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Autor Christoph Werner lässt den Weimarer Unternehmer und Verleger Friedrich Justin Bertuch zurückblicken auf das eigene Leben.

Ein Tag im Leben des Friedrich Justin Bertuch

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Frühlingsaquarelle

Frühlingsaquarelle

Dr. Konrad Lindner

Malen mit Kant


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Bäume, Sträucher und besonders Blumen sind meine Helden, wenn ich zum Pinsel greife und male. Besonders im Frühjahr 2020 beobachtete ich Schritt für Schritt das Aufgrünen und Aufblühen der Natur. Jeden Tag war ich dankbar, wenn ich mit meiner Frau das Haus verlassen durfte, um beim Spaziergang mit unseren Hunden den jahreszeitlichen Wandel in der Elsteraue wahrzunehmen. Die dicken Knospen der Kastanien, das elegische Rufen der Rotbauchunken und nicht zuletzt das Geschrei der Wildganspaare summierten sich während des Osterfestes zum Frühlingserwachen. Mich versetzten die Farben und Töne draußen vor der Tür auch in der Coronakrise in Ekstase. Sie motivierten zum Malen.

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Im Verlauf der Monate März und April 2020 entstanden auf dickem Büttenpapier kleine Aquarelle. In Postkartengröße. Weiße Blüten (1), das zarte Hellgrün einer Weide im Kontrast zum dunklen Tannengrün (2), gelbe Osterglocken (3), ein fast verblühter Forsythienzweig (4), Hornveilchengesichter (5), Veilchenblau (6) und Tulpenrot (7) sowie ein Stiefmütterchenblick (8) und ein Löwenzahntrio (9) ergaben eine Frühlingsserie, die während der Ankunft der Pandemiewelle entstanden ist. Als Großeltern hielten wir uns an die neuen Regeln. Wir konnten unsere Enkel in diesen Tagen und Wochen nicht wie gewohnt besuchen und sie besuchten auch uns nicht. Aber wir wussten, dass sie für die Schule emsig arbeiten und wir tauschten auch Aquarelle aus. Als ich meiner Enkelin das Aquarell mit den weißen Blüten vom 17. März 2020 digital schickte, fand sie es nicht schlecht. Aber sie meldete Kritik an. Meine neunjährige Enkelin ist eine Malerin mit eigenen Bildideen. Die kleine Künstlerin sagte zu meinem ersten Frühlingsbild: "Frühling ist mehr Hellgrün." Sie setzte sich selber mit ihrem jüngeren Bruder am 19. März zu Hause an den Küchentisch und malte vier Frühlingsbilder nach ihrem Geschmack. Meine Enkelin suchte sich keine besondere Blume aus dem Garten aus, sondern brachte einfach erfundene Blütentupfer, aber auch eine ganze blühende Phantasiepflanze auf das Papier. Letztere mit zwei roten Blüten und mit zahlreichen leuchtenden Farbkullern. (0) Wie sie die kessen Farbfiguren aus dem Büchlein "Das kleine Blau und das kleine Gelb" (1962) von Leo Lionni kennt.

Ich wiederum versuchte auch etwas Neues. Am 20. März entstand eine Weide in einem olivgrünen Farbkleid. Dabei musste ich feststellen, dass es schwer ist, das Hängen der Weidenäste ins Bild zu bringen. Nicht jede Studie wird ein Meisterwerk; aber meine Enkelin erkannte in dem Aquarell eine Hängeweide. In der Summe ergibt das Fließen der Farben auf den Malkarten eine Chronologie der Frühlingsimpressionen des Jahres 2020. Eine Bildfolge meiner ureigenen Erlebniswelt am Rand der Luppenaue und in unserem Garten, die meine Enkelin mit ihrem abstrakteren Aquarell souverän ergänzt und bereichert. Ausgelöst durch die Corona-Gefahr, die auch in Schkeuditz im Kunstverein art Kapella keine Malkurse mehr zuließ. Ich war dazu herausgefordert, für mich allein das anzuwenden und zu erproben, was ich im Aquarellmalkurs bei Petra Jensch seit Herbst 2015 gelernt hatte.

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Der Rückzug in das Zuhause brachte nun aber auch Muße zum Nachdenken mit sich. Kaum jemand wird auf den Gedanken kommen, dass die Diskussion mit meiner Enkelin über die Farben des Frühlings beim Aquarellieren etwas mit der Philosophie des Subjekts und der Freiheit von Immanuel Kant zu tun hat. Doch der Königsberger Denker formulierte in seiner Ästhetik, die er 1790 publizierte, beim Blick auf die Tulpen in Gärten und Parks einen Satz, der gerade auch von Hobbykünstlern und ebenfalls von Kindern immer wieder ins Bild gesetzt wird. Die Bestimmung Kants lautet: "Blumen sind freie Naturschönheiten". Zuvor hatte Kant in seinem Hauptwerk"Kritik der reinen Vernunft" (1781) eine Revolution der Denkart losgetreten, die bis in unsere Zeit nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die Kunst von großer Bedeutung ist. Die wichtige Entdeckung des galanten Junggesellen bestand darin, dass unsere Wahrnehmung des Wirklichen keine Eigenschaft der Dinge, sondern ein Vermögen des Subjekts oder der Person und der Personengemeinschaften ist. Die Wahrnehmung, so betonte Kant im Jahr 1887 im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Vernunftkritik, richtet sich nicht nach den Dingen, wie bislang angenommen wurde, sondern "nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens". Unsere Anschauung formt sich, wie auch heute in der kritischen oder analytischen Philosophie herausgearbeitet wird, nicht nur aus der Erfahrung, sondern primär aus dem Begriff, nicht allein aus der Sinnlichkeit, sondern immer auch aus dem Verstand.

Nicht zuletzt in der Hobbymalerei erleben wir die begrifflich verfasste Qualität der menschlichen Anschauung immer dann, wenn wir Aquarelle nicht nur wortlos angucken, sondern uns über sie von Person zu Person sprachlich austauschen. Meine Enkelin wandte sich an mich mit der Feststellung, dass ihrer Anschauung nach der Frühling nicht ganz so dunkelgrün ist, wie es mein Aquarell zum Ausdruck bringt. Sie sprach ohne jede Scheu aus, dass ihrem Eindruck nach etwas nicht stimmt. In seiner "Kritik der Urteilskraft" (1790), in der Kant seine ästhetische Sichtweise systematisch formulierte, debattiert er nicht nur über Sinnlichkeit und Anschauung im Allgemeinen, sondern er analysiert die Konstitution von "Geschmacksurteilen" im Besonderen. In der philosophischen Ästhetik geht es um Sprechsituationen, in denen wir im Dialog mit anderen Menschen zeigend ausrufen: "Das ist schön!" Oder: "Da stimmt etwas nicht!" Oder: "Das ist hässlich!" Kant analysierte die Verfasstheit der Urteile, die von je verschiedenen Menschen formuliert werden, wenn sie über Meisterwerke der Malerei sprechen. Derartige Geschmacksurteile bilden wir heute immer noch, wenn wir über die "Sixtinische Madonna" von Raffael oder über die "Zwei Männer bei der Betrachtung des Mondes" von Caspar David Friedrich, die in Dresden hängen, oder über den "Blumenstrauß" von Paula Modersohn-Becker, der in Halle hängt, mit anderen Gesprächspartnern diskutieren.

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Bei Kant ist für das Gespräch über Kunst einiges zu lernen. Er beförderte die Einsicht, dass ästhetische Urteile vom Subjekt abhängig sind. Sie erwachsen aus der Freiheit sowie aus der Autonomie der Menschen. Ästhetische Urteile zeichnen sich dadurch aus, dass sie immer aus der Verschiedenheitder anschauenden und erlebenden Personen erwachsen. Das ist in der Malerei wie in der Poesie oder in der Musik. Immer sind es verschiedene Menschen, die sich bei der Deutung von Kunstwerken austauschen. Ihre Subjektivität ist kein Makel, sondern Ausdruck ihrer Autonomie. Kant bringt als Denker des Subjektsin der Ästhetik diejeweilige Originalität der Wahrnehmung in Anschlag. Sie resultiert allein schon daraus, dass verschiedene Personen ein je unterschiedliches Anschauungsvermögen entwickeln. Bei dem Kirschblütenaquarell vom 17. März 2020 hatte ich mich durch den Bildband von Klaus Fußmann mit dem Titel "Botschaften aus dem Garten" anregen lasssen. Die Farbskizze entstand im stillen Dialog mit diesem Maler. Im Austausch mit meiner Enkelin über das Aquarell zum Frühlingsanfang durfte ich bei ihrer Kritik nun nicht etwa beleidigt reagieren. Auch wenn ich beim Malen bewusst auf Hellgrün verzichtet hatte. Kant bestimmt in Paragraph 43 der "Kritik der Urteilskraft" ein Kunstwerk als eine "Hervorbringung durch Freiheit". Er streitet aber auch für die Freiheit des Urteils beim Anschauen von fertigen Kunstwerken. Folglich lässt jedes einzelne Bild meiner Blüten- oder Blumenserie verschiedene, heterogene und sogar gegensätzliche Geschmacksurteile zu.

Im öffentlichen Austausch über Kunst, aber auch beim privaten Dialog über selbstgemalte Bilder von Enkeln und Großeltern in der Familie gilt jeweils die Devise der Freiheit des Urteils, der Autonomie der Bewertung, der Gelassenheit beim Streit über Stimmigkeit und Unstimmigkeit, der Offenheit für eine abweichende Sicht der anderen Betrachter und insgesamt der Fröhlichkeit des wechselseitigen Umgangs beim Streit über Kunst. Malen im Geiste von Kant ist ein beschwingendes und die Menschen in Freiheit verbindendes Tun, das gerade auch im Bereich der Familie dazu auffordert, dass die Alten die Jungen und die Jungen die Alten in ihrem je eigenen Tun und Sehen ernstnehmen und respektieren. Im sozialen Raum der Familie kommt es nicht minder als in den anderen gesellschaftlichen Sphären darauf an, wie Kant in seiner "Kritik der praktischen Vernunft" (1788) formuliert, "dem kategorischen Gebot der Sittlichkeit Genüge zu leisten", was in "jedes (Menschen) Gewalt zu aller Zeit" sein sollte. Durch die Brille Kants gesehen, war die Frühlingsentdeckung mit dem Farbpinsel im Corona-Jahr für mich im privaten Kreis nicht nur ein geselliges Tun, sondern auch eine kleine Übung in wechselseitiger Anerkennung und Akzeptanz. Das Malergebnis zum Thema "Frühjahr 2020" sind neun Aquarelle im Format 14 x 19 Zentimeter (Großvater) und ein Aquarell im Format 21 x 29, 5 Zentimeter (Enkelin).


13. April 202

Bildnachweis

Alle Rechte liegen beim Autor Dr. Konrad Lindner.

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