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Blumen  am Grab Wittgensteins –  Leipziger Studentin in Cambridge

Blumen am Grab Wittgensteins – Leipziger Studentin in Cambridge

Dr. Konrad Lindner

0. Denken kommt von Danken

Grab Wittgensteins 1
Grab Wittgensteins 1

Besuchen wir einen Friedhof, um unsere verstorbenen Angehörigen zu besuchen, dann sind wir im besten Sinne denkende Wesen. Philosophen betonen daher, dass das Denken nicht zuerst im Labor beim Experiment oder in der Sitzung einer Akademie entsteht, sondern vor allem dann, wenn wir anderen Menschen danken. Von einer Studentin, die diese Maxime beherzigt, möchte ich in diesem Artikel erzählen. Sie verfasste eine Hausarbeit zu dem letzten Text eines der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts; sie wählte aber auch die Universitätsstadt als Ort des Schreibens, in der sie dessen Grab besuchen konnte.

1. Von Leipzig nach Cambridge

Abb. 2
Abb. 2


Für das Wintersemester 2020/21 wechselte die Studentin Anna Oswald von Leipzig nach Cambridge. Sie schrieb in der englischen Universitätsstadt eine Arbeit zu dem Text "Über Gewißheit" von Ludwig Wittgenstein. Die Notizen zur Frage des Wissens entstanden von Weihnachten 1949 bis April 1951. Sie erschienen 1969. In der Textsammlung kreisen die Gedanken Wittgensteins um die Frage nach der Sicherheit und der Unsicherheit unseres Wissens vom Wissen. Ein zentraler Begriff ist der Begriff des Zweifels. Mir ergeht es so, dass ich in der Arbeit von Anna Oswald für die originale Lektüre von "Über Gewißheit" viel lerne; vor allem aber möchte ich zum Todestag von Wittgenstein – er starb am 29. April 1951 – mit den Augen der Studentin aus Leipzig das Grab des Ingenieurs, Logikers und Philosophen besichtigen. Das ist möglich, weil Anna Oswald am 15. März 2021 mit der Fotokamera zu einem berühmten Waldfriedhof in der Universitätsstadt spazierte, auf dem berühmte Wissenschaftler ihre letzte Ruhe gefunden haben. Die Bilderserie finde ich deshalb großartig, weil sie anschaulich dokumentiert, dass der geistige, wissenschaftliche und kulturelle Austausch zwischen Leipzig und Cambridge längst nicht mehr durch einen tödlichen Eisigen oder Eisernen Vorhang unterbrochen wird.

2. Nicht an allem ist zu zweifeln

Friedhof Cambridge (3)
Friedhof Cambridge (3)

Würde Karl Marx die Notizen Wittgensteins "Über Gewißheit" lesen, dürften sie ihn sehr fesseln. Auf die Frage seiner Töchter "Ihr Lieblingsmotto" antwortete er im Jahr 1865 in London: "De omnibus dubitandum (An allem ist zu zweifeln). (05; S. 608.) Die Rede vom "Zweifel an Allem" klingt fein antidogmatisch, aber Wittgenstein widerspricht ihr. Deshalb, weil Zweifel und Vertrauen – Vertrauen auch beim Gehen auf schwankendem Boden – bei der Bildung von Wissen Hand in Hand gehen. Zwar kultiviert Wittgenstein wie Marx das Prinzip Zweifel, aber er führt erläuternd aus: "Ein Zweifel, der an allem zweifelte, wäre kein Zweifel." (09; S. 117.) Die Maxime des Zweifels erörterte Wittgenstein bereits in seinem ersten und dem einzigen Buch, das zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde. Zuerst 1921 erschienen in den "Annalen für Naturphilosophie", die Wilhelm Ostwald herausgab. In dem "Tractatus logico-philosophicus" (1918 als Manuskript fertig) entschlüsselt Wittgenstein im Konkreten, wodurch sich unser Denken in einem Fluss der Bewegung befindet. Lange vor Hans-Georg Gadamers Buch über "Wahrheit und Methode" (1960) wandte er sich der Logik von Frage und Anwort zu. Doch Gadamer wie Wittgenstein besinnen sich einhellig auf die "Ursprünglichkeit des Gesprächs" und setzen vom Fluss des Gesprächs her den Hebel an, um nach dem logischen Status der Frage zu fragen. (01; S. 375.) Wittgenstein unterscheidet Situationen in denen nicht gefragt werden kann von Situationen, in denen gefagt werden kann. Er schreibt: "Denn der Zweifel kann nur bestehen, wo eine Frage besteht; eine Frage nur, wo eine Antwort besteht, und diese nur, wo etwas gesagt werden kann." (08; § 6.51. S. 88.) Nach dem Kipp- und Umschlagspunkt in der Bewegung des Wissens forscht auch Anna Oswald. Ihre Arbeit fertigte sie in dem Seminar "Wittgenstein und Skeptizismus" des Studiengangs Master Philosophie der Universität Leipzig während des Wintersemesters 2020/21 in Cambridge an. Sie trägt den Titel: "Menschliches Wissen: Endlich und praktisch." Die Autorin schildert die Fallstricke im Wissen vom Wissen, die sich immer dann aufspannen, wenn es dogmatisch wird. Wenn wir an den Start gehen, passiert etwas Wichtiges: "Wer glaubt zu wissen überschreitet eine Grenze." Dann kann's aber danebengehen, wenn der Starter in den Abgrund der Illusion fällt: "Missversteht das Wissen, verwechselt es vielleicht mit 'sicher sein' und 'Gewissheit'." (06; S. 11) Anna Oswald meint nicht, dass Wissen nicht möglich ist, sondern ihr geht es um die Überlegung, dass unser Denken ein Wissensfluß ist. Wenn wir ein Wissen überschreiten, kann dies gelingen und ebenfalls misslingen. Zwei Extreme bringen den Fluss des Wissens ins Stoppen: Wird das Wissen vom Wissen als absolut gesetzt, passiert ein Unfall des Erkennens. Wird erreichtes Wissen leichtfertig abgewertet und verworfen, ist das Wissen vom Wissen aber auch unzureichend entwickelt.

3. Kultur der Wachheit befördern

Anna Oswald arbeitet heraus, dass das Fließen des Wissens eine Richtung hat und jeweils auf unser Handeln, auf die Praxis in ihren mannigfachen Formen fokussiert ist. In ihrem Essay schreibt sie im Schlussteil "Über den Glauben": "Der Zweifel hält uns quasi wach, zeigt uns an was wir noch nicht wissen. Zeigt an, dass Erkenntnis eine Bewegung ist. Der Zweifel hat seinen Sinn aus einer Grenze. Der Grenze zwischen meinem Wissen und dessen Begrenztheit." (06; S. 19.) Der wichtige Gedanke, dass unser Wissen fließt und kein Abonnement für alle Zeiten beinhaltet, ist textkritisch fundiert. Wittgenstein meißelt in seinem letzten Text den dreiteiligen Satz: "... zweifeln heißt denken." (09; § 480. S. 125.) Wer nicht zweifelt, denkt nicht. Aber wer denkt, dass er schon gedacht hat, wenn er nur zweifelt, ist noch längst nicht ins Denken und Selberdenken eingekehrt. Immerhin gilt es, unser Wissen in Fluss zu halten. Was hinführt zu einer Überlegung von Werner Heisenberg, die er in schwieriger Zeit mitten im Krieg anstellte. Heisenberg stellte während des Wechsels von Leipzig nach Berlin etwa 1942 einen Text zur Philosophie fertig, den seine Frau Elisabeth als das geistige Testament ihres Mannes ansah, wie sie im November 1991 in Göttingen im Interview erzählte. In dem Text "Ordnung der Wirklichkeit" schreibt Heisenberg beeinflusst von Goethe über die Schichten des Wirklichen, über den menschlichen Wisssensfluss im Aufbruch der Naturforschung sowie über den Verlust an Sinn und von Moral in Zeiten der totalitären Ideologien.Trotz der jeweiligen Begrenzungen unseres Wissens in Wissenschaft und Alltag und Kunst notiert Heisenberg durchaus im Geiste Wittgensteins den Satz: "... die Fähigkeit der Menschen, zu verstehen, ist unbegrenzt". (03; S. 157.) Ja. Richtig. Aber nur, wenn uns, wie Anna Oswald formuliert, der Zweifel wach hält. Zweifeln oder Querdenken nicht als Fremd- und Selbstzerstörung, sondern als die Maxime eines kritischen wie bedachten Verantwortungsbewusstseins beim Freisetzen eines lebhaften wie unbequemen bürgerschaftlichen Handelns in allen Sphären des privaten und öffentlichen Lebens.

4. Kein Wissen ohne Glauben

Abb. (4)
Abb. (4)

Wie Kant in seiner "Kritik der Urteilskraft" (1790) forscht Wittgenstein in den Selbstgesprächen von Weihnachten 1949 bis zu den letzten Tagen vor seinem Tod – er starb Ende April 1951 - nach der Sicherheit und Unsicherheit unseres physikalischen, biologischen und philosophischen Wissens. Wenn unser Wissen in Fluss ist, dann sind Stromschnellen, Wasserfälle und turbulente Ereignisse auf dem weiten Weg bis zum Meer prüfbarer Ergebnisse unseres Denkens unvermeidlich. Dabei ist der Zweifel unerlässlich, aber er ist nicht Selbstzweck. Zitiert Hegel in seinen "Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" Sextus Empiricus mit dem Leitsatz, dass auf allem "Meinung" haftet, dann geht es Hegel wie später Marx um Methodologie und das Prinzip der Negation im Denken. (02; S. 230.) Beide befestigen gerade auch in der Wissenschaftslogik die Maxime, dass an allem zu zweifeln ist, was aber eine Geisteshaltung beinhaltet, die danach strebt, dann auch wirklich neue Bahnen des Wissens zu eröffnen und zu neuen Horizonten aufzubrechen. In Phasen des Übergangs kommen gerade auch die sogenannten harten Wissenschaften - wie die Physik und die Chemie - nicht ohne das Moment des Glaubens aus. Der Ansatz, dass Wissenschaft von realen Menschen im Vollbesitz aller ihrer Leidenschaften gemacht wird, zu denen Vorlieben wie Abneigungen in Theorie- und Methodenfragen gehören, wurde im 20. Jahrhundert insbesondere von Thomas S. Kuhn ausgearbeitet und spielt eine große Rolle in seinen Interviews zur Entstehung und Entwicklung der Quantentheorie der Atome. Als er beispielsweise die Physikerin Lise Meitner zur Geschichte der Berliner Physik befragte, war eines seiner häufigen Verben in den Fragen an die Forscherin das Wort "to believe" / "glauben". Die Sitzung fand am 13. Mai 1963 im englischen Cambridge statt. Thomas Kuhn fragte englisch. Otto Robert Frisch, der Neffe von Lise Meitner, übersetzte ins Deutsche. Der österreichische Physiker hatte Ende 1938 während der Weihnachtsferien zusammen mit seiner Tante im schwedischen Exil die erste theoretische Deutung der Kernspaltung geliefert. Bei dem Verb "to believe" pendelte Kuhn in seinen Fragen zwischen dem Englischen und Deutschen hin und her. Die Rolle von Glaubenssätzen trieb ihn um. Der amerikanische Wissenschaftsphilosoph fragte gezielt nach der Gruppenbildung in den Überzeugungen von Naturwissenschaftlern: Glaubten die Physiker in Berlin an das Atom, glaubten sie an das Quantum, glaubten sie an das Photon oder glaubten sie nach 1913 an das Bohrsche Atom und glaubten sie 1927 an Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation? Es ist daher ungeheuer spannend, dass von Wittgenstein in "Über Gewißheit" nicht nur der Zweifel in der Wissenschaftslogik thematisiert wird, sondern auch der Glaube. Der Glaube an Nicht-Beweisbares sowie an Noch-Nicht-Beweisbares, wobei sich das noch nicht Bestimmbare als der vorläufigen wie provisorischen Abschätzung bedürftig erweist. Anna Oswald geht es mit Wittgenstein um das Paradoxon des Wissens: Wenn Wissen von "ungewussten Sätzen" abhängt, wie soll es dann Wissen sein? Gleich im ersten Satz ihrer Hausarbeit weckt die Autorin den Appetit auf das Studium der originalen Notizen zum Wissen mit dem Hinweis: "Wittgenstein lädt uns in Über Gewissheit ein über Zweifel, Irrtum, Gründe, Glauben und Gewissheiten nachzudenken, dies in Beziehung zu dem was es heißt zu Wissen." (06; S. 3.)

5. Wege zu Wittgenstein

Für mich war Wittgenstein seit dem Wiedergewinn der politischen Einheit in Deutschland ein großes Neuland, denn in der DDR standen Marx, Engels und Lenin in der philosophischen Ausbildung auf dem Sockel; ein Wittgenstein kam in meinen Seminaren noch nicht vor. Im Zuge der geistig-politischen Öffnung der DDR kaufte ich mir 1990 aber die Studienausgabe der beiden Hauptwerke Wittgensteins ("Tractatus" und "Untersuchungen"), die in Leipzig im Reclam Verlag erschienen waren. Doch leider hatte ich keine Bekannten und Freunde, mit denen ich über die beiden großen Texte und über die "Mannigfaltigkeit" der "Sprachspiele" vom Befehlen über das Reigen singen bis zum Danken, Fluchen, Grüßen und Beten reden konnte. (08; § 23. S. 110/111.) Allerdings tauchte in einer Leipziger Buchhandlung ein Plakat mit einem Porträt Wittgensteins und dem Dialog aus den "Philosophischen Untersuchungen" auf: "Was ist Dein Ziel in der Philosophie? Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen." (08; § 309, S. 238.) Mich traf die Frage nach dem "Ausweg" aus einem Weltbild, das zum Fliegenglas, zum unsichtbaren Gefängnis geworden war. Diesen kleinen Dialog notierte ich mir im März 1991 Schwarz auf Weiß als Leitspruch in einem Transkript meiner Interviewserie auf den Spuren des Physikers und Philosophen Heisenberg, der von 1927 bis 1942 in Leipzig eine Schule der Quantentheorie von Weltgeltung aufgebaut hatte. Sein engster Kollege in Leipzig war Friedrich Hund. Im Juni 1991 besuchte ich den Naturforscher in Göttingen. Herr von Weizsäcker hatte mir im Januar 1991 beim Besuch in Starnberg das Gespräch mit seinem Leipziger Lehrer und späteren Kollegen sehr empfohlen. Damit ich Friedrich Hund interviewen kann, wie es drei Jahrzehnte zuvor Thomas S. Kuhn auf vorbildliche Weise unternahm. In einem Seniorenstift zu Göttingen traf ich unerwartet auf einen Forscher, der nicht nur von seinem eigenen Denkweg, sondern auch von Wittgenstein und speziell von dessen erstem Buch, dem "Tractatus" erzählte. Der 95-jährige Gelehrte erzählte derart lebhaft, dass sein Stuhl laut knarrte. Herr Hund berichtete über sein Leben und über seinen Weg in die Wissenschaft, der ihn während des Ersten Weltkrieges nach Göttingen geführt hatte. Professor Hund erinnerte sich insbesondere auch an sein Erleben der Bohr-Festspiele vom Frühsommer 1922 in Göttingen. Der scharfsinnige Erzähler schilderte die Szenerie, als wäre es vor wenigen Monaten gewesen. Er beschrieb die Denkanläufe von Niels Bohr, die Quantentheorie des Atoms über die Deutung des Wasserstoffatoms hinauszuführen und in der Theoriebildung ein neues Niveau zu erreichen. Dabei zitierte mein Gesprächspartner den letzten Satz aus dem "Tractatus": "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen." (08; § 7, S. 89.) Dann sagte Friedrich Hund, dass sich Bohr bei seinen Vorträgen gerade nicht an diesen Satz gehalten habe. Auch wenn seine Rede stockte, der Starphysiker aus Kopenhagen versuchte über die neue Gestalt der Atomtheorie in Andeutungen zu sprechen. Bohr schwieg nicht, sondern versuchte über etwas zu sprechen, über das eigentlich noch nicht gesprochen werden konnte.

6. Am Grunde des Sprachspiels

Wittgenstein-Karte (5)
Wittgenstein-Karte (5)

Anna Oswald erläutert das Selbstgespräch, das Wittgenstein mit dem analytischen Philosophen George Edward Moore führte, der in Cambridge lehrte. Bei ihr ist zu erfahren: "Wittgenstein denkt über das was man Weltbild nennt nach. Gewisse Sätze von denen Moore behauptet hat sie zu wissen und wir möglicherweise ebenfalls, hängen, bei genauerem hinsehen, in einem System von Glaubenssätzen zusammen.“ (06; S. 4.) Wittgenstein meint offenbar, so verstehe ich die zitierte Überlegung, dass wir in einem System von Sätzen hängen, die wir für wahr halten, die aber bei genauerer Prüfung als Glaubenssätze sichtbar werden. Hier geht es nun aber nicht um Kirche und Gebet, sondern es geht insbesondere um Science. Es handelt sich um Glaubenssätze, die Bestandteil des wissenschaftlichen Forschens in Wissenschaftlergemeinden sind. Anna Oswald referiert Wittgenstein mit dem Satz: "Sprachspiel und Weltbild sind ebenfalls verkuppelt." (06; S. 10.) Ein hilfreicher Fingerzeig, wenn es gilt, die Struktur von wissenschaftlichen Revolutionen zu verstehen. Für die kritische Phase des Übergangs von gewohnten Denkformen zu neuen Wissensformationen führte Thomas S. Kuhn die Termini der "wissenschaftlichen Revolution" und des Wechsels von "Paradigmen" ein. Eine wissenschaftsphilosophische Begrifflichkeit, die er im Rahmen seiner großen Interviewserie zur Entstehungsgeschichte der Quantentheorie des Atoms anwenden und testen konnte. Ein Schatz an Interviews, der im Amerikanischen Institut für Physik in Maryland aufbewahrt wird und der weltweit digital zugänglich ist. Anna Oswald schreibt über den Umschlag in den basalen Formen unseres Wissens, Sprechens und Fragens, den Kuhn als wissenschaftliche Revolution bezeichnet: "Das Weltbild aber verändert sich. Und zwar dadurch, dass sich entweder unser Wissen erweitert und alte Glaubenssätze verworfen werden, weil sie sich als falsch erwiesen haben oder indem sie durch Neue ersetzt werden." (06; S. 8.) Zum Wissen gehören sowohl prüfbare als auch nicht prüfbare Sätze. Glaubenssätze sind kein Makel, sondern unverzichtbare Momente im Fluss des Wissens. Das wird sofort klar, wenn wir bedenken, dass gerade auch die Wissenschaft von Menschen gemacht wird. Nicht zuletzt die Naturforschung wird von Menschen in Kooperation, von sozialen Gruppen, von Wissenschaftlergemeinden betrieben. In sozialen Gruppen sind Wissenssätze wie Glaubenssätze institutionalisiert. Aber nicht nur das. In ihnen und durch sie vollzieht sich ein Wissen und Können. Anna Oswald arbeitet bei ihrer Lektüre des Textes von Wittgenstein heraus, dass Veränderungen im Weltbild kein Selbstzweck sind, sondern auf die Meisterung von Lebens- und Praxisformen fokussiert werden. Die Studentin treibt die Analyse daher systematisch bis hin zu der Einsicht Wittgensteins: Es ist zuallererst "unser Handeln, welches am Grunde des Sprachspiels liegt". (09; § 204; S. 59 und 06; S. 14.)

7. Dank an eine Studentin aus Leipzig

Anna Oswald in Cambridge (6)
Anna Oswald in Cambridge (6)

Die Lektüre des Textes "Über Gewißheit" legte mir mein Lehrer und Kollege Kurt Reiprich am 5. April 2011 ans Herz. Es war dies unser letztes Treffen vor seinem Tod im Juni 2012. Seitdem hat mich niemand angesprochen und erzählt, dass er sich mit dem letzten dialogischen Denkfeuerwerk Wittgensteins befassen würde. Bis zu der Mail von Anna Oswald vom 11. März 2021. Da las ich die Zeile: "Ich habe auch zum späten Wittgenstein gearbeitet. Über Gewissheit. Die letzten Sätze hat er zwei Tage vor seinem Tod geschrieben. Diese Arbeit hat mir alles abverlangt und mich in den Wahnsinn getrieben." Als ich das las, war ich wie elektrisiert und erfreut, aber flog aus der Bahn und musste schreiben, um mich vorsichtig in die dichte Arbeit von Anna Oswald hineinzukämpfen. Es ist das Verdienst der Studentin aus Leipzig, dass sie ausgehend von Gilbert Ryle's Analysen zum Wechselspiel von Theorie und Praxis, von Denken und Handeln eine klare Hinführung zu dem wichtigen Text Wittgensteins in eine geistige Form gegossen hat. Mir hat die Arbeit dabei geholfen, noch einmal von neuer Perspektive aus über das bewegende Interview zu erzählen, das ich im Juni 1991 mit Friedrich Hund in Göttingen geführt habe. Den vorliegenden Text verstehe ich nun aber auch als Dank dafür, dass die junge Forscherin und Philosophin aus Leipzig am 15. März 2021 in Cambridge das Grab von Ludwig Wittgenstein besucht und fotografiert hat.


Stand: 08. April 2020

Bildnachweis

Kopfbild, Abb. 1,3,4,6: Anna Oswald

Abb. 2: Wikimedia, gemeinfrei

Abb. 5: Dr. Konrad Lindner

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