Leipzig-Lese

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Das Kräuterweib vom Hexenberg, Band 3

Bedeutung und Anwendung von Heil- und Gewürzpflanzen

Viola Odorata

Dieser kleine Begleiter für Küche und Kräutergarten bietet Ihnen allerlei wissenwertes über manch unbeachtetes Pflänzchen am Wegesrand, dazu einige Anwendungsbeispiele und Rezeptetipps.

Kinderheim „Jedidja“ in Leipzig (1912-1941)

Kinderheim „Jedidja“ in Leipzig (1912-1941)

Friedrich Ekkehard Vollbach

Ein Heim für Kinder ohne Heim

Nina und Florentine Petereit.
Nina und Florentine Petereit.

Der Hauptbahnhof in Leipzig wird noch gebaut, der Postbahnhof ist bereits in Betrieb und die Deutsche Bücherei gerade eröffnet. Da gründen zwei Schwestern aus Bielefeld kommend, in der Kaiser-Friedrich- Straße (heute Lützowstraße) in Leipzig ein Heim für „außereheliche“ Kinder. Lina und Florentine Petereit - in den Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel ausgebildet und als Offizierinnen der Heilsarmee an sozialen Brennpunkten tätig - hatten erlebt, wie „uneheliche“ Kinder lieblos stigmatisiert, diskriminiert und abgeschoben wurden. (Die Not der unverheirateten Mütter und ihrer Kinder in dieser Zeit beschreibt übrigens Sybille Buske in ihrem Buch „Fräulein Mutter und ihr Bastard“ sehr eindrücklich.) Fast 20% der um 1900 in Leipzig geborenen Kinder sind uneheliche Kinder, und die „büßen“ für den „Fehltritt“ ihrer Mutter durch Demütigungen, üble Nachrede und Benachteiligungen. Die meisten Mütter und Kinder leben unter sehr ärmlichen Bedingungen. Die Sterblichkeit dieser Kinder ist hoch. Werden sie in Pflegefamilien gegeben, dann sind das oft arme Familien, in denen man die Kinder schlecht ernährt und unzureichend versorgt.

Kinderheim „Jedidija“ in der Kaiser-Friedrich-Str. 16.
Kinderheim „Jedidija“ in der Kaiser-Friedrich-Str. 16.


Mit Hilfe der Heilsarmee und freundlichen Spendern mieten die beiden Schwestern ein leerstehendes Haus (Kaiser - Friedrich - Str. 16, heute Lützowstraße), kaufen 35 Betten und was sonst noch für den Betrieb eines solchen Heimes nötig ist und beginnen am 20. Oktober 1912 die Arbeit mit zwei Kindern. Ihrem Kinderheim geben sie den Namen „Jedidija“, ein Name aus dem Alten Testament, der so viel bedeutet wie „von Gott geliebt“. Der Name ist Programm, denn auch die mit übler Nachrede belegten Kinder sind von Gott geliebt. Nach kurzer Zeit leben in dem Heim 30 Kinder, ohne dass man für das Heim irgendwelche Reklame macht. Das Haus ist nicht nur nach heutigen Maßstäben völlig überbelegt. Von Luxus im Heim kann keine Rede sein, doch die Räume sind hell und freundlich, die Kinder ausreichend versorgt und sie werden nach den damals neuesten pädagogischen Erkenntnissen betreut. Nach kurzer Zeit ist das Haus in Gohlis viel zu klein.

Kinderheim „Jedidija“ in der Elisabethallee 38.
Kinderheim „Jedidija“ in der Elisabethallee 38.


1916 findet sich ein größeres in Leipzig – Plagwitz (Elisabethallee 38). Aus Geldmangel ziehen Mitarbeiter und Kinder mit dem Handwagen um. Zigmal muss der Wagen von Gohlis nach Plagwitz gezogen werden und wieder zurück. Das neue Haus bietet jedoch viel mehr Platz und Luft. Die Nachbarn allerdings sind wenig erbaut und betrachten voller Misstrauen, was da vor sich geht. 1914, zu Kriegsbeginn, stellt die Stadt die Zahlung des bisher schon nicht gerade üppigen Pflegegeldes ein. Das gleicht einer mittleren Katastrophe. Nur mühselig kann der Betrieb mit Hilfe von Spenden und Gaben aufrechterhalten werden. Doch als die Not am größten ist, kommt doch immer wieder Hilfe. So steht eines Tages ein Wagen vor der Tür, der voll mit Lebensmitteln beladen ist. Der Spender bleibt unbekannt. Nicht genannte Gönner des Kinderheims übernehmen die Mietzahlungen, wenn kein Geld mehr dafür vorhanden ist.Der Ausbruch des Krieges stellt die Schwestern Petereit vor neue Herausforderungen. Es gibt nun Halbwaisen, deren Väter in den Krieg ziehen müssen. Wohin mit den Kindern? Natürlich ins Heim! Viele Sorgen bereitet den Petereits die gerechte Verteilung der Lebensmittel, die nur auf Marken bezogen werden können. Die großen Jungen sind mit Kohlrübensuppe und Kohlrübenbrot (Kohlrübenwinter 1916/17) kaum satt zu bekommen.

Kinderheim „Jedidija“ in Zwenkau.
Kinderheim „Jedidija“ in Zwenkau.


Eine betuchte Freundin des Hauses stellt dem Jedidja-Heim im Jahre 1917 das „Harthhaus“ in Zwenkau zur Verfügung. Das befand sich in der Leipziger Straße in Nachbarschaft der Gastwirtschaft „Harthschlößchen“ gegenüber vom „ Hartheingang“. (An dieser Stelle befindet sich heute die Einfahrt in das Hafenbecken des Hafens am Kap Zwenkau). Lina Petereit kann mit den Kleinen in dieses „Harthhaus“ übersiedeln. Doch bald ist das Leipziger Haus wieder zu klein. Außerdem häufen sich die Klagen der Nachbarn wegen des Lärms der Kinder beim Spielen in dem zu kleinen Garten. Zu der Zeit steht im Stadtteil Plagwitz das Grundstück Elisabeth – Allee 9 (heute Erich – Zeigner – Allee) leer.

Kinderheim „Jedidija“ in der Elisabeth-Allee 9.
Kinderheim „Jedidija“ in der Elisabeth-Allee 9.


Florentine Petereit (genannt Tante Florchen) träumt von dieser Immobilie als Zuhause für ihre Kinder. Der Generaldirektor der Firma Schimmel & Co., Hermann Fritzsche, ein streng religiöser und für soziale Projekte aufgeschlossener Mann, erfährt von der Raumnot des Jedidja – Heimes. Er kauft kurzerhand das ganze Grundstück und stellt es dem Kinderheim „Jedidja“ zur Verfügung. [Fritsche trat übrigens 1933 der NSDAP bei, doch zwei Jahre später teilte er der Parteileitung in einem offiziellen Schreiben mit, dass er als überzeugter Christ sowohl die Einstellung der Deutschen Christen als auch die Rassenideologie Alfred Rosenbergs ablehne. Und 1943 erklärte er seinen Rücktritt als Generaldirektor wegen unvereinbarer politischer Weltanschauung.]Ist es schon für normale Familien schwer, mit all den Problemen, Nöten und Widrigkeiten der Inflationszeit zurechtzukommen – das Kinderheim bewegt sich ständig am Rande einer Katastrophe. Eine gehörige Menge an Zeit, Kraft, aber auch an Ideen muss aufgewendet werden, um das Geld, das täglich entwertet wird, möglichst schnell zum Besten der Kinder in Lebensmittel umzusetzen.Besonders schwierig ist es für die Heimleitung, den Heimkindern, die inzwischen 14 Jahre alt geworden sind, eine Lehrstelle zu beschaffen. Die Lehrherren weigern sich, einen unehelichen Jugendlichen in die Familie aufzunehmen. Also muss unbedingt ein Lehrlingsheim her. 1930 können 20 heimatlose Lehrlinge in einem Nebengebäude eine Zuhause finden.Das Kinderheim „Jedidja“ ist übrigens mit seinem pädagogischen und bildungsorientierten Programm seiner Zeit weit voraus. Immer wieder besuchen in – und ausländische Sozialarbeiter und Heimerzieher das Jedidja- Heim. Selbst die Stadt Leipzig, die ja über eigene Heime verfügt, empfiehlt Interessenten an modernen Erziehungsmethoden das Heim in der Elisabeth – Allee.


Bei einem Bericht über „Jedidja“ darf aber eine Person nicht unerwähnt bleiben, nämlich die Friederike Petereit, eine Schwester der beiden Heimgründerinnen. Nach ihrer gescheiterten Ehe beginnt sie in der Einrichtung zu arbeiten - nicht als Erzieherin, sondern als talentierte Organisatorin und Geldbeschafferin. Gibt es Probleme mit den Ämtern, dann wird „Tante Frieda“ dort vorstellig und kämpft um Lösungen. Unermüdlich wirbt sie um Spenden für das Heim. Sie spricht Fabrikanten und wohlhabende Persönlichkeiten wegen finanzieller Hilfen an. Es gelingt ihr, die Eigentümer des Konfektionshauses Bamberger & Hertz (Innenstadt), der Kaufhäuser Joske in Plagwitz und Held in Lindenau und den Eigner der Kammgarnspinnerei Stöhr & Co. In Plagwitz als Sponsoren zu gewinnen. Und „Tante Frieda“ ist sich nicht zu schade, mit der Büchse auf der Straße und in Kneipen um Spenden für das Kinderheim zu betteln. Übrigens - etwas von dem Guten, was das Heim von jüdischen Familien bekommen hatte, versucht Frieda in der Nazizeit ihnen zurückzugeben. Sie versorgt jüdische Familien, die ja nicht in deutschen Geschäften einkaufen dürfen, mit Nahrungsmitteln und begleitet sogar Juden bis zum Sammelplatz für den Transport ins Lager. Und manches jüdische Halbwaisenkind findet bei „Jedidja“ Unterkunft. 1933 - ein dramatisches Jahr für die Einrichtung. Die Leiterin des Heims, Florentine Petereit, bekommt einen Nervenzusammenbruch und ist plötzlich arbeitsunfähig. Generaldirektor Fritzsche meint, als Sponsor des Hauses einige Rechte zu haben und über das Heim “Jedidja“ verfügen zu können. Ohne Rücksprache mit den Mitarbeitern wird das Heim von ihm umgewandelt zu einer Friedens - Hort - Einrichtung der schlesischen Eva von Thiele - Winckler Schwesternschaft. An dieser Stelle muss allerdings dem Gerücht widersprochen werden, das besagt, Fritzsche hätte das getan, weil das Heim seiner Meinung in nationalsozialistische Hände gekommen wäre. Von einer Übernahme der Einrichtung durch die NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) konnte zu dem Zeitpunkt keine Rede sein!

Kinderheim „Jedidija“ in der Windorfer Str. 55-57, Vorderseite.
Kinderheim „Jedidija“ in der Windorfer Str. 55-57, Vorderseite.


Aufgrund vehementer Einsprüche und Proteste erfolgt die Rückübertragung des Heims „Jedidja“, dessen Leitung nun Meta Bethke, eine Nichte der Petereit – Schwestern, übernimmt. Sie ist ausgebildete und staatlich geprüfte Jugendleiterin, mithin zur Heimleitung fähig. Nach mancherlei Schwierigkeiten kann im Jahr 1933 das „Tauchnitzsche Palais“ in Kleinzschocher, Windorfer Str. 55 – 57, zu einem erschwinglichen Mietzins bezogen werden, nachdem die heruntergekommenen Räume des Hauses hergerichtet und für die Arbeit mit Kindern umgestaltet worden sind.Nun aber brauen sich drohende Wolken über den Mitarbeitern und Kindern zusammen: Ab Mitte Mai 1933 beginnt nämlich die große „Gleichstellung“ der Kinderheime und Kindergärten.Die NSV, eine Parteiorganisation der NSDAP, nimm mit entsprechendem Druck eine Einrichtung des paritätischen Wohlfahrtverbandes nach der anderen unter ihre „Fittiche“, heißt im Klartext: die Kindergärten der freien Träger werden enteignet. Die entsprechende Anordnung sieht zum Beispiel so aus: Die Einrichtung „ist bis zum nächstmöglichen Termin in die Verwaltung der NSV zu überführen. Den dort befindlichen konfessionellen Kräften ist sofort zu kündigen. Vollzugsmeldung ist vorzulegen. Der Kreisleiter“Einige konfessionelle Träger von Heimen und Kindergärten können die Übergabe an die NSV noch etwas hinauszögern, doch ab 1941 ist das kaum noch möglich.

Kinderheim „Jedidija“ in der Windorfer Str. 55-57, Gartenseite.
Kinderheim „Jedidija“ in der Windorfer Str. 55-57, Gartenseite.


Die sog.„Gleichstellung“ trifft auch das Privatkinderheim „Jedidja“. Allein der aus dem Hebräischen stammende Name ist den Nazis ein Ärgernis. Und – besonders schlimm – man betet mit den Kindern, erzählt ihnen Geschichten aus der Bibel und singt christliche Lieder. Grund genug für die NS – Machthaber, das Heim zu enteignen. 1941 muss es an die NSV übergeben werden. Der Name „Jedidja“ wird getilgt und die Leiterin entlassen. Mit einem Federstrich setzt man einer 29jährigen kompetenten und zukunftsweisenden Erziehungs – und Bildungsarbeit ein jähes Ende. Und was war nun das Besondere am Kinderheim Jedidja? Bisher wurden die Kinder der Heime in großen unpersönlichen Schlafsälen und Speisesälen untergebracht und betreut. Die Schwestern Petereit übernahmen aber die Anregungen der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel und betreuten die Heimkinder in Familiengruppen. Die Mädchen und Jungen schliefen in Zimmern mit sechs Betten, aßen an Tischen mit sechs Plätzen. Die Kinder trugen zwar heimeigene Kinder, sind aber in keine Weise uniformiert. Eine große Rolle spielten natürlich Hygiene, Ernährung und Körperpflege. Und - man kann es gar nicht recht glauben - in den Schulferien wurde verreist. Nach heutigen Maßstäben zwar unmöglich, doch zu damaliger Zeit auf eine Art, die bei Jugendgruppen allgemein üblich war. Man schlief in Scheunen oder auf Dachböden, schwamm in Flüssen oder Seen ohne eigene Rettungsschwimmer. Die Reisen führten die Jedidjaner nach Schlesien, nach Ostpreußen, in die Lüneburger Heide oder nach Oberwiesenthal, um nur einige der Reiseziel zu benennen.Das ist längst Geschichte. Die meisten ehemaligen Heimkinder sind bereits verstorben, doch „Jedidja“ war für die damalige Zeit eine so fortschrittliche und zukunftsweisende Einrichtung, dass es bedauerlich wäre, wenn es einfach sang - und klanglos auf dem „Schuttabladeplatz der Zeit“ verschwindet.

Bildnachweis

Die Bildrechte liegen beim Autor Friedrich Ekkehard Vollbach.

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