Denker des Atomzeitalters: Ernst Bloch - Professor der Philosophie an der Universität Leipzig - und Niels Bohr - Professor der Physik an der Universität Kopenhagen - sind Zeitgenossen: Kinder des Jahrgangs 1885 und somit Angehörige einer geistigen und politischen Epoche. Aber auch Männer mit ähnlicher Denkhaltung. Beide bedachten den Begriff des Möglichen in Bezug auf die Deutung von Natur und Gesellschaft.
Sie waren im 20. Jahrhundert zwei berühmte Pfeifenraucher: Der Philosoph Ernst Bloch und der Physiker Niels Bohr. Beide sind sie Kinder des Jahrgangs 1885. Wie Bloch kommt auch Bohr aus einem jüdischen Elternhaus. Bloch, der Denker der konkreten Utopie und des Projektes einer humanen Gesellschaft, sorgte nach der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil erst in Leipzig und dann in Tübingen als Professor der Philosophie für geistige Unruhe. Der Denker aus Ludwigshafen war aber nicht allein ein politischer Autor. Er veröffentlichte auch Texte über die Philosophie der Physik. Die wichtigste Publikation zur Philosophie der Natur ist Blochs Werk zum Begriff der Materie, das er 1937 in Prag in Grundzügen fertiggestellt hatte, das aber erst im Jahr 1972 erschien. Die Beschreibung des Atoms lässt erkennen, dass Bloch ein Philosoph ist, der unter dem Eindruck des Atomzeitalters über die Struktur der Materie schrieb: „Der elementare 'Baustein' der Welt erwies sich als weit davon entfernt, ein Stein zu sein; besonders die Radioaktivität machte unter Atomen die Strahlung heimisch.Wird durch den radioaktiven Zerfall Materie zertrümmert, so wird Energie frei, die gebundene Materie zerstrahlt, umgekehrt erscheint Materie als 'zusammengesetzte Energie'. Das Elektron selbst wird definiert als 'Energieknoten' und seine Masse rührt größtenteils von dem mitgeführten elektromagnetischen Feld her."1
Als Bloch im April 1949 an Bord des Schiffes „Batory" aus dem amerikanischen Exil kommend in Richtung Europa nach Leipzig unterwegs war, hatte er auch seine Gedanken über Niels Bohr im Gepäck. In einem Text von nur zehn Seiten wird die Geschichte der Quantentheorie im Anschluss an die Entdeckung der Sprunghaftigkeit der Energieabgabe eines strahlenden Körpers durch Max Planck besprochen und als ein wichtiges Ereignis in der Philosophie der Natur gewürdigt. Die Skizze gehört zu einem Abschnitt über die „'Verschwundene', formalisierte, aber auch energetisch gefasste Materie in der gegenwärtigen Physik".2 Zusammen mit den anderen publizistischen Schätzen überquerte auch dieses Textstück in einem großen Koffer den Atlantik. Die Manuskripte über Utopie, über Materie und über Logik waren alle noch unveröffentlicht. Gleich nachdem sich Bloch im März 1948 entschlossen hatte, den ihm angebotenen Posten als Direktor des philosophischen Seminars in Leipzig anzunehmen, hatte er Freunden in Amerika geschrieben: „Jetzt gehe ich an die Sichtung und Einordnung meiner uferlosen und noch heimatlosen Manuskripte aus den letzten zwanzig Jahren"[3]
Der dickste Brocken im Gebirge der Manuskripte waren die drei Bände „Funktion und Welten der Hoffnung"wie im Juni 1945 der Titel lautete. Sie erschienen ab 1954 im Aufbau-Verlag in Berlin, unter dem legendär gewordenen Titel: „Das Prinzip Hoffnung". Das Problem des Noch-Nicht-Seins hatte Bloch aber nicht nur bezogen auf das Denken und Handeln der Menschen in sozialen Gemeinschaften durchdacht, sondern er hatte sich auch eingehend mit der modernen Physik und dem Wandel in der Auffassung des Wirklichen befasst. Das Ergebnis war ein Buch, in dem das Problem der Materie seit dem großen Streit der antiken Atomisten über Materie und Form bis zum heutigen abrupten Wandel im physikalischen Weltbild behandelt wird. Seinen Freunden im amerikanischen Exil, mit denen er Manuskripte austauschte, schrieb Bloch im Sommer 1945 über das Materie-Buch: „Ich lasse dann die nächsten drei Bände abschreiben, die ich zum großen Teil ja schon in Prag fertig gemacht habe: 'Umwälzungen der qualitativen Materie'. Nichts mehr von Psychologie und Wachträumen darin, gottlob; lauter marxistische Grundbegriffe und Physik. Kurz, ein Männerbuch. Noch zehn Jahre Arbeit, dann lasse ich mich pensionieren, speise ausschließlich thick juicy steaks (dicke saftige Steaks), trinke Burgunder und pfeife auf den Liebeszunder. Ein wirklicher alter Weiser, wie er in keinem Buch steht. Kurz, ein roter Kirchenvater."4
Im Frühjahr 1949 war es so weit. Bloch hoffte, dass er sowohl seine „Welten der Hoffnung" als auch sein „Männerbuch" über Philosophie und Physik bald veröffentlichen könne. Aus dem roten Kirchenvater im Traume sollte im Ostteil von Deutschland ein intellektueller „Kommunist ohne Parteibuch" werden. Bloch war, angefüllt mit Tatendrang, unterwegs in die Sowjetische Besatzungszone. Allein. Seine Frau Karola und der Sohn Jan Robert blieben noch einige Monate in Amerika zurück. Der 63-jährige Philosoph hatte auf dem Schiff allerdings nicht nur die Ausarbeitung der bevorstehenden Vorlesungen im Kopf. Am 14. April 1949 berichtet Bloch über ein geselliges Abenteuer: „Habe mich gestern abend sogar leicht in ein entzückendes Wesen an Bord verliebt, nach einem schönen Gespräch. Sie ist leider Amerikanerin, spricht nur englisch, aber verläßt das Land for good (für immer)."5
In dem Buch zum Problem der Materie nimmt der dänische Naturforscher Niels Bohr einen Ehrenplatz ein. Bohr wird als der nach Albert Einstein berühmteste Physiker des 20. Jahrhunderts gewürdigt. Ende 1922 hatte Bohr den Nobelpreis erhalten, weil er ein Jahrzehnt lang fast allein die Quantentheorie in die Richtung einer neuen Theorie des Atoms gelenkt hatte. Der erste Geniestreich gelang dem 27-jährigen Bohr Ende 1912 und Anfang 1913 mit der Erarbeitung einer dreiteiligen Abhandlung, die ab Juli 1913 unter dem Titel „On the constitution of atoms and molecules" erschien. Bohrs Durchbruch zu einer Quantentheorie des Atoms. Der junge dänische Physiker war zu der Vermutung gelangt, dass vor allem der äußere Elektronenring für die chemischen Eigenschaften der Elemente verantwortlich sein könnte. Mit dieser Idee stieß er eine Lawine weg vom mechanisch gedachten Planetenmodell des Atoms los. Bohr begann für das Atom eine Wirklichkeit zu entwerfen, die vom Standpunkt der klassischen Mechanik und Elektrodynamik absurd ist. Er postulierte Stabilitätsbedingungen für Elektronenorbitale. Scheinbar willkürlich wählte er Elektronenbahnen aus, auf denen sich die Teilchen bewegen, ohne zu strahlen. Bohr erklärte in seiner Trilogie zur Struktur der Materie: „Was immer die Veränderung in den Bewegungsgesetzen der Elektronen sein mag, es scheint nötig, in die in Frage kommenden Gesetze eine Größe einzuführen, die der klassischen Elektrodynamik fremd ist, nämlich Plancks Konstante, oder, wie sie oft genannt wird, das elementare Wirkungsquantum."6
Bohr versuchte gar nicht erst, die Bewegung der Elektronen in der Atomhülle mechanisch zu erklären, sondern er folgte der Überzeugung, dass der Elektronenaufbau des Atoms vom Planckschen Wirkungsquantum beherrscht wird. Nicht der historische Verlauf, aber das Neue des Bohrschen Ansatzes wird von Bloch beschrieben: „Bohrs Grundgedanke war derart: unter den unendlich vielen möglichen Bahnen sind im elektromagnetischen Atomsystem nur diejenigen ausgezeichnet, von denen die Plancksche Quantenbedingung gilt. Im Fall einer Störung können die Elektronen also nicht in eine beliebige andere Kreisbahn übergehen, sondern nur in eine quantentheoretisch erlaubte: Dieser Übergang ist folglich ein Sprung, und nur bei diesem Sprung - von einer Quantenbahn zur anderen - senden die Elektronen Strahlen aus."7 Wie schon Max Planck in seiner Theorie der Wärmestrahlung und Einstein in seiner Photonen-Deutung des Lichts, verzichtete Bohr bei der Beschreibung des Verhaltens der Elektronen in der Atomhülle auf das Dogma „ natura non facit saltus." Auf das Dogma: Die Natur macht keine Sprünge. Bohr gelangte zu der Überzeugung, dass die Diskontinuität im Atom eine zentrale Rolle spielt. Für Bloch wiederum wurde das Studium der Quantentheorie zu einer Gewähr, dass in der Philosophie „ein neuer Materialismus mit dem Puls dialektischer Lebendigkeit" möglich sein müsste.8
Bloch las sich in der Mitte der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts von Hegels Logik und Naturphilosophie ausgehend, in die Kopenhagener Deutung des Atoms ein. Er schaute aus einer besonderen Perspektive auf die Debatten in der Physikerschule um Bohr. Bloch wollte „die physikalisch-chemisch-organisch gestuften Qualitätssprünge der Hegelschen Naturphilosophie" in die Gegenwart übersetzen, indem er sich mit den Ansichten der besten Naturforscher über die Sphären oder Schichten des Wirklichen vertraut machte.9 Bei der Auseinandersetzung mit den Ideen von Bohr hob Bloch am Ende seines Aufsatzes über „Quantentheorie und Atommodelle" zwei naturdialektische Lehren hervor: „Die erste Lehre lautet: Jeder atomare Vorgang ist sprunghafter Übergang von einem Quantenzustand in den anderen; die zweite: Welle und Körperpartikel sind Wechselbegriffe, deren objekthaftes Korrelat sich offenbar dialektisch verhält."10
So wie Bohr in der Physik den statistischen Charakter der Gesetze des Elektronenverhaltens in der Atomhülle betonte und damit der klassischen Newton`schen Mechanik widersprach, schrieb Bloch in der Philosophie Geschichte, indem er die Priorität der Möglichkeit gegenüber der Wirklichkeit entdeckte: Das Wirkliche ist nicht das Faktische, sondern das Wirkliche ist zuallererst das Mögliche. Jedes Wirkliche ist ein Noch-Nicht, das für ein anderes offen ist. Wer dem Möglichen den Vorrang vor dem Wirklichen gibt, öffnet die Materie und macht die Freiheit zum A und O der Philosophie. Die Magie des Möglichen, auf die sich Bloch seit seinem Buch „Geist der Utopie" einschwor, entfaltete er seit der Mitte der 20er Jahre zu einer unorthodoxen und eigenständigen Auslegung der marxistischen Philosophie. Bloch las das Buch des russischen Sozialisten Wladimir Iljitsch Lenin über die Krise der Physik nach dem Erscheinen der deutschen Ausgabe von 1927, aber er las im Jahr 1932 auch die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte" des jungen Marx. Er konnte sowohl mit der Rede Lenins von der „Unerschöpflichkeit" des Elektrons etwas anfangen als auch mit der Analyse der Arbeit als Allianz des Menschen mit der Natur durch Marx. Die Folge waren ein „Materialismus ohne Klotzmaterie" und eine „Dialektik ohne Dogma" sowie insgesamt ein Philosophieren, in dem das Prinzip Freiheit im Wertekanon der Bürgerschaft höher veranschlagt wird als die Maxime der Pflicht oder der Parteilichkeit oder der Anpassung.
Als Gymnasiast in Ludwigshafen korrespondierte Bloch gehaltvoll mit dem Physiker und Wissenschaftshistoriker Ernst Mach. Im Jahr 1905 begann Bloch in München sein Studium der Philosophie. Er belegte im Nebenfach aber auch Physikveranstaltungen. Ordinarius in München war Wilhelm Conrad Röntgen. Die Revolution im Weltbild der Physik bildete in der Biographie des Philosophen des Jahrgangs 1885 ein Jugenderlebnis, auf das er in seinem Materie-Buch zurückkam. Die Materie-Theorie im Kontrast zur Betonkopfmaterie von Bürokratie und Technokratie machte Ernst Bloch als Lehrender auch seinen Studenten an der Universität Leipzig bekannt. Er sah sich nicht zu Unrecht als ein roter Augustinus an. Das Skript des Materialismusbuches war Grundlage eines Doktoranden-Kolloquiums.13 Im Konzept einer 20bändigen Werkausgabe führte Wolfgang Harig im August 1955 das Bloch-Buch unter Punkt 9 mit den Stichworten „Prozessfront, Materie" auf.14 In der DDR wurde dieses Werk mit der Würdigung des Materiedenkens von Aristoteles bis Niels Bohr und Werner Heisenberg aber nie veröffentlicht. Zum Nachteil für die Kultur des Philosophierens im Osten wie im Westen von Nachkriegsdeutschland.
Bohr wie Bloch setzten große Hoffnungen in die friedliche Nutzung der Kernenergie. Beide reiften unter dem Schock der nuklearen Explosionen von Hiroshima und Nagasaki aber auch zu geistigen Verfechtern einer offenen Welt. Der Physiker und der Philosoph trafen sich in der Überzeugung, dass die Rivalität der Blöcke durch Kulturen und Institutionen neuen Denkens überschritten werden kann. Beide wussten sie: Es ist oft mehr möglich, als die meisten für möglich halten.
1 Ernst Bloch: Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz. Frankfurt am Main 1985. S. 321.
2 Ebenda, S. 316.
3 Ernst Bloch an Joachim Schumacher am 16. März 1948. In: Ernst Bloch. Briefe 1903 bis 1975. Zweiter Band. Frankfurt am Main 1985. S. 593.
4 Ernst Bloch an Joachim und Sylvia Schumacher am 4. Juni 1945. In: Ernst Bloch. Briefe 1903 bis 1975. Zweiter Band. Frankfurt am Main 1985. S. 554.
5 Ernst Bloch an Joachim und Sylvia Schumacher am 14. April 1949. In: Ernst Bloch. Briefe 1903 bis 1975. Zweiter Band. Frankfurt am Main 1985. S. 598.
6 Niels Bohr: Über die Konstitution von Atomen und Molekülen. (1913). In: N. Bohr: Abhandlungen über Atombau aus den Jahren 1913 - 1916. Braunschweig 1921. S. 2.
7 Ernst Bloch: Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz. Frankfurt am Main 1985. S. 326.
8 Ernst Bloch: Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz. Frankfurt am Main 1985. 257.
9 Ernst Bloch: Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz. Frankfurt am Main 1985. 253.
10 Ernst Bloch: Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz. Frankfurt am Main 1985. 331.
11 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main 1985. S. 2.
12 Vgl. Pirmin Stekeler-Weithofer: Sinn. Berlin/Boston 2011. S. 32.
13 Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs. Hrsg. von Beat Dietschy, Doris Zeilinger und Rainer E. Zimmermann. Berlin / Boston 2012. S. 269.
14 „Ich möchte das Meine unter Dach und Fach bringen ..." Ernst Blochs Geschäftskorrespondenz mit dem Aufbau-Verlag Berlin 1946 - 1961. Hrsg. von Jürgen Jahn. Wiesbaden 2006. S. 100.
1 Bundesarchiv, Bild 183-35545-0009 / CC-BY-SA: Berlin, Ernst Bloch auf 15. Schriftstellerkongress 1956
2, 4, 5 und das Kopfbild: Wikimedia Commons, gemeinfrei
3 Berlin 1954, Ernst Bloch auf Begegnung der Geistesschaffenden
Bundesarchiv, Bild 183-27348-0008 / CC-BY-SA
6 Ernst Bloch Gedenktafel in Leipzig: Fotograf Reinhard Ferdinand
7 Cover Bloch-Wörterbuch: mit freundlicher Genehmigung des Verlages