Vor vielen Jahren saßen vier Männer in einer Postkutsche auf dem Weg nach Leipzig. Zufällig hatten sie alle dasselbe Ziel, die Teilnahme an einem Kongress zum Thema
„Die Zukunft der Menschheit".
Nachdem sich die vier gegenseitig vorgestellt hatten, kamen sie schnell miteinander ins Gespräch. Professor Peters war Germanist und sollte auf dem Kongress den Hauptvortrag zum Thema „Sprache als Mittel der Verständigung" halten. Dr. Schlegel war Pädagoge und für die Leitung des Arbeitskreise „Erziehung zum Menschsein" vorgesehen. Herr Sommer, Doktorand im Fach Geschichte, reiste als einfacher Teilnehmer zu der Tagung. Dr. Semmering schließlich, der vierte, war Jurist und hatte einen Lehrstuhl für Rechtsgeschichte inne. Der Kongress, zu dem die vier unterwegs waren, sollte die Frage klären, ob die menschliche Entwicklungskraft verbraucht wäre, oder ob, und unter welchen Voraussetzungen das Wirken der Menschen auf Erden noch einen Sinn mache...
Schließlich waren sie froh, als die Beschwerlichkeit der Kutschfahrt hinter sich hatten und am Zielort angelangt waren. Der Beginn des Kongresses war erst für den übernächsten Tag angesetzt. So war es den Reisenden vergönnt, sich ein wenig zu erholen und in Muße durch die schöne Stadt Leipzig zu streifen...Der Pädagoge Dr. Schlegel stieg im Hotel „Am Markt" ab. Bei seinem vorangegangenen Besuch in Leipzig hatte er in den Regalen des Buchhändlers Michel eine Rarität entdeckt. Es handelte sich um die Erstausgabe des Werks von Erasmus von Rotterdam über Prinzenerziehung. Dr. Schlegel hatte sich inzwischen kundig gemacht: von dieser Ausgabe gab es nur noch drei Exemplare. Ihr Wert wurde mindestens auf 20 Goldtaler geschätzt. Der nichts ahnende Buchhändler hatte zwei Taler verlangt. Selbst das war zuviel für den Geldbeutel des Dr. Schlegel. Jetzt plagte ihn noch die Sorge, dass das Buch inzwischen an jemanden anderen verkauft worden war.
Für ein paar kleine Münzen engagierte er am nächsten Morgen einen jungen Mann von der Straße. Der betrat kurz vor ihm die Buchhandlung und tat dann so, als ob er einen Herzanfall erlitte. Er rang nach Luft, stieß zwei Regale um und wälzte sich auf dem Fußboden. Der Buchhändler und seine Gesellen sprangen sofort herbei, um erste Hilfe zu leisten. Als es ihm endlich gelungen war, den jungen Burschen wieder aufzurichten, hatte Dr. Schlegel das Geschäft schon seit einer ganzen Weile wieder zu verlassen. Den Erasmus von Rotterdam hatte er mitgenommen, ohne dafür zu bezahlen...
Am folgenden Tag begann der Kongress. Professor Peters, der Germanist, hielt ein viel beachtetes Referat. Es wurde lange darüber diskutiert, zumal der vorgesehene Zweitreferent, Professor Jennewein aus Leipzig, überraschend nicht erschienen war. „Ihre Thesen sind ein sehr interessanter Ansatz", lobte Dr. Schlegel. „Ich muss zugeben, dass ich das Thema aus dieser Perspektive bisher nicht betrachtet habe." Auch Professor Semmerings Vortrag fand großen Beifall...
Müde, aber zufrieden mit dem Ergebnis des Kongresses stiegen die vier Herren zwei Tage später wieder in die Postkutsche. Als der Schwager starten wollte, kamen plötzlich sechs berittene Wachleute herangestürmt und machten Zeichen, dass er noch zu warten hätte. Sie rissen die Kutschentüren auf und verlangten, dass die vier Reisenden sich ausweisen sollten.
„Herr Professor Peters?", sagte der Anführer und legte dem Germanisten die Hand auf die Schulter. „Hiermit verhafte ich Euch wegen Mordes!" „Was maßt Ihr Euch an?", schrie ihm der Professor in das Gesicht. „Ihr habt Professor Eberhard Jennewein, Germanist an der Universität Leipzig, wohnhaft in der Rieselchen Gartenreihe, durch einen Schuss mit der Pistole ermordet, als er sich auf dem Heimweg von der Universität zu seinem Wohnhaus befand." „Das kann einer seiner Studenten gewesen sein", empörte sich Professor Peters. „Wie kommt Ihr auf mich? Ich bin zum ersten Mal in dieser Stadt." „Professor Jennewein muss Euch genauso gehasst haben, wie Ihr ihn.", antwortete der Wachmann mit ruhiger Stimme. „Wir haben in seinem Arbeitszimmer das Manuskript des Vortrags gefunden, den er im Anschluss an Eurem eigenen auf dem Kongress hätte halten sollen. Die darin enthaltenen Tiraden auf Euch lassen den Schluss zu, dass Ihr ihm mit Eurem Mord gerade noch zuvorgekommen seid. Außerdem fanden wir Briefe von Euch an Jennewein, die keinen Zweifel lassen an Eurer gegenseitigen tiefen Abneigung."
Professor Peters wurde abgeführt. Die anderen drei konnten ihre Rückreise antreten. Unterwegs hatten sie sich viele Mord- und Gruselgeschichten zu erzählen. Nur über einen neuen Tagungsort wurden sie sich nicht einig.
Eine Geschichte (gekürzt) aus „Der Drachenprinz" von Florian Russi im Bertuch-Verlag Weimar
mit Zeichnungen von Dieter Stockmann www.bertuch-verlag.com/