Immer wenn der „parteilose Bolschewik“ Vorlesung hielt, waren die über 300 Plätze im Hörsaal 40 besetzt. Sein Thema am 17. Dezember 1956: „Probleme bei der Fortentwicklung des Marxismus nach Marx“. Der international anerkannte Philosoph führte darin aus: „Auch das Beste kann durch ständige Wiederholung abgedroschen werden, kurzum: Der Marxismus ist per definitionem Erneuerung. Dazu gehört Mut, revolutionärer Elan, keine Routine, sondern materialistisch begriffene Hoffnung. Die Märtyrer des Marxismus sind nicht für ein Produktionsbudget gestorben.“ Sätze, die als Provokation und Angriff auf die Partei- und Staatsmacht verstanden wurden. Im Gegensatz zur Sowjetunion herrschte nach Stalins Tod in der DDR keine Tauwetterphase. „Was bei Heidegger die Angst, ist bei Sartre der Ekel. Im Ekel aber ist Kraft. Ihn zu überwinden bedarf es der Résistance. Vorhanden ist, die Freiheit zu wählen. Faschismus ist die Unfreiheit schlechthin. Dagegen: Ich kann das Wählen wählen, mein Wollen wollen. Was hindert, wird in Seiendes aufgespalten, ins An-sich-Seinde. Für kleine Individuen bringt das ein wenig Licht in die Finsternis. Gesucht wird das Ethische. Was wir treiben, hat jedoch keinen Anschluss an die Welt. Unsere Freiheit der Wahl bedeutet: Wir können alles wollen und können doch nichts erreichen. Eine Wahl, die inhaltliche Moral besitzt, ging gegen den Faschismus. Der wird am Ende mit dem Bolschewismus gleichgesetzt, d.h. die Feinde werden verwechselt.“ Es war Ernst Blochs (*1885 – †1977) letzte Vorlesung in Leipzig. Die Karl-Marx-Universität emeritierte den 72jährigen zu Jahresbeginn 1957 nicht aus Altersgründen. Fünf Jahre hielt Ernst Bloch sein Schweigen in der DDR noch aus. Nach seinem Besuch der Bayreuther Festspiele 1961 kehrte er nicht nach Leipzig zurück.
Jene letzte Vorlesung ist eine der Legenden aus dem Hörsaal 40 der Leipziger Universität. Er befand sich im Albertinum des Universitätsensembles, das war in der Bombennacht des 3. Dezember 1943 schwer in Mitleidenschaft gezogen worden. Einige Hörsäle wurden nach dem Kriege provisorisch soweit hergestellt, dass in ihnen der Lehrbetrieb wieder aufgenommen werden konnte. Hörsaal 40 war den Geisteswissenschaften vorbehalten. Bekannte und umstrittene Wissenschaftler und Autoren haben im Hörsaal 40 referiert. Bekannte und umstrittene Studenten haben ihnen im Hörsaal 40 zugehört und mitgeschrieben. Ein Ort geistiger Freiheit im sich verengenden sozialistischen Kultur- und Bildungswerk. Im Gedächtnis ist er allen, die darinnen saßen, auf Lebenszeit geblieben. Auch heute erfahren die Studierenden von den Legenden, die der Hörsaal 40 sich geschaffen.
Hermann August Korff (*1882 – †1963), Literaturwissenschaftler, seit 1925 in Leipzig, verfasste das Standartwerk: „Der Geist der Goethezeit“, vier Bände (1923 – 1953): „Der Geist dieses neuen irrationalistischen Idealismus hat sich nun historisch in den mannigfaltigsten dichterischen und philosophischen, reineren und getrübteren, frühen und späten, vorläufigen und endgültigen Formen entwickelt, die in ihrer durch ungezählte individuelle Motive gebrochenen Vielgestaltigkeit ein das Auge zunächst verwirrendes Bild von Persönlichkeiten, Leistungen und Ideensystemen darbieten.“ Werner Krauss (*1900 – †1976), Romanist: „Der Sozialismus bleibt einzige Lösung, trotz seiner Diskreditierung durch eine Praxis, die manche Ansprüche erfüllt, aber den Anspruch, der der Mensch ist, geflissentlich überhört und verleumdet.“ Hans Mayer (*1907 – †2001), Literaturwissenschaftler und -kritiker, Mitglied der „Gruppe 47“, seit 1948 Professor in Leipzig: „Mein Ort war der Hörsaal 40“, kehrte nach einem Verlagsbesuch in Tübingen 1963 nicht in die DDR zurück: „Ein alter Mann kann nur von der Vergangenheit reden. Er sollte nicht über die Zukunft reden wollen, die nicht seine ist.“ Christoph Hein (*1944, ab 1967 Student in Leipzig) setzt ihm und jener Zeit im Roman „Verwirrnis“ (2018) ein Denkmal: „Ich wollte die Namen Hans Mayer und Ernst Bloch nicht erwähnen, habe dann studentische Necknamen gewählt. Der eine heißt ‚Goethe höchstselbst‘ und der andere heißt ‚Hegel auf Erden‘.“ Hans Mayer holte Namen in den Hörsaal, deren Werk und Haltung in der Diskussion: Anna Seghers (*1900 – †1983): „Eine Wirklichkeit ist uns aus den Büchern gekommen, die wir im Leben noch nicht gekannt haben.“ Uwe Johnson (*1934 – †1984), damals Student: „… weil sie schon vorher gewusst hatte, dass Freiheit nicht das Anderskönnen bedeutet, sondern das Andersmüssen.“ Günther Grass (*1927 – †2015): „Wenig, glaubt mir, ist bedrückender, als schnurstracks das Ziel zu erreichen.“ Ingeborg Bachmann (*1926 – †1973): „Aus einiger Entfernung betrachtet, schrumpft der gesunde Menschenverstand ein und sieht einem Gran Stumpfsinn zum Verzweifeln ähnlich.“ Volker Braun (*1939), damals Student: „Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch eine erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Davon spricht, das meint die Literatur.“ Willi Bredel (*1901 – †1964): „Doch jeder muss sich sagen, an mir liegt es mit, wie lange es dauert, bis wir, die Arbeiterklasse, die Macht im Staate haben. Das Verhalten eines jeden einzelnen von uns ist mitentscheidend, ob es bald oder erst später sein wird. Nur wenn wir restlos alles dransetzen, werden wir alles gewinnen!“ Peter Hacks (*1928 – †2003): „Gott ist in der frühen Philosophie so unverzichtbar wie die Null in der Mathematik.“ Christa Wolf (*1929 – †2011), damals Studentin: „Ich kann in Gut und Böse die Welt nicht teilen; nicht in zwei Zweige der Vernunft, nicht in gesund und krank. Wenn ich die Welt teilen wollte, müsst ich die Axt an mich selber legen, mein Inneres spalten, dem angeekelten Publikum die beiden Hälften hinhalten, dass es Grund hat die Nase zu rümpfen.“ Hans Joachim Schädlich (*1935), damals Promovend: Meine literarische Arbeit ist von Anfang an bestimmt von dem großen Thema Geist und Macht oder, wie ich es nenne, die Unmächtigen und die Mächtigen.“ Fritz Rudolf Fries (*1935 – †2014), damals Student: „Der Roman ist ein Ordnungsprinzip der Erinnerung.“
1952 wurde geplant, die alten Universitätsbauten mit dem Albertinum in ursprünglicher Architektur wieder aufzubauen. Doch beschlossen Stadtverwaltung wie das Rektorat unter der Persönlichkeit Georg Mayers (*1892 – †1973) die Neugestaltung des Universitätskomplexes, wie es einer sozialistischen Großstadt angemessen. Zur neuen Ansicht passten weder die mittelalterliche Paulinerkirche noch die angeschlagenen Prachtbauten des 19. Jahrhunderts. Ein Architekturwettbewerb wurde ausgeschrieben. Staatsarchitekt Hermann Henselmann (*1905 –†1995) gewann. Das Stadtparlament beschloss mit einer Gegenstimme den vollständigen Abriss. Die Sprengung des Universitätsensembles mit dem legendären Hörsaal 40 erfolgte am 30. Mai 1968: „Obwohl solche Sprengungen im Zentrum einer Großstadt bestimmt keine einfache Sache sind, ist es zu keinen Schäden gekommen, weder an den Wohnungen, noch an der benachbarten Oper – auch am gegenüberliegenden Hotel ‚deutschland‘ gab es keine Scherben an der breiten Fensterfront. Für eine solche Maßarbeit darf ich sicher auch in ihrem Namen, liebe Leipziger, allen an dem Vorhaben Beteiligten Dank und Anerkennung aussprechen.“
Wohnhaus Ernst Bloch: Wilhelm-Wild-Straße 8, 04229 Leipzig
Wohnhaus Hans Mayer: Tschaikowskystraße 23, 04105 Leipzig
Universität Leipzig: Augustusplatz 10, 04109 Leipzig
Bildnachweis:
Kopfbild: Ernst Bloch, Philosoph am 6 November 1954 in Berlin. Deutsches Bundesarchiv
Abb. im Text: Hans Mayer: Foto in der Nicolaikirche Leipzig 1993. Urheber: Ludwig Garner