Der Name Reclam ist untrennbar mit der Buchstadt Leipzig verbunden, da die nunmehr bereits über 200jährige, äußerst erfolgreiche Geschichte der Reclam-Buchhändler hier ihren Anfang nimmt.
Die
Wurzeln dieser hugenottischen Reclam-Familie liegen in Savoyen.
Als
der französische König Ludwig XIV. Im Oktober 1685 durch sein Edikt
von Fontainebleau das von seinem königlichen Vorgänger König Henri
IV. Im Jahre 1598 erlassene Edikt von Nantes widerruft, verlieren die
Reclams wie alle Hugenotten neben ihren einst verbrieften Recht der
freien religiösen Glaubensausübung auch ihre bürgerlichen
Privilegien.
So kommt es zu einem Exodus von hunderttausenden
Hugenotten, die in den Niederlanden, in der Schweiz und besonders
auch in Brandenburg-Preußen eine neue Heimat finden. Nachdem
sich die Vorfahren der Verlegerfamilie zunächst in der Schweiz
niederlassen, führt sie die Suche nach einer geeigneten künftigen
Heimat anschließend dann im 18. Jahrhundert über Dublin nach
Magdeburg, später nach Berlin.
Beruflich bleiben die Reclams
in diesem Jahrhundert ihrer Tradition als Kaufleute,
Edelsteinhändler, Goldschmiede, Maler, Prediger verbunden.
Der 1772 in Berlin geborene Charles Henri Reclam, dessen Vater noch als Königlich-Preußischer Hofjuwelier unter Friedrich II. gewirkt hat, durchbricht erstmals die berufliche Familientradition, um eine Lehre in der Buchhandlung von Campe in Braunschweig zu machen. Dort heiratet er dann auch Wilhelmine Campe, eine Nichte des Verlegers.
Im Jahre 1802 begibt
sich Charles Henri Reclam in die Buchstadt Leipzig, wo er in gleichem
Jahr eine Buchhandlung für französische Literatur eröffnet.
Seinen
1807 in Leipzig geborenen Sohn Antoine Philippe Reclam lässt er ab
1823 in Braunschweig bei dessen Onkel Friedrich Vieweg in einer
fünfjährigen Lehre solide zum Buchhändler und Buchdrucker
ausbilden.
Nachdem Antoine Philippe Reclam* 1828 wieder nach
Leipzig zurückkehrt, erwirbt er als 21jähriger junger Mann das
Beygang‘sche „Literarische Museum“, eine Leihbibliothek in der
Grimmaischen Straße, für 3 000 Taler, die er sich vom Vater
geliehen hat.
Schon im gleichen Jahr gründet er hier auch den „Verlag des Literarischen Museums“, den er später, im Jahre 1817, zum Verlag „Anton Philipp Reclam jun.“ umwandelt. Mit dem Erwerb der Haack‘schen Druckerei weitet sich seine Unternehmung immer mehr aus und die eindrucksvolle Unternehmensgeschichte von „Anton Philipp Reclam jun.“ nimmt ihren Anfang.
Einige Jahre zuvor, 1832, erwirbt der Vater Carl Heinrich Reclam, wie er sich nun nennt, auf dem jahrhundertealten Leipziger Johanniskirchhof in deren V. Abteilung das Erbbegräbnis No. 51. Als er 1844 stirbt, wird er hier beerdigt.
Eigenartigerweise gehört der Sohn Anton Philipp Reclam nicht zu den Erben dieses familiären Erbbegräbnisses. Die Grabstätte gelangt durch testamentarische Verfügung des Vaters in den Besitz seiner Schwester Cäcilie sowie seiner Brüder Alexander und Carl Heinrich.
Als im November 1865
Anton Philipp Reclams Eehefrau Augustine Susanne geb. Baumann wenige
Wochen vor ihrem 47. Geburtstag stirbt, wird sie nicht in diesem
Erbbegräbnis der Familie Reclam auf dem Johanniskirchhof beerdigt,
sondern im schlichten Reihengrab No. 16 in der Reihe N der dritten
Gruppe der 1. Abteilung des Neuen Johannisfriedhofes…
Erst
viele Jahre später, am 31. Mai 1888, erwirbt der Sohn und Nachfolger
von Anton Philipp Reclam der Buchhändler und Kommerzienrat Hans
Heinrich Reclam gemeinsam mit seiner Ehefrau Hedwig Ottilie geb.
Sachse für 900 Goldmark die Wandstelle No. 58 in der IX. Abteilung
des Neuen Johannisfriedhofes auf einhundert Jahre.
Im August 1888 beantragt Hans Heinrich Reclam die Errichtung der
Wandstellenarchitektur nach einem Entwurf des namhaften Leipziger
Architekten Max Bösenberg. Die Ausführung erfolgt in den
folgenden Wochen, die Fertigstellung der Baulichkeit ist für den 3.
Januar 1889 vermerkt.
Die Wandstellenachitektur ist schlicht,
ohne Anspruch auf besondere Repräsentation gestaltet und entspricht
offenbar der Forderung des Auftraggebers. Ein flächig
aufgeführtes, aus Naturstein bestehendes Zyklopenmauerwerk wird
beidseitig durch sandsteinerne Eckquader eingefasst und mit
sandsteinernem Gesims abgedeckt.
Mittig findet sich eine quer
rechteckige, durch bronzene Dübel befestigte Schriftplatte aus
schwarz schwedischen Granit mit der großbuchstabigen Inschrift
RECLAM. Wie üblich, erfolgt die Umfassung der Grabstätte durch
ein eisernes Gitter.
Offenbar ist der Erwerb dieser
Begräbnisstätte, wie so oft, durch einen absehbaren Todesfall in
der Familie begründet, denn bereits am 9. Juli 1888 wird der knapp
30jährig gestorbene Neffe Emil Sachse hier beerdigt.
Ein Jahr später, im
Oktober 1889, wird der im Alter von erst 11 Jahren gestorbene Karl
Otto Reclam, der Sohn des Geheimen Kommerzienrates Hans Heinrich
Reclam, in der Grabstätte beerdigt.
Damit enden die Leipziger
Begräbnisse der Familie Reclam, denn es findet nachfolgend eine
deutliche Zäsur im Bestattungsritual der Familie Reclam statt.
Um diese zu verstehen, müssen wir an den beeindruckenden
Fortschrittsglauben eines Anton Philipp Reclam erinnern, auf den hier
näher einzugehen, uns leider der Raum fehlt.
Aber die Tatsache,
dass alle prägenden Persönlichkeiten der Buchhändlerfamilie Reclam
– Carl Heinrich, sein Sohn Anton Philipp und auch dessen Sohn Hans
Heinrich – Mitglieder der Leipziger Freimaurerloge „Minerva zu
den drei Palmen“ sind und Anton Philipp Reclams Bruder, der
Mediziner Prof. Dr. Carl Heinrich Reclam**, zu den bedeutendsten
Wegbereitern der Feuerbestattung in Deutschland zählt, begründet
die künftige Wahl der Feuerbestattung innerhalb der Familie Reclam.
Als der Prof. Dr. Carl
Heinrich Reclam am 6. März 1887 im Alter von 65 Jahren in Leipzig
stirbt, wird sein Leichnam nach Gotha gebracht, in das dort seit 1878
bestehende, einzige Krematorium Deutschlands. Hier wird der Tote am
10. März 1887 feuerbestattet. Seine hinterlassene Witwe Marie
Reclam, geb. Sachse stirbt im November 1894 und auch sie wird am 19.
November 1894 vormittags 11 ½ Uhr in Gotha feuerbestattet.
Und
auch der Leichnam des berühmten am 5. Januar 1896 im Alter von 88
Jahren gestorbenen Verlegers Anton Philipp Reclam wird am 10. Januar
1896 mittags 12 ½ Uhr im Gothaer Krematorium eingeäschert. Alle
drei Urnen mit der Asche der vorgenannten Reclams verbringt man in
das prächtige Kolumbarium des Gothaer Friedhofes.
Die Ursache dafür, die Aschurnen dieser Verstorbenen nicht in deren eigener Familiengrabstätte auf dem Neuen Johannisfriedhof beizusetzen, findet sich im Widerstand entsprechender feuerbestattungsfeindlicher Kreise im Königreich Sachsen. Erst die gesetzlich geregelte Einführung der Feuerbestattung in Sachsen vom 29. Mai 1906 schafft, wenngleich äußerst zögerlich, hierzu die notwendige Akzeptanz und praktische Möglichkeit.
Obwohl die Familie
Reclam ja seit 1888 das Erbbegräbnis No. 58 in der IX. Abteilung des
Neuen Johannisfriedhofes besitzt, hält sich der Ahnenkult sehr in
Grenzen. Das zeigt sich darin, dass man sich nicht sonderlich um die
künftige Bewahrung der sterblichen Überreste bereits dahin
geschiedener Familienmitglieder bemüht.
Das Erbbegräbnis der
Familie auf dem bereits 1883 geschlossenen Johanniskirchhof wird nie
angetastet, und letztlich wird die Grabstätte später von der
Buchdruckerschule überbaut, ohne vorher die Gebeine von Carl
Heinrich Reclam und seiner Ehefrau umgebettet zu haben.
Eine Ausnahme gilt im Jahre 1910 der früh verstorbenen Ehefrau des Anton Philipp Reclam, Augustine Susanne Reclam, geb. Baumann, am 10. November 1910 beantragt der Geheime Kommerzienrat Hans Heinrich Reclam die Exhumierung seiner 1865 beerdigten Mutter aus dem Reihengrab des Neuen Johannisfriedhofes und die Überführung ihrer sterblichen Überreste in das familiäre Erbbegräbnis...
Als der Geheime Kommerzienrat Hans Heinrich Reclam Ende März 1920
stirbt, wird sein Leichnam im seit 1910 bestehenden Krematorium des
Leipziger Südfriedhofes eingeäschert und seine Ascheurne in eine
Nische des dortigen Kolombariums eingestellt.
Einige Monate später, im Juli 1920, entschließt sich der Sohn Dr.
Ernst Reclam zur Errichtung einer Urnengruft in der
Familiengrabstätte auf dem Neuen Johannisfriedhof.
Die
ursprünglich geplante, ein Meter tiefe Urnengruft, die mit einem
steinernen Sarkophag oberirdisch überbaut werden soll, wird zwar
vom Friedhofsamt genehmigt, allerdings mit dem Verweis, dass künftige
Erdbestattungen dann in der Grabstätte nicht mehr zulässig sind,
weil bei Erdbestattungen zwangsläufig der Baukörper der Urnengruft
unterfahren wird.
So beantragt der beauftragte Architekt Alfons
Berger schließlich die Ausführung dieser Urnengruft, und zwar bis
in eine Tiefe von drei Metern, um künftig auch eine Doppelbelegung
der jeweils zwei daneben befindlichen Gräber für Erdbestattungen zu
ermöglichen. Dementsprechend wird im Herbst 1920 die Urnengruft mit
einer Tiefe von drei Metern gebaut, und der darüber befindliche
steinerne Sarkophag aus rotem Rochlitzer Porphyr vom Leipziger
Bildhauer Wil Howard gefertigt.
Der klassizistische Sarkophag
ist mit einem akroteriengeschmückten, gewölbten Deckel
verschlossen, an dessen Front sich ein Halbstern zeigt. Frontal ist
der Sarkophag geschmückt mit dem erhaben ausgearbeiteten Wappen der
Familie Reclam, auf dessen Spruchband wir den Wahlspruch „Veilez
sans peur“ - „Wachet ohne Furcht“ lesen. In den flankierenden
Ecken des Sarkophages finden sich trauernde Putti, einen Schleier in
der Linken haltend…
Nach Fertigstellung der Urnengruft werden am 07. Dezember 1920 die Urnen mit der Asche von Prof. Carl Heinrich Reclam und dessen Ehefrau Marie Reclam sowie von Anton Philipp Reclam aus dem Kolombarium Gotha nach Leipzig überführt, um sie gemeinsam mit der bisher im Kolumbarium des Südfreidhofes befindlichen Ascheurnen von Hans Heinrich Reclam am gleichen Tage hier in der Urnengruft feierlich beizusetzen.
Nachdem die Witwe des Geheimen Kommerzienrates Hans Heinrich Reclam, Hedwig Ottilie Reclam, hochbetagt im April 1940 stirbt, birgt diese Gruft auch ihre Ascheurne. Drei Jahre später stirbt Hans Emil Reclam, auch dessen Asche wird hier im April 1943 beigesetzt. Es ist der letzte Reclam, der in dieser Familiengrabstätte auf dem Neuen Johannisfriedhof seine Ruhestätte findet.
Mit Ortsgesetz vom 11. Oktober 1950 verkündet der Rat der Stadt
Leipzig die Sperrung des Neuen Johannisfriedhofes für künftige
Bestattungen. Demgemäß endet die Totenruhe, die Schonung des
Friedhofes, im Oktober 1965, und seine Zerstörung ist längst
beschlossene Sache.
Wenige Tage vor Ablauf dieser Frist
veranlasst die Familie Reclam die Bergung der in der Urnengruft
befindlichen insgesamt sechs Urnen, die dann am 02. Oktober 1965
erfolgt; am gleichen Tage werden die Reclam-Aschen nach Stuttgart
gebracht, wo sie in der Familiengrabstätte der Reclams auf dem
dortigen Waldfriedhof beigesetzt worden sind.
Die Gebeine der
einst in der Familiengrabstätte des Neuen Johannisfriedhofes
erdbestatteten Familienmitglieder sowie der hierher umgebetteten
Ehefrau von Anton Philipp Reclam aber finden sich noch immer an
diesem Grabesort, der wenige Jahre später dem Erdboden gleichgemacht
wird.
Wenngleich man den steinernen Sarkophag geborgen und
schutzlos auf dem Johanniskirchhof gelagert hat, ist er seinen
wichtigsten Insignien beraubt worden.
Und so findet er sich
heute fragmentarisch, ohne Wappen und ohne trauernde Putti, im
Lapidarium auf dem Johanniskirchhof und teilt damit das beschämende
Schicksal aller hier befindlichen Grabzeugnisse.
* Die ursprünglich
französischen Namen werden nach dem Untergang des französischen I. Kaiserreiches eingedeutscht.
** Prof. Dr. med. Heinrich Reclam begründet 1876 den „Verein für Feuerbestattung zu Leipzig“.
Quelle
Paul, Alfred E. Otto: Der Neue Johannisfriedhof in Leipzig. S. 356 – 361.
Bildnachweis
Aus Wikimedia Commons – gemeinfrei: Kopfbild, Abb. 2, 3 und 4
Paul, Alfred E. Otto: Abb. 5 und 6
Abb. 1:
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