Die Bilanz ihrer künstlerischen Ideen während der Coronaperiode 2020/21 fällt beeindruckend aus. Die Malerin Annekatrin Brandl schuf den Zyklus "die Feier". Die Serie der Arbeiten umfasst 41 Bilder. Die Acrylstudien entfalten ein reges und ein thematisch reiches Farbenleben. Die Bilder verharren nicht in einem Einheitsformat. Sie erproben sowohl die Beschränkung als auch die Ausdehnung in den Maluntergründen Papier, Karton oder Leinwand. Die Arbeiten reichen von der handlichen Studie im Format von 20 cm x 20 cm (zum Beispiel "der Sommer auf dem Dorf" aus dem Jahr 2020) bis hin zu dem großen Format von 70 cm x 100 cm in "die Schale mit Früchten & das gefüllte Glas" aus dem Jahr 2021. Das große Bild porträtiert Angela Merkel im Dialog mit Donald Trump. Dem Zyklus "die Feier" stellt die Künstlerin das "Selbstporträt 39 Jahre" (2021) im Format 40 cm x 30 cm voran. Frontal zu sehen ist die Malerin. Ihre Arme ruhen auf einer braunen Tischplatte. Sie blickt die Betrachter direkt, konzentriert und selbstbewusst an. Der Gesichtsausdruck verrät die Freude am Sehen und am Analysieren des Spiels der Farben. Eine Passion der Künstlerin, die durch die Farbstreifen im Hintergrund unterstrichen wird.
Die Streifen an der Wand hinter der Malerin hier in Gelb, Rot und Blau und dort in Schwarz, Weiß und Gelb führen mitten hinein in die Farbenlehre von Vincent van Gogh. Der niederländische Künstler stellte sich beim Qualitätssprung hinein in seine starke Farbigkeit im November 1885 auch die Frage: "Darf man Schwarz und Weiß verwenden oder nicht verwenden, sind das verbotene Früchte?" Worauf er antwortete, dass er sich die "Farbfrüchte" Schwarz und Weiß nicht verbieten lassen werde. (01; S. 42.) Auch Annekatrin Brandl feiert die Lichtfarbe Weiß. In sehr vielen Bildern. Das geschieht in "der Ursprung" (2021; 29, 7 cm x 21 cm) als Hintergrund für eine rote Sonne. Der braune Hund "Hakiro aus dem rumänischen Hundelager Bukov" (2021; 70 cm x 100 cm) hat weiße Pfoten und eine weiße Brust. Dem nur dreiteiligen Farbendreieck stellt die Künstlerin in "Blau, Rot, Gelb & Weiß" (2021; 30 cm x 20,4 cm) mit Tisch, Kissen, Schale und Bausteinhaus ein erweitertes und nun vierteiliges Farbenmodell entgegen. Das unbunte Weiß wird ausdrücklich reingenommen in die Geometrie der Farben. Beim Blick zu ihrem Gegenüber Trump stützt sich Merkel mit ihren Händen auf eine weiße Tischplatte. In zahlreichen weiteren Bildern schweben weiße Wolken durch den Bildraum. Wie in "Erinnerung an die Seiltänzer im Zirkus" (2021; 29, 7 cm x 42 cm). Eine freudige Begegnung vollziehen vor allem auch "2 tanzende Kamillen im Blumentopf" (2020; 29, 7 cm x 21 cm). Faszinierend, wie zärtlich sich weiße Blütenblätter berühren können.
Menschen leben in Raum und Zeit, aber ihr In-der-Welt-Sein geht immer auch mit Befindlichkeiten einher, die von Farbtönen getragen sind. Von Annekatrin Brandl wird das menschliche Zuhause zwischen Himmel und Erde sowie inmitten von Haus und Landschaft als Schicksalsort entdeckt. In "das gelbe Licht & der grüne Himmel im Wald" (2020; 64 cm x 64 cm) sind die Baumkronen im linken Vordergrund in helle wie dunkle Lilatöne übersetzt, während das Blattgrün nicht die Bäume, sondern die oberste Himmelsschicht ausfüllt. In der Tiefe des Bildes steht ein kleines Haus mit gelber Fassade. Ein besonderer Raum, den reale Menschen als ihr Zuhause bewohnen. Die Farben Rot, Gelb und Blau würdigt das Bild "Häuser auf der Erdoberfläche" (2021; 30 cm x 40 cm). Drei Häuser stehen hinter farbigen Rechtecken. Die Bauten leuchten selber in den drei Grundfarben, die Johannes Itten in seinem Farbdreieck versammelt hat. Auch Bilder ohne Häuser gehören zum Zyklus. So lässt eine saftig grüne Landschaft mit einem in den Hintergrund verlaufenden Weg, den zehn schlanke Bäume säumen, eine leicht hüglige Gegend hervortreten. In dem Bild "alles fließt" (2020; 50 cm x 70 cm) wird sichtbar, dass nicht nur der blaue Fluß fließt, sondern auch landschaftliche Räume einem Fließgeschehen unterliegen. Das in Grün und Blau gehaltene Bild mit einigen gelben Bäumen im Blickzentrum lädt zum Wandern ein. Auch die Feier der Bewegung an frischer Luft im Rhythmus der Landschaft findet somit im Zyklus der 41 Arbeiten ihren Platz. Vielen Menschen ist sowohl die Sehnsucht nach dem Blick in die Weite des Meeres eigen, als auch die Freude daran, ausgedehnte grüne Wiesen oder Felder unter einem blauen Himmel wandernd zu durchforschen.
Ein Symbol für "die Feier" der Farben ist "die runde Vase" (2020; 25 cm x 25 cm) in Gelb und mit einer Linie aus grünlichen Punkten. Der Krug steht vor einem hellroten Hintergrund. Bei einer Feier treffen sich Menschen zu Tanz oder zu Unterhaltung. Üblich ist, dass sie sich schmücken; aber auch die Räume ihres Zusammenkommens erfahren oft feierliche Verwandlungen. Häufig durch Blumen. Noch ist die runde gelbe Vase leer, aber sie kann einen farbenstarken Strauß in sich aufnehmen. Für ein Sommerfest oder eine Familienfeier. Farben bewähren sich in ihrem Reiz und ihrer Ausstrahlung gerade auch bei derartigen Festen. Mit ihrem Zyklus "die Feier" kann Annekatrin Brandl eine geräumige Ausstellung füllen. Einen Ort der Kunst, von dem aus ein Dialog mit Malerinnen und Malern der Tradition versucht wird: Wie Vincent van Gogh oder Gabriele Münter, wie Wassily Kandinsky oder Emil Nolde oder auch wie Kasimir Malewitsch und Karl Schmidt-Rottluff. Wie zu Zeiten der Geburt des Expressionismus kann es auch heute immer wieder neu gelingen, was der Zyklus "die Feier" veranschaulicht, die Magie des Scheinens von bunten wie unbunten Farben in alltäglichen wie in abstrakten Themen geistvoll zu erproben.
Die "Magie des Scheinens" würdigte Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Kunst im Wintersemester 1820/21 in Berlin als ein Charakteristikum der Malerei. (00; S. 161.) Die geistig-sittliche Ausstrahlung eines Tafelbildes führte Hegel während des Besuchs der Kunstsammlungen in Dresden im Umfeld seines 50. Geburtstages vom 27. August 1820 zuallererst auf die "Harmonie der Farben" zurück, die er als die "Musik der Malerei" auffasste. (00; S. 178.) Ein Auslöser für die Überlegung von Jürgen Kaube in seiner Biographie "Hegels Welt" (2020), dass der Philosoph der Berliner Universität die gegenstandslose Kunst geradezu "antizipiert" habe. (02; S. 382.) Von der Rede Hegels über die "Magie des Scheinens" führt ein direkter Weg zu den farblogischen Analysen Ludwig Wittgensteins. Der platonische Körper des Oktaeders diente dem österreichischen Denker seit 1929 in Cambridge dazu, seine Gedanken zu einer Farbenlogik auszuformulieren, in der die bunten Farben Grün, Gelb, Rot und Blau mit den unbunten Farben Schwarz und Weiß vereint werden. (03; S. 264.) Wie Zahlen konstituieren ebenfalls Farben sowohl Mengen als auch Ordnungsrelationen.
Den Ausklang im Zyklus "die Feier" leistet übrigens auch ein Bild, in dem Zahlen auftauchen. Auf weißem Grund erscheint erneut eine Sonne; doch jetzt nur eine kleine. Zu sehen sind aber auch große römische Ziffern in der Gleichung: I + I = II. In dem Bild "'I + I = II' – der Dialog" (2021; 29, 7 cm x 21 cm) sind für die Zahlen und die Rechenzeichen die Farben Schwarz, Grün, Rot und Gelb reserviert. Die Gleichung symbolisiert den Kraftzuwachs, der aus einem Miteinander der Menschen erwächst. Mit dem Hinweis auf das Zusammenspiel von Malerei und Mathematik klingt ein Thema an, für das sich Logiker wie Hegel und Wittgenstein interessierten. Beide Philosophen wandten sich bei der Deutung der menschlichen Praxis sowohl der Analyse des Sagens als auch der Analyse des Zeigens und damit der Beschäftigung mit der Farbigkeit des Wirklichen zu. Von ihrem logischen Zugriff auf das Studium des Wechselspiels der Farben her fällt es sicher leichter, in dem Zyklus von Annekatrin Brandl einen künstlerischen Beitrag zur Farbenlehre zu erkennen. Verbunden mit der wichtigen Einsicht, dass die Feier eines gelingenden Menschenlebens des Bildes und der Fülle der Farben bedarf.
21. August 2021
Literatur:
(00)
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie
der Kunst. Herausgegeben von Niklas Hebing. Band 28,1.
Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1820/21 und 1823. Hamburg
2015.
(01)
Kurt Badt: Die Farbenlehre van Goghs. Köln 1981.
(02)
Jürgen Kaube: Hegels Welt. Berlin 2020.
(03)
Josef G. F. Rothhaupt: Farbenthemen in Wittgensteins
Gesamtnachlaß. Weinheim 1996.
Bildrechte:
Alle abgebildeten Arbeiten aus ihrem Zyklus "die Feier"
fotografierte Annekatrin Brandl und stellte die Aufnahmen
freundlicher Weise für diesen Artikel zur Verfügung.