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Der Bettnässer

Russi thematisiert in seinem neuen, einfühlsamen Roman die gesellschaftlichen und psychischen Probleme eines Jungen, dessen Leben von Unsicherheit und Angst geprägt ist.

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Himmelsviolett und Veilchenblau – Gedanken zum ersten Impftermin

Himmelsviolett und Veilchenblau – Gedanken zum ersten Impftermin

Dr. Konrad Lindner

"Hast du im Tal ein sich'res Haus,

Dann wolle nie zu hoch hinaus."

(Friedrich Förster: Ein kleines Blauveilchen.)

1. Gewebe schonen

Der kleine Pieks in meinem rechten Arm, da ich Linkshänder bin, war kaum zu spüren. Am 9. April 2021 auf der Neuen Messe in Leipzig. Was mich an diesem Apriltag in einem der Impfzentren des Freistaates Sachsen bei dem Minipiekser beeindruckte, war wie ruhig, konzentriert und geschickt die junge Medizinerin an meiner Seite die Nadel in den freien Oberarm führte. Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen sind bei den Impfungen bestrebt, den Wirkstoff nicht mit Eile und Wucht, sondern mit Bedacht zu verabreichen. Susann Klenke erläuterte vor der Impfung, warum sie Vorsicht walten lässt, wenn sie spritzt: "Man muss immer gucken, dass das Gewebe nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Wenn man ganz doll rein drückt, kommt die Flüssigkeit mit mehr Druck aus der Spritze raus. Das würde dann auch im Gewebe drücken. Es würde dann einfach mehr weh tun."

Der Autor wird geimpft. (1)
Der Autor wird geimpft. (1)


2. Erkenntnis von Li Wenliang in Wuhan

Die wenigen Sekunden der Impfung empfand ich wie eine Ewigkeit. Vielleicht lag es daran, dass ich mir seit mehr als einem Jahr im Angesicht der Pandemie herbeigesehnt habe, dass sich ein praktischer Weg zur Eindämmung der Coronaviren eröffnet. Es war anfangs überhaupt nicht vorstellbar, dass es in Jahresfrist bereits eine Gruppe von Wirkstoffen geben könnte, die eine Immunität gegen die Viren mit dem Stachelkranz aufbauen können. Aber auch die unerfreulichen Verzögerungen beim Impfstart führten dazu, dass ich mir nicht wirklich ausmalen konnte, dass ich als 70-Jahre-Knabe in Leipzig bereits kurz nach Ostern eine Impfung erhalten könnte. Diese Hoffnung hatte sich angesichts der Fernsehberichte über die Rückschläge beim Impfbeginn zerschlagen. Aber als Susann Klenke mir die ersehnte Spritze mit dem Wirkstoff astrazeneca verabreichte, wurde ich eines Besseren belehrt. Mich durchströmte die Emotion der Erleichterung derart, dass ich zu Hause angekommen immer wieder mal in Tränen ausbrach. Die Erleichterung war so groß, weil ich bald nicht weiter befürchten muss, bei einem unglücklichen Verlauf auf die Intensivstation zu kommen und beatmet zu werden. Ich darf erleichtert sein, weil es mir nun erspart bleibt, durch die Coronaviren in eine Situation zu geraten, bei der ein Überleben nicht wahrscheinlicher ist als ein Sterben durch Ersticken. Mich hatten gleich Anfang Februar 2020 die Bilder des chinesischen Arztes Li Wenliang erschüttert und ernüchtert. Der Augenarzt und wache Mediziner in Wuhan hatte im Streit gegen die örtlichen Behörden kompetent und tapfer vor dem Coronavirus gewarnt. Aber bereits am 6. Februar 2020 starb Li Wenliang. Nur 33 Jahre alt. Mir blitzte schon damals durch den Kopf, dass nicht nur wir Großeltern gefährdet sind, sondern auch meine Kinder und Schwiegerkinder. Der Mediziner in Wuhan hatte seiner Familie, seinen Kolleginnen und Kollegen sowie der wachen digitalen Weltgemeinschaft aufgezeigt: Die Corona-Erkrankung ist durch ihre Verlaufsdynamik von einer Grippe-Erkrankung verschieden. Coronaviren haben noch weitaus mehr Wums. Es muss nicht in jedem Fall so sein, aber die Möglichkeit der Extremverläufe ist bei der Coronaerkrankung real und messbar.

3. Aristoteles dachte das Mögliche als wirklich

Das Mögliche ist spätestens seit Aristoteles und seinen Physikvorlesungen bei der Frage nach dem Fluss des Wirklichen mitzudenken. Der griechische Universalgelehrte dozierte zur Wellen- und Prozessförmigkeit des Wirklichen: "Prozess heißt die Verwirklichung des Möglichkeitsmoments an einem Gegenstand." Aristoteles sagt uns im Grunde: Du und deine Nächsten können harmlos an Corona erkranken, aber das ist nicht zwangsläufig so, denn du hast auch die Chance zu sterben! Es gibt in unseren Landen eine angeblich bürgerliche, eine vermeintlich alternative und anscheinend freiheitliche Partei, denen ein Denken auf dem Level von Aristoteles zu anstrengend ist. Wohl deshalb setzten ihre lautstärksten Anführerinnen und Anführer mit einer von Daten unerschütterlichen Pathetik so eifrig auf völkische Parolen und vor allem auf ein Bier haltiges Anti-Merkel-Gehetze. Ich jedoch bin dankbar, dass im Kanzleramt in Berlin in diesen kritischen Monaten einer anhaltenden Corona-Krise kein populistischer Schlaumeier sitzt, sondern eine Frau und gestandene Politikerin agiert: Eine Pfarrerstochter aus Templin und eine Absolventin der Universität Leipzig, die auch durch berühmte Physikerkollegen wie die Schüler Heisenbergs Felix Bloch, Edward Teller und Carl Friedrich von Weizsäcker absolviert wurde. Eine Frau, die in der Tradition des Physikochemikers Wilhelm Ostwald an der Harvard-Universität im Cambridge bei Boston unter Beifall Vortrag zu halten vermochte. Nun aber nicht über Katalyse sowie Philosophie der Wissenschaften wie Ostwald im Jahr 1905, sondern im Mai 2019 spricht Merkel unterbrochen von Jubel über politische Praxis. Schöpfend aus ihrer dichten wie langjährigen Erfahrung in der Politik. Sie spricht einfach und doch auch bekenntnishaft über die Möglichkeiten und Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Handelns in den Bereichen von Erderwärmung, Hunger, Krankheiten, Flucht und Vertreibung. Pikanter Weise forderte Merkel noch während der Präsidentschaft von Donald Trump mit dem Fokus auf die brennendsten globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts "indirekt dazu auf, die USA und die Welt nicht den Trumps zu überlassen, sondern mit Offenheit, Vernunft und Augenmaß zu regieren, die Wahrheit zu ehren und die großen Aufgaben unserer Zeit nicht zu ignorieren, sondern mutig anzugehen;" wie der Redenanalytiker Thomas Pyczak im Rückblick schreibt. Um die Streitkultur einer freiheitlich-demokratischen Ordnung geht es Merkel, in der das Mögliche im aktuellen politischen Handeln und Entscheiden als wirklich ermessen und bedacht werden muss. Trotz politischer Fehler in der Coronakrise dürfte es in der Haupttendenz vielleicht doch ein Glücksfall der jüngsten deutschen Geschichte im Moment der Pandemie sein: Frau Dr. Merkel kann Bundestagsreden halten; sie ist aber auch dazu in der Lage, die Kurven der Statistiker zu lesen und im Geiste eines Aristoteles und dessen Physikvorlesungen analytisch zu deuten. Merkel hat in der politischen Entscheidungsfindung zur Eindämmung der Pandemie wieder und wieder die realen Menschen aus Fleisch und Blut sowie die Menschen mit ihren Ängsten und Sorgen ins Zentrum gerückt. Dabei spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle, dass die Kanzlerin auch während ihrer jetzigen Kanzlerschaft in Olaf Scholz aus Hamburg einen tüchtigen sozialdemokratischen Vizekanzler an ihrer Seite weiß und darüber hinaus im Regierungshandeln durch eine stattliche Gruppe von Ministerinnen und Ministern der Koalitiontspartei SPD auf eine kollegiale wie kritische Weise orchestriert, dynamisiert und auch potenziert wird.

4. Anfang beim Weg heraus aus der Angst

Das Virus. (3)
Das Virus. (3)

Aus Anlass der Erstimpfung dachte ich beim Durchlauf durch das Impfzentrum nicht zuletzt an die Wählerinnen und Wähler im Freistaat Sachsen, die es ermöglicht haben, dass mit Petra Köpping eine beherzte wie zupackende Sozialdemokratin aus dem Leipziger Raum in Dresden das Amt der Sozial- und Gesundheitsministerin innehat. Politik wie Wissenschaft werden von Menschen gemacht. Auf dem Monitor hörte ich Frau Köpping einige Momente zu, als sie im Warteraum kurz vor der Impfung per Film Stichpunkte nannte, weshalb der winzige Pieks für mich der Anfang beim Weg heraus aus der Angst vor einer Coronainfektion sein wird. Meinen Essay schreibe ich aus Dankbarkeit für die Frauen und Männer, die sich wie Susann Klenke in Impfzentrum oder Hausarztpraxen mit Kopf und Hand und Mitmenschlichkeit engagieren, dass die Großeltern wieder ihre Enkel sehen und in den Arm nehmen können. Die Praxis des Impfens steht global gesehen immer noch am Anfang. Aber Einstiege in den Ausstieg aus der Welt-Corona-Krise sind dennoch auf allen Kontinenten greifbar, wenngleich mit Blick auf die politisch hochdifferenzierte Weltgemeinschaft noch Ungeheures zu tun bleibt.

Susann Klenke impft. (4)
Susann Klenke impft. (4)

5. Eine Studentin aus Chemnitz

Meine Frau, die mich zum Impftermin begleitet hat, ist Chemnitzerin. Aber auch die gelernte Krankenschwester Susann Klenke studiert an der TU Chemnitz das wichtige Zukunftsfach: Medizintechnik. Pro Stunde impft sie in der Leipziger Messehalle etwa zehn bis zwanzig Leute. Als ich die junge Frau nach dem Motiv für ihren Einsatz fragte, erzählte sie über ihr Erleben der Pandemie: "Als Studentin war ich die ganze Zeit seit Beginn der Pandemie zu Hause und habe von zu Hause aus studiert. Da hat man zum einen kaum noch Kontakte gehabt, weil man sowieso alles reduziert hat. Da war es schön, auch mal wieder Menschen zu sehen. Dann nochmal wieder arbeiten zu können. Das fühlt sich halt richtig gut an und tut auch richtig gut, dass man jetzt richtig aktiv anpacken kann in der Pandemie und dass man auch mithelfen kann und irgendwie noch seinen Teil für die Menschheit quasi beitragen kann."


Stand: 12. April 2021 – 22. 00 Uhr

Bildnachweis

Kopfbild, Abb. 1 und 4: Dr. Konrad Lindner

Abb. 2 und 3: Wikimedia - gemeinfrei

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