Norddeutscher von Geburt – das Idiom mit dem getrennten s-t hat er nie verloren – war er Schüler und Student in Leipzig, schließlich aus politischer Neigung ein passionierter Berliner. Otto Suhr wurde am 1. August 1894 in Oldenburg als Sohn eines Oberpostsekretärs geboren.
Nachdem der Vater zum Bezirkssekretär der Versicherungsgesellschaft Verein-Barmenia aufgestiegen und nach Leipzig versetzt worden war, besuchte Suhr ein im Geiste des Liberalismus geführte Realgymnasium, wo er nebenbei „Karnickel sezieren lernte, und im Abitur noch vor dem 1. Weltkrieg, 1914, die experimentelle Anordnung und Berechnung der Geschwindigkeit der Röntgenstrahlen beschreiben musste“. Für das Sommersemester 1914 trug er sich am 15. April für „germ. et. hist.“ ein. Er wusste nicht, dass es vorerst sein letztes Semester sein würde. Bei dem Historiker Karl Lamprecht bekam er eine Ahnung von der Methode und Weite der Geschichtsbetrachtung. Lamprechts Assistent Emil Mencke-Glückert vertiefte den Stoff im Seminar. Später bekennt Suhr: „Meine wissenschaftliche Ausbildung verdanke ich dem Institut für Kultur- und Universalgeschichte an der Universität Leipzig.“
Aus der „theoretischen Ausbildung fürs Leben“ wurde bald dann eine praktische. Im August 1914 zog er in den Krieg und jetzt wandelte sich auch sein Weltbild. An der Front lernte er ältere Arbeiter kennen, die von ihren sozialen Nöten sprachen. Noch als Soldat trat Suhr der Sozialdemokratischen Partei bei, und er blieb unverändert dabei, als er zum Offizier avancierte und vom sächsischen König persönlich die höchste Militärauszeichnung, das Ritterkreuz des Militär-St.-Heinrichs-Orden für besondere Tapferkeit, erhält. Wahrscheinlich war Suhr der einzige Sozialdemokrat, der diesen Wettiner Militär-Orden jemals erhalten hat. Später schreibt seine Frau, dass er oft über militärische Tapferkeit gespöttelt habe und stattdessen Zivilcourage einforderte. Nur einmal sollte Suhr noch zur Waffe greifen: als es 1920 galt, den Kapp-Putsch abzuwehren.
Nach fast fünfjähriger Pause nahm Suhr sein Studium in Leipzig wieder auf. Das zweite Semester, als Zwischensemester 1919 angezeigt, war nach den revolutionären Umbrüchen ein Neuanfang und keine Fortsetzung. Lamprecht war 1915 gestorben und sein Nachfolger Walter Goetz am Institut für Universal- und Kulturgeschichte setzte die Akzente anders. Suhr hörte bei den Historikern Alfred Doren, Rudolph Kötzschke und vor allem bei Erich Brandenburg die berühmte Vorlesung zur Geschichte der Reformation und Gegenreformation. Als Student der Germanistik, im Althochdeutschen gut beschlagen, kam er auch in die Vorlesungen des Literaturwissenschaftlers Georg Witkowski, außerdem faszinierte ihn die Ausführungen des Nationalökonomen und Zeitungswissenschaftlers Karl Bücher.
Am 24. Februar 1921 heiratete Suhr die Studentin Susanne Pawel, eine Tochter des jüdischen Kaufmanns Julius Pawel. Sehr wahrscheinlich haben sich beide im Hörsaal von Georg Witkowski kennengelernt. Das Paar lebte zunächst in der Pawelschen Wohnung in der Waldstraße 57. Am 29. Juli 1919 richteten Studentinnen und Studenten ein Gesuch an die Philosophische Fakultät zur Weiterleitung an das Kultusministerium, den verdienstvollen Georg Witkowski doch endlich auf eine freigewordene außerordentliche etatmäßige Professur zu berufen. Das Dokument unterschrieben auch Otto Suhr und Susanne Pawel. Im gleichen Jahr 1919 fand unter Suhrs Leitung der erste Kongress des neugegründeten Sozialistischen Studentenbundes statt. Im demokratischen Studentenbund spielte Suhrs langjähriger Freund Ernst Lemmer eine führende Rolle.
Suhr beschloss seine Leipziger Studentenjahre 1923 mit der von Walter Goetz betreuten Dissertation „Die berufsständische Verfassungsbewegung in Deutschland bis zur Revolution von 1848“. Drei Jahre zuvor hatte er in Kassel seine Tätigkeit als leitender Mitarbeiter für Pressefragen bei der Reichszentrale für Heimatdienst aufgenommen. Die berufsständigen Verbände standen im Mittelpunkt seiner späteren publizistischen Arbeit, sie bestimmten sein politisches Denken und Handeln. Im Dualismus von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden sah er sein demokratisches Grundverständnis verwirklicht. Es machte ihn immun gegen die Verführung der Propagandisten von rechts und links.
Nach Abschluss seines Studiums entschied er sich gegen eine akademische Laufbahn und für die praktische Politik. Auf das politische Feld hatte ihn schon der Historiker Freidrich Meinecke gewiesen. Dabei lag Suhr die gewerkschaftliche Arbeit mehr als die rein politische. In der Erwachsenenbildung schienen sich beide in einer glückseligen Synthese zu vereinen. Als die „Faschistische Gefahr größer denn je“ war – so die Überschrift eines Zeitungsartikels von Suhr zu Weihnachten 1932 – glaubte er keineswegs, dass die nationalsozialistische Diktatur ein kurzlebiger Zwischenfall sei, er schätzte sie auf 12 Jahre!
Von Anfang an stand Otto Suhr zusammen mit seiner jüdischen Frau mit Adolf Reichwein, Carlo Mierendorf und vielen anderen im Widerstand. Als der letzte legal gewählte preußische Kultusminister Adolf Grimme 1942 verhaftet wurde, schien es nur eine Frage der Zeit, bis die Gestapo dem Ehepaar Suhr auf die Spur kam. Glückliche Umstände und das Chaos einer zerstörten Stadt verhinderten das Ärgste; er konnte seine jüdische Frau vor der Deportation retten.
1956 wurde Otto Suhr nach einer Legislaturperiode als Parlamentspräsident von den Abgeordneten zum Regierenden Bürgermeister von Berlin gewählt. Er stand einer Koalition von SPD und CDU vor. Suhr hat mit viel persönlichem Mut und Geschick die freiheitliche Demokratie gegen alle Angriffe von innen und außen verteidigt. Dennoch stand er im Schatten seines Vorgängers Ernst Reuter und seines Nachfolgers Willy Brandt. Zwei Jahre nach seinem frühen Tod 1957 erhielt das von ihm begründete Institut für Politwissenschaften seinen Namen.
Bildnachweis
Abb. 2 : Otto und Susanne Suhr mit Freunden während des Studiums in Leipzig, vor dem Augusteum.(um 1921). Landesarchiv Berlin
Abb. 3 und Ausschnitte Kopfbild, Abb.1:
Otto Suhr mit Kindern auf dem Flughafen, 6. Juli 1955 :
Bundesarchiv
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