Die Korrektur
Ich erwachte von einem Schluchzen, es war meines.
Ruckende Bewegungen des Brustkorbes bis in den Adamsapfel herauf.
Nämlich ich starb. Und die Enkelin, die tirilierend mich tätschelte,
Wußte nicht. Wie auch.
Sterben - an geht's, wohlan. Weggehen aber aus ihrem
Gewußtsein. Vielleicht daß beim Hören meines Namens
Ein Lichtstäubchen Heimelung dermaleinst, ein Lichts-Splitterchen
Ihr noch vorüberflög?
Ich entschloss mich zu weilen. 2007
Man sieht auf das Foto und sodann, bitte, auf das Gedicht; es ist das Gedicht eines im siebzigsten Lebensjahr Stehenden. Die Überschrift des Gedichtes verspricht wohl, den Schock der ersten Verse auszulöschen. Dass den Alternden die Vorstellung des Endens überfallen kann, ja muss, ist Lebensgesetz. Doch Gesetz ist auch, schwindende Zeit, wie auch immer geartet, festhalten zu wollen. „Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden"‚ heißt es einmal bei Hermann Hesse. Hier kommt der „Ruf" von der Enkelin; die Antwort will sein: Ich entschloss mich zu weilen. Ein überraschend beglückendes Gedicht.
Genau vierzig Jahre nach Erscheinen seines ersten Gedichtbandes - „Antiherbstzeitloses" 1969 - präsentierte Peter Gosse 2009 die Summe seines lyrischen Werkes - Veröffentlichtes, Unveröffentlichtes. Seine Auswahl des Gültigen. Unter dem ersten Gedicht steht die Jahreszahl 1963; das hier zitierte datiert 2007. Der Band hat den verspielt-anspielenden Titel „Wohltemperiertes Brevier". J. S. Bach hatte die Sammlung seiner 24 Präludien und Fugen, in der Reihenfolge aller Tonarten, „Wohltemperiertes Clavier" benannt. Hier nun also Gedichte in vielen Ton- und Form-Gestalten, wohltemperiert.
Die Gedichte umspannen fast ein halbes Jahrhundert. Hier ist ein Dichter, der sich auf jene Zeit eingelassen hat. Sie war am Anfang anders als an ihrem Ende, ist am Ausgang nicht in ihrem Beginn zu erkennen -- 1956-1962 Studium der Hochfrequenztechnik in Moskau, mag die Grundlage seiner Anschauung von der Welt gewesen sein: Hingerissensein an die Alternative.
Diese Gewissheit trug ihn in seine eigentliche Bestimmung: Dichtung, Wort-Kunst. Von Anfang an dem Moment und dem Zeitlosen verbunden, dem Geschichtlichen und dem Mythos, dem wissenschaftlich Rationalen und einer Erotik, die von Blendung und von Gnade weiß. Früh schon in einer eigenen Sprache, die es dem Leser nicht leicht manchen kann, dennoch, in humorig-grimmiger Weise, auf ihn hofft: ihr meine Leserscharn. Er kennt die Leute - in seinen ersten Reportagen war er ihnen nahe - Leute, die arbeiten, berserken/daß die Mauer bald unnötig wird, und er spricht, wenn auch zögernd, von diesem Staat/ ...an den ich nüchtern und logischerweise/ was verloren hab:/Wie man so sagt, das Herz. (1964)
Doch wie Denken und Dichten nach diesem 1968, der Überwältigung eines sozialistischen Reformversuchs? Nicht dem Ikarus wird Ruhm gesungen, sondern „Munterung an Dädalus" (1972) gesprochen: Festhalten an der Alternative, auf immer unerprobten Wegen:
...begeh den Kompromiß, diesseits von Grübeln und Traumeln! Taktier / zwischen Che und Dubcek... Dort ist das Land! - zwischen Selbstaufgabe und Selbstmord.
Der Ton der Gedichte wird melancholisch: Fünter Akt eines Dramas (1986), aggressiv: Arschkriechen, dann Arschtritte (1986), bitter: Leichtsinn und Langeweile...Brüderlichkeit/
War zur Vetternwirtschaft zergrieselt / Die Wirtschaft zu Wurschtln.../ Gleichheit - / Unter in Gleichgültigkeit ging sie (1988). Doch schließlich Hoffnung. Allein, zu spät, umsonst.
Gleich das nächste Gedicht, „Jener Herbst" 1990, findet sich auf dem Boden der Wirklichkeit:
Denn dann war alles anders. Wenn auch der vorletzte Satz verspricht: Aber sollte doch kommen, was kam: sollte doch, was zu kommen bestimmt war auf eine Zeit, kommen. Diese nun jetzige Wirklichkeit ist freilich eine auf eine Zeit. Das sollte uns Gewissheit sein.
Als Gosse 1985 Leiter des Lyrik-Seminars an der Poetenschule in Leipzig wurde, folgte er einem der Lehrerprinzipien Georg Maurers: den Studenten den Blick für den Reichtum der Welt-Lyrik aufzuschließen. Das hieß: vermitteln und sich selbst herausgefordert wissen, im eigenen Gedicht: Dante, Shakespeare, Donne, Perse, Pound, Borges, Achmatowa, Brecht, und die Schwesternkunst:
Michelangelo, Riemenschneider, Signorelli sowie die Nachbarn: G. K. Müller, B. Münzner, B. Zettl.
Peter Gosse, ursprünglich Hochfrequenztechniker, schreibt, seit 1968 freischaffend, Reportagen, Essays. Bilddeutungen, Geschichten, vor allem aber Gedichte. 2009 sammelte er Gedichte aus den Jahren 1963 bis 2008 in einen Band, das „Wohltemperierte Brevier" benannt. Es folgten die Gedichte bis 2013 im Buch „Petri?ziert".
PETER GOSSE. Lehrer junger Poeten am Leipziger Literaturinstitut; zuletzt 1993, dessen kommissarischer Direktor. Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste, zeitweilig deren Vizepräsident, Mitglied des PEN. Vielfach für seine Schriften geehrt, 1969 Kunstpreis der Stadt Leipzig, 1985 Heinrich-Heine-Preis, 1991 Heinrich-Mann-Preis. Bewunderung für dieses Leben und dieses überwältigende dichterische Werk!
Nur einiges ist hier angedeutet. Ich bin mir sicher: Peter Gosse gehört zu den Bleibenden der deutschen Gegenwartsliteratur.
Bildnachweis
Der Bertuch Verlag dankt Peter Gosse für sein Foto, das er für den Artikel zur Verfügung stellte.
Wikimedia Commons, gemeinfrei: Bach-Autograph