Immer wieder gehen sie mir durch den Kopf. Die Eindrücke vom Bürgerfest am Samstag, den 03. September 2022. Musik, Malerei, Menschen bevölkerten die Georg-Schumann-Straße. Die Nacht der Kunst begann bei Sonnenschein und endete tief in der Nacht. An diesem Abend stellte auch Annekatrin Brandl ihre neueren Arbeiten aus. Die Leipziger Malerin zeigte auf der Georg-Schumann-Straße 116 eine große Serie ihrer graphischen Studien. Auch Pastellarbeiten der letzten Jahre stellte die Künstlerin in strahlender Farbe aus, die inzwischen auf ein fünfzehnjähriges Schaffen zurückblickt. Ich habe immer den Eindruck, dass sie bei ihrer Arbeit nie einsam ist, weil sie im stillen Gespräch mit den Altvorderen wie Gabriele Münter und Wassily Kandinsky dabei ist, auch noch in der Gegenwart neue und verschüttete Perspektiven des Sehens zu entdecken. Von der Einkehr in die Tradition waren wunderbare Bilder wie "Welttraum", "roter Himmel" und "Verbundenheit" inspiriert.
Bei dem Bild "Welttraum" sind Häuser zu sehen, aber auch der Nachthimmel mit Sternen und Mondsichel. Im Vordergrund zieht sich ein weißer Streifen von unten nach oben. Ein Symbol des Geistigen, das sich im Tun, im Begegnen, im Handeln, im Reden und im Träumen der Menschen manifestiert. Doch die Leute haben sich bereits in ihre Häuser zum Schlaf zurückgezogen. Es ist tiefe Nacht. Häuser unterm schwarzen Himmel summieren sich zur Feier der Erde. Unser Sonnenplanet wird als Zuhause angesprochen. Wir haben es uns so hergerichtet, dass wir – wenn auch nicht überall - doch zumeist in Ruhe schlafen können.
Das Bild "roter Himmel" erinnert an die Landschaften von Gabriele Münter. Doch in ihrer Abstraktion geht Brandl weiter. Sie zeigt uns, dass in einer Landschaft, die in Wirklichkeit in Kurven und Krümmungen sowie mit Abweichungen von der Geraden daherkommt, immer noch eine euklidische Geometrie auszumachen ist, in der die Winkelsumme 180 Grad beträgt. Das Landschaftsbild mit dem weißen Mond und den grünen Bergen ist eine Idealisierung. Womit in diesem Bild von Annekatrin Brandl der deutsche Idealismus aufscheint. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling hat im "System des transzendentalen Idealismus" (1800) in Kenntnis der Meisterwerke der Kunstsammlungen in Dresden formuliert: "Jedes herrliche Gemälde entsteht dadurch gleichsam, daß die unsichtbare Scheidewand aufgehoben wird, welche die wirkliche und die idealische Welt trennt ...". Unser Sehen ist ein schauendes Suchen, bei dem wir aus unserem Geist heraus dem Geist der Welt nachspüren und in glücklichen Augenblicken auch entdecken. Das Reale erblicken wir, indem wir es immer auch idealisieren und das heißt von unserem geistigen Entwurf des Wirklichen ausgehen. Nicht die Materie ist das Primäre, sondern die Idee. Eine Einsicht, die Friedrich Engels und seiner Auslegung der Grundfrage der Philosophie widerspricht. Etwas, das ich als Assistent und Dozent des dialektischen Materialismus zu Zeiten der DDR erst in Freiberg und dann in Leipzig leider nicht begriffen und gelehrt habe. Engels habe ich auf dem Sockel der Weltweisheit belassen, obwohl sein Materialismus nicht die beste Idee auf Erden war. Doch ich konnte im Laufe der Jahre und Jahrzehnte dazulernen. Heute lese ich mit Freude bei Schelling in seinem transzendentalen Idealismus zur Malerei, dass "die ästhetische Produktion von Freiheit ausgeht". Ich wiederhole es mit Blick auf die Bilder von Annekatrin Brandl: Für uns Menschen ist das Wirkliche nicht geistlos. Das Idealische und das heißt die Idee ist für uns Menschen das Allerrealste. Nicht zuletzt die Möglichkeit von Liebe im Bei-Sich-Sein im Sein-Beim-Anderen ist in unserem Dasein sowohl eine Erfahrung als auch eine Idealisierung unseres Lebens.
In dem Bild "Verbundenheit", das ebenfalls im Jahr 2022 entstand, erzählen uns zwei Bäume im Vordergrund vom Miteinander, von der Verbindung der Verschiedenen und gleichsam von der Autonomie der je einzelnen Person. Im Hintergrund ruhen ein Haus mit weißer Front und ein Hügel in Türkis unter der Mondsichel. Eine erhabene, aber auch eine fröhliche Komposition. So groß der Zuspruch für die Bilder damals in der Nacht der Kunst bei den Besuchern auch war, Menschentrauben entstanden vor allem vor einem Werk im Großformat.
Annekatrin Brandl schuf es unter dem Eindruck des berühmten Fotos, das Angela Merkel auf dem G 7 – Gipfel vom Juni 2018 im Streitgespräch mit Donald Trump zeigt. Während Trump sitzt und fast aus dem Bild herausfällt und an Merkel vorbei zu Emmanuelle Macron blickt, steht Merkel vor Trump und stützt sich mit ihren Händen auf einen weißen Tisch: Machtbewusst, angstfrei und gedanklich fokussiert auf das Finden von Lösungen. Das Bild trägt den Titel "die Schale mit Früchten & das gefüllte Glas" – der Dialog. Entstanden in den Jahren 2018 – 2021. In der Kunstnacht am 03. September 2022 erfolgte die öffentliche Premiere. Inzwischen ist schon ein halbes Jahr vergangen. Aber mir geht nicht aus dem Sinn: Das farbige Bild mit Merkel ließ auffallend viele Menschen innehalten, schauen sowie leise miteinander reden. Noch beim Weggehen von der Ausstellung im Wannenbad schienen einige Besucher in eine Stimmung der Nachdenklichkeit versetzt. Vielleicht lag das daran, dass sich die Welt seit der Kanzlerschaft von Merkel sehr verändert hat. Sicherlich imponierten auch einfach die Würde und die Symbolkraft des Dialogs. Wer will heute noch bestreiten, dass Merkel inmitten einer von Männern dominierten Politikerwelt eine Meisterin des unaufgeregten und zielführenden Dialogs war. Aber ich muss mir auch schmerzhaft und erfüllt von Trauer eingestehen, dass nicht mit jedem Politiker auf der Bühne der Gegenwart ein Dialog mit Worten möglich ist. Wer das Verbrechen zur Maxime seines weltpolitischen Handelns macht, wer mitten in Europa ein ganzes Land in die Stalinzeit zurückbomben will und wer den Demokraten und Reformer Michail Gorbatschow als Verräter Russlands denunziert, der entzieht sich mit Macht dem verbalen Dialog. Auch angesichts der Gefährdung der Freiheit geht mir die Kunstnacht 2022 nicht aus dem Sinn und ich freue mich schon jetzt voller Erwartung auf die Kunstnacht 2023 in Leipzig-Gohlis mit hoffentlich wieder neuen Brandl-Bildern.
29. März 2023
Übersicht der besprochenen Bilder:
1.
"Welttraum" - 2022 (überarbeitet)
Pastell auf Papier
21 x 29,7cm
2.
"roter Himmel" - 2022 (überarbeitet)
Pastell auf Papier
21 x 29,7cm
3.
"Verbundenheit" - 2022
Pastell auf Papier
29,7 x 21cm
4.
"die Schale mit Früchten & das gefüllte Glas" - der Dialog - 2021
Acryl auf Landwand
70 x 100cm
Der Autor dankt Annekatrin Brandl für die Erlaubnis, die vier aufgeführten Bilder zu veröffentlichen.