaubnis, die Bilder (1) bis (3) im Artikel zu verwenden. Ebenso sei dem Autor für die Überlassung der Bilder aus seinem Archiv gedankt.