0. Bildersprache
Nicht nur Menschen, die schreiben, auch Frauen und Männer, die malen, leisten sich die Muße und verschaffen sich die erregende Möglichkeit, um über unsere Stellung in der Welt und über die Konstitution des Wirklichen nachzudenken. Der menschliche Geist, dessen höchste Bestimmung die Freiheit ist, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) seit der Niederschrift seiner Phänomenologie des Geist (1806) in Jena bis hinein in seine Ästhetik während der Berliner Jahre wieder und wieder herausgearbeitet hat, entfaltet sich nicht nur in den Artikulationsformen der Wissenschaft, der Philosophie und der Religion, sondern auch in den Ausdrucksweisen der Kunst und das heißt nicht zuletzt in den Bildwerken der Malerei. Im Folgenden möchte ich von der Leipziger Malerin Annekatrin Brandl und ihrem neuesten Zyklus die REKONSTRUKTION des Seins – ein Autonomieversuch für ein gelingendes Leben in der Gegenwart erzählen. Ich möchte dabei zeigen, dass auch das Malen ein denkendes Tun ist und eine spannende Weise des Philosophierens darstellt.
1. Seinsrekonstruktion
In ihrem Bild „Lockruf der Freiheit im weißen Sand“ (2023) setzt die Künstlerin Annekatrin Brandl auf die Farbe Weiß um die Autonomie von Menschen zu feiern, die vor unausgetretenen Pfaden nicht zurückschrecken und die ihre Füße ins Neuland zu setzen vermögen. Ihr Lockruf der Freiheit gehört zu einem umfangreichen Zyklus, der aus insgesamt 47 Pastellarbeiten besteht. In diesen Farbwerken wird nun aber ähnlich wie einst durch die antiken Denker nach dem Sein des Seienden gefragt. Die Leipziger Künstlerin schreibt keine Texte und sie dichtet auch keine Merksätze. Anders als die beiden großen griechischen Philosophen Heraklit (um 520 v. Chr. bis um 460 v. Chr.) und Parmenides (um 520/515 v. Chr. bis um 460/455 v. Chr.) argumentiert die Malerin in ihren Pastellarbeiten zur Logik des Seienden. Zumeist geschieht das im Format 21 cm x 29, 7 cm. Zugleich tragen alle Bilder einen Titel, der als ein knapper Bericht der künstlerischen Arbeit gelesen werden kann. Die Malerin tritt uns auch in zwei Selbstbildnissen entgegen. In roten Gewändern und mit einem lachenden Gesicht. Das Pastell trägt den Titel "die Veränderung in der Hand". In einem anderen der beiden Bildnisse ist an ihrer rechten Seite eine weiße Mondsichel zu sehen. Dieses Selbstbildnis trägt den Titel „der Zuwachs an Sein in der Hand“, woran sich noch das Adjektiv anschließt: scheu. (2023). Merkwürdig, so möchte ich sagen, denn scheu schaut die Malerin nicht in die Welt. Hinzu kommt, dass sie in ihren Pastellarbeiten vehement und selbstbestimmt Regionen des künstlerischen Schaffens betritt, in denen ich wie viele andere Zuschauer keineswegs täglich unterwegs und daher überhaupt nicht sicher bin. Die Malerin hat für ihr Philosophieren, wie ich glaube, aber eine wichtige geistige Alternative zum Reden in Sätzen gefunden. Denn sie tritt an das Seiende und an das Aufscheinende – sowohl an den Vorschein der frühen Stunde als auch an den Nachschein der Abenddämmerung, um mit Ernst Bloch zu sprechen - in einer visuellen und symbolischen Weise heran. (1) Die Künstlerin argumentiert mit ihren Arbeiten in Flächen und Farben. Sie kommuniziert ohne Worte, um uns beim Betrachten ihrer Bilder immer auch zu bislang unausgesprochenen Sätzen zu motivieren. Annekatrin Brandl begibt sich in ihrem Zyklus durchaus in die große Tradition der Bildwerke von Wassily Kandinsky (1866 - 1944), Paul Klee (1879 – 1940) und Gabriele Münter (1877 – 1962). Mit vielen anderen Malern haben diese Künstler zu Beginn des 20. Jahrhunderts in vorderster Reihe den Übergang von dem anschaulichen Bildwerk zur abstrakten Kunstform vollzogen. Mit ihren Farbarbeiten sieht sich Annekatrin Brandl aber sicher nicht zu Unrecht auch im Dialog mit den Altvorderen des ontologischen Denkens in der antiken Welt, die über Konstanz und Wandel des Wirklichen nachgedacht haben. Ihrem Zyklus gibt die Künstlerin einen Titel, der aufhorchen lässt. Um Konstruktionen und Rekonstruktionen des Seienden geht es. Sie formuliert aber auch noch einen starken und nicht zu übersehenden Untertitel, mit dem sowohl die Philosophie als auch die Kunst in dem Freiheitsgeschehen des menschlichen Lebens verortet werden. Mit ihrem großen Pastellzylus die (RE)KONSTRUKTION des Seins unternimmt Annekatrin Brandl ein Denk- und Malexperiment, das sie als Autonomieversuch für ein gelingendes Leben in der Gegenwart versteht.
2. Alles fließt
In der Arbeit „fließende Welt“ (2023) ist eine Landschaft mit Kirchturm und Vollmond zu sehen. Die Komposition erinnert an Bilder von Murnau, die aus der Hand von Gabriele Münter stammen. Wellenförmige Fließflächen prägen aber auch das Pastellbild „unsichtbar“ (2023), das nahe dem Horizont mit der langgezogenen weißen Wolkenfläche ein Häuschen mit einem Dach in Orange zu erkennen gibt. Nicht zuletzt die Arbeit „vor der Dunkelheit“ (2023) zeigt einen weitläufigen Landschaftsraum, der von blauen, gelben und roten Flächen durchzogen und in eine auffällige Dynamik versetzt wird. Der braune Kreis über dem Horizont könnte die Sonne sein, die zwar schon untergegangen ist, aber in unseren Augen noch ein dunkles Nachleuchten hinterlassen hat. Ein typisches Flussbild ist auch die Pastellarbeit mit dem Titel „Das Segelboot kennt den Weg“ (2023). Der Bootskörper unten im Fluss entzieht sich unseren Blicken, doch das Segel zeigt die Bewegung des Schiffleins an. Eine derartige Szene steuert mitten in die antiken Streitgespräche über das Sein und das Nichtsein, über das Beharren des Seienden und das Vergehen des Seienden hinein. Bereits die beiden griechischen Denker Heraklit und Parmenides brachten verschiedene und gegensätzliche Aspekte des Seienden zur Sprache, die jedoch in einer begrifflich klaren Ontologie mit der Grundfrage nach den Seinsweisen des Seienden in ihrem Zusammenspiel entdeckt werden. Heraklit betonte die Veränderung des Seienden, ohne das Sich-Selbst-Bewahrende des Wirklichen zu übersehen. Parmenides setzte auf die Identität oder Kontinuität des Seienden, ohne dabei den Wandel des Wirklichen aus den Augen zu verlieren. Heraklit war der Philosoph, der nach der Metapher des fließenden Flusses griff, um das Seiende in seinen Verwandlungen zu bestimmen. Aber auch Heraklit übersah bei allem Wandel nicht, dass das Seiendes ein beharrendes Wirkliches ist. Doch er richtete seinen Fokus auf die Negation des Bestehenden. Heraklit stellte dem Begriff des Seins die wichtige Vokabel des Nichts an die Seite. Er tat dies, indem er in seinem stets mündlichen Philosophieren nicht nur darüber nachdachte, was ein Ding zum Ding macht, sondern auch über die Eigenart der flüssigen Materie nachgrübelte. Heraklit formulierte das berühmte Gleichnis, dass wir nicht zweimal in einen und denselben Fluss steigen können. Er lehrte, dass der Fluss ein anderer geworden sei, wenn wir ein zweites Mal in ihn hineinsteigen, zumal seit dem ersten Zutritt neue Wasser herbeigeströmt sind und weil auch wir selber uns verändert haben. Ihren Konstruktionen und Rekonstruktionen zum Thema Sein und Nichtsein setzt Annekatrin Brandl den I-Punkt auf, indem sie ein „zuhause im Fluss“ (2023) zeigt. Mit unserem Leben sind wir nicht im Stillstand, sondern in der Veränderung zu Hause. Die Malerin setzt in ihrem Pastell ein stabiles und starres Haus mit einem breiten Dach in eine Umgebung hinein, die vom Mondlicht beleuchtet den Anschein erweckt, als würde das Zuhause in einem Flussbett stehen, zumal sich die gesamte Umgebung bewegt. Wie auch immer dieses Pastell gedeutet wird, es bringt zum Ausdruck, dass wir mit allen unseren zeitweiligen Stabilitäten in einer Wirklichkeit leben, die eine Welt im Fluss ist. Das leitet hin zu den vielen Häusern, die in dem Zyklus zum Sein zu sehen sind. Was einfach nur verdeutlicht: Wir hausen auf der Oberfläche der Erde nicht unbehaust. Die Geschichte der Menschheit ist immer auch eine Geschichte ihrer Behausung.
3. Unsere Behausungen
Weder die steinzeitlichen Höhlen noch die Häuser der Moderne reduzieren sich auf Hohlräume oder Behältnisse. In Behausungen oder Häusern pulsiert das Menschenleben. In Gebäuden sind Personengemeinschaften mit ihrem Tagwerk wie mit ihrem Nachtleben aufzufinden. In der Konstruktion und Rekonstruktion des Seienden finden sich bei Annekatrin Brandl mehr als 25 Pastellarbeiten, in denen Häuser zu sehen sind. Einmal blickt sie mit den Augen der Architektin auf das Menschenhaus, indem sie sich das Thema vornimmt „vom Rechteck zum Haus“ (2023). Dann wieder kommt „ein friedlicher Ort“ (2021) zum Vorschein, in dem eine gelbe Senkrechte links mit einem Hausanblick aus dieser Perspektive und rechts mit einem Anblick aus jener Perspektive zu sehen ist. Im Hintergrund leuchten Mondsichel und Sterne am Nachthimmel. Offensichtlich ist Schlafenszeit. Ein ebenfalls abstraktes Bild ist „das Dachfenster im Fluss“ (2023). Mancher oder manche wird einwenden, dass ein Fenster nicht in den Fluss, sondern ins Haus gehört. Wer aber George Steiner (1929 – 2020) und seinen großen Essay Gedanken dichten (2011) liest, kann leicht lernen, dass das Haus nicht nur Wohnort, sondern immer auch Metapher ist. Steiner schildert, dass das Haus für die menschliche Person stehen kann und dass frei nach Siegmund Freud (1856 – 1939) die folgenden Zuordnungen möglich sind: Dach = Über-Ich, Wohnraum = Ich und Keller = Es. (2; S. 201/202.) Das menschliche Seelenleben sozusagen hausgestützt in verschiedene Abteilungen oder in Räume des Geschehens zu zerlegen, das ist ebensowenig ein Unsinn wie das visuelle Zusammenschalten von blauem Fluss und von hellem Hausfenster in einer Pastellarbeit. Häuser sind keine Häuser, wenn sie unbewohnt sind. In den menschlichen Behausungen ertönen Gespräche, Seufzer der Liebe und Blitze der Einsicht oder Aufschreie des Aufbegehrens; hier erstirbt aber auch dann und wann der Atem eines Angehörigen. Dasein ist nicht einfach nur ein Sosein oder ein Anderssein, sondern Dasein ist ein Menschensein von Leuten wie Du und Ich im Wissen um die je eigene Endlichkeit. Dasein ist insofern immer auch Sein zum Tode, wie Martin Heidegger (1889 – 1976) formuliert und in die Geschichte des ontologischen Denkens hineingemeißelt hat. Aber das hat mit dem Haus, mit der Behausung und eben mit dem Ort des Heimisch-Seins zu tun. Das Zuhause und der Ort des Sehnens und des Sorgens der Menschen ist auch heutzutage nicht zuallererst die Autobahn mit ihrem Verkehrslärm oder der Flughafen mit seinen öffentlichen Durchsagen, sondern ihr Heim mit seiner Privatheit und den geschützten Heimlichkeiten. Dies ist der heimische Ort ihres Zur-Ruhe-Kommens sowohl mit dem Blick in ihren Raum der Erinnerungen als auch mit dem Blick hinaus aus dem Fenster und hinein in die Welt.
4. Auf und Ab des Scheinens
Der Himmel mit seinen weißen Wolken, aber auch mit Sonne, Mond und Sternen bildet in dem Zyklus eine zentrale Sphäre. Besonders die Mondsichel in Weiß oder in Gelb, aber auch in Braun, Blau, Schwarz sowie in Rot hat es Annekatrin Brandl angetan. Die schmale Sichel unseres Erdbegleiters durchzieht den Zyklus und taucht ebenfalls in mehr als 25 Pastellarbeiten auf. Der Mond ist nicht nur unser nächster kosmischer Begleiter, sondern er ist auch ein Sohn der Sonne. Für sich allein wäre er ein dunkler Klumpen. Doch das Sonnenlicht lässt ihn aufleuchten und hervorscheinen. Der Mond agiert wie ein Spiegel, wenn wir ihn mehr oder weniger gefüllt leuchten sehen. Der Mond, die Sonne und die Sterne erzählen im Bilderzyklus davon, dass unser Leben ein sonnenbestimmtes, weil vom Licht der Sonne erfülltes Leben ist. Die fröhliche Pastellarbeit „die Wolken im Sommergarten“ (2023) zeigt einen Baum mit blauer Krone, die an eine weiße Wolke stößt. Die Ersetzung von Blattgrün durch ein Himmelsblau wirkt auf den ersten Blick als eine absurde Fälschung. Erfolgt die Photosynthese der Pflanzen auf der Erde doch in grünen Blättern. Doch in der Kunst ist eine derartige Farbwahl erlaubt. Die Freiheit der Werkschöpfung erlaubt die Substitution der einen Farbe in eine andere. Auch wenn sich das Blattkleid des Baumes in ein sattes Himmelsblau verwandelt hat, entsteht für die Betrachter des Bildes ein warmer Sommertag mit Wolken, Regenschauer und mit Baumerlebnis. Wie es sich bei Punkt, Linie und Fläche um geometrische Idealisierungen handelt, die im Wirklichen nicht vorkommen, weil sie immer nur näherungsweise vorliegen, ist auch die Entscheidung für eine Baumkrone in Blau eine sinnstiftende Abweichung vom Realen. Mag die Horizontlinie in dem Bild „die Wolken im Sommergarten“ auch übertrieben gerade ausfallen und das Blau der Baumkrone bei einigen Betrachtern zu skeptischen Nachfragen führen, das Bild als Ganzes ist stimmig, weil es eine erlebbare Sommerszene ausdrückt und gültig transportiert. Die Veränderung des Wirklichen so zu wagen, dass dabei als künstlerisches Resultat eine Feier des Wirklichen herauskommt, ein solcher Zuwachs an Sein liegt allein in der Hand und das heißt in dem geistig-praktischen Format der schaffenden Künstlerin.
5. Aufbruch ins Unaussprechliche
In ihrem Bilderzyklus beweist Annekatrin Brandl Geist und Mut. Sie nimmt den Übergang vom anschaulichen Bild zur Kunst der Abstraktion in Angriff. Dabei geht sie aber weiter, als dies einst Gabriele Münter gewagt hat. Anders als in den Arbeiten, in denen sie wie Münter die Flächigkeit des Farbauftrags kultiviert, verlässt die Leipziger Malerin beispielsweise in dem Pastell „der Sommertag im Unterbewusstsein“ (2023) die anschauliche Ausdrucksform. Weisse Sinuskurven, gelbe Mondsichel und ebenfalls gelbes Sonnenrund auf einem tiefblauen Hintergrund bringen auf eine eindringliche Weise sommerliche Farbkontraste zum Ausdruck. Die ins Abstrakte gelenkte Bildkomposition eröffnet neue und tiefere Sehgewohnheiten. Die Stärke der abstrakten Arbeiten liegt vor allem darin, dass sich die Betrachter für ihre Innenperspektiven zu öffnen beginnen und in derartigen Bildern visuelle Gleichnisse für ihr eigenes Erleben entdecken können.
6. Mai 2024
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Textquellen:
(1) Jung, Werner: Vor-Schein. In: Beat Dietschy, Doris Zeilinger, Rainer E. Zimmermann (Hrsg.): Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs. Berlin / Boston: Walter die Gruyter GmbH & Co. KG 2012. S. 664 - 672.
(2) Steiner, George: Gedanken dichten. Berlin: Suhrkamp Verlag 2011.
Ausgewählte Bilder in Pastell auf Papier:
01 „Lockruf der Freiheit im weißen Sand“ (2023) – 21 cm x 29, 7 cm.
02 „die Veränderung in der Hand“ (2023) – 21 cm x 29, 7 cm.
03 „fließende Welt“ (2023) – 29, 7 cm x 21 cm.
04 „(un)sichtbar“ (2023) – 21 cm x 29, 7 cm.
05 „Das Segelboot kennt den Weg“ (2023) – 2 1 cm x 29, 7 cm.
06 „vom Rechteck zum Haus“ (2023) – 21 cm x 29, 7 cm.
07 „ein friedlicher Ort“ (2021) – 18 cm x 23, 5 cm.
08 „das Dachfenster im Fluss“ (2023) – 21 cm x 29, 7 cm.
09 „die Wolken im Sommergarten“ (2023) – 21 cm x 29, 7 cm.
10 „der Sommertag im Unterbewusstsein“ (2023) – 21 cm x 29, 7 cm.
Dank:
Der Autor dankt der Malerin Annekatrin Brandl für die Erlaubnis, die ausgewählten Bilder aus ihrem Zyklus die (RE)KONSTRUKTION des Seins zu veröffentlichen. Die Bildrechte liegen bei Annekatrin Brandl.