Und endlich kommt die Heilige Nacht. So kurz die Tage sind, so hat doch an diesem Tag die Nacht gar nicht kommen wollen, und immer und immer dauerte der Tag. Das Christkindl aber gibt die Gaben nur in der Nacht seiner Geburt. Und sie ist jetzt gar wirklich gekommen, diese Nacht. Die Lichter brennen schon in dem schönen Zimmer der Stadtleute, auf der Leuchte in der Stube der alten Waldhütte brennt der Kien, oder es brennt ein Span in seiner eisernen Zange auf einem hölzernen Gestelle. In dem Zimmer mit den Lichtern oder in der Stube mit dem brennenden Kien oder dem brennenden Span harren die Kinder. Da kommt die Mutter und sagt: »Das Christkindl ist schon dagewesen.« Und nun Öffnen sich die Flügeltüren und die Kinder und alle, welche gekommen sind, die Freude zu teilen, gehen in das verschwiegene Zimmer. Dort steht der Baum, der sonst nichts als grün gewesen ist. Jetzt sind unzählige flimmernde Lichter auf ihm und bunte Bänder und Gold und unbekannte Kostbarkeiten hängen von ihm nieder. Und der Gaben ist eine Fülle auf ihm, dass man sich kaum fassen kann. Die Kinder sehen ihre liebsten Wünsche erfüllt und selbst die Erwachsenen und selbst der Vater und die Mutter haben von dem Christkindlein Geschenke erhalten, weil sie Freunde der Kinder sind und die Kinder lieben. Die Bangigkeit der Erwartung geht jetzt in Jubel auf, und man kann nicht enden, sich zu zeigen, was gespendet worden ist. Man zeigt es sich immer wieder und immer wieder und freut sich, bis der Erregung die Ermattung folgt und der Schlummer die kleinen Augenlider schließt.
Und auch die Türe aus der Stube der Waldhütte öffnet sich in die Kammer hinaus, und die Kinder gehen durch die Tür, und auf einem Baume mit mehreren Lichtlein hängen wunderbare goldene Nüsse und goldene Pflaumen und Äpfel und Birnen und Backwerk und anderes Liebes, Vielleicht ein hölzerner, schön bemalter Kuckuck oder ein Trompetchen oder zwei rote, unvergleichliche Schuhe. Und wenn kein Baum in der Kammer ist, so liegen diese Dinge auf einem weißen, reinen Tuche, und eine Talgkerze brennt dabei. Und die Dinge werden in die Stube hinausgetragen und die Talgkerze auch, und sie bleibt in der Heiligen Nacht brennen, bis die Kinder schlafen gehen. Und vor Freude und vor Entzücken gehen sie recht lange nicht schlafen und kosten auch noch von den gespendeten Dingen. Aber endlich bringt sie der Schlummer doch unter die Decke. Und manche Gabe geht mit in das Bett.
Selbst den Kindern in Hütten, wo nur eine Stube und gar keine verschwiegene Kammer ist, bringt das Christkindl Gaben. Sie dürfen nur in das Vorhaus, in den Stallgang oder wo immer hin auf einen Stein, darauf man sonst Garn klopft oder auf einen Stock oder auf einen Stuhl ein Tuch breiten und ein leeres Schüsselchen stellen, und wenn sie nach einer Zeit wieder nachsehen, ist das Schüsselchen gefüllt, mit Goldnüssen, Pflaumen, Birnen, Äpfeln, Honigkuchen und erwünschten Sachen. Und zu solchen Kindern, damit sie wissen, dass das Schüsselchen gefüllt ist, sendet öfter das Christkindlein eines seiner goldenen Rösslein, mit denen es durch den Himmel fährt, und lässt die geschehene Bescherung verkündigen. Und das Rösslein läutet vor der Türe mit seiner Glocke und tut ungebärdig, schlägt an die Türe, und wenn die Kinder hinaus eilen, ist das Rösslein fort, und das gefüllte Schüsselchen steht da. Wir haben oft in längst vergessenen Christnächten im Walde an der jungen Moldau das goldene Rösslein läuten und toben gehört.
Und wenn die Millionen Kinder, welche in dieser Nacht beteiligt worden sind, schon in ihren Bettchen schlummern und ihr Glück sich noch in manchem Traume nach spiegelt, und nun von dem hohen Turme des Domes in der großen Stadt die Schläge der zwölften Stunde der Nacht herab getönt haben, so erschallt das Geläute der Glocken auf allen Kirchtürmen der Stadt, und das Geläute ruft die Menschen in die Kirchen zu mitternächtlichem Gottesdienst. Und von allen Seiten wandeln die Menschen in die heiligen Räume. Und in dem hohen gotischen Dome strahlt alles von einem Lichtermeer, und so groß das Lichtermeer ist, welches weit und breit in den unteren Räumen des Domes ausgegossen wird, so reicht es doch nicht in die Wölbung empor, in welcher die schlanken Säulen oben auseinandergehen, und in jenen Höhen wohnt erhabene Finsternis, welche den Dom noch erhabener macht. Der Hohepriester des Domes und die Priesterschaft des Domes feiern den Gottesdienst. Und so heilig ist das Fest, daß an diesem, und nur an diesem allein, jeder katholische Priester dreimal das heilige Meßopfer vollbringen darf. Und wenn schon die Baukunst in den zarten Riesengliedern des Domes dem Gottesdienst als Dienerin beigegeben ist, wenn die tiefe Pracht der kirchlichen Gewänder dem Feste Glanz gibt, so tönt auch die Musik in ihren vollen Wellen und in kirchlichem Ernst von dem Chore tadellos dargestellt hernieder. Und wenn die heilige Handlung vorüber ist, zerstreuen sich Priester und
Laien, die Lichter werden
ausgelöscht und der Dom ragt finster zu dem Monde, wenn er am Himmel
erscheint, oder zu den Sternen, oder gegen die dunklen, schattenden
Wolken.
Und wie in dem Dome, so wird in allen Kirchen der großen Stadt mit den Mitteln der Kirche das heilige Mitternachtsfest gefeiert, soweit die Mittel und der Eifer und die Andacht reichen. Und in jeder Kirche ist die gläubige Menge und feiert das Fest und sucht nach demselben seine Wohnung und seinen Nachmitternachtsschlummer. Aber auch, wie um Mitternacht in der Weihnacht die Glocken der großen Stadt zum Gottesdienst rufen, so rufen in derselben Stunde alle Kirchenglocken der kleineren Stadt, der kleinsten Stadt, des Marktfleckens, des Dorfes, es rufen die Glocken aller Kirchen zu dem heiligen Feste, in welchen Kirchen das Fest gefeiert wird.
Und es sind Millionen Tempel, in denen man das Geburtsfest des heiligen Kindes begeht. Und wie die Mitternacht von Osten gegen Westen herüber rückt, so rückt das Geläute von Osten nach Westen, bis es an das Meer kommt. Dort macht es eine Pause und beginnt nach einigen Minuten jenseits des Ozeans.
Bildnachweis
Kopfbild: Winterlandschaft, Wikimedia-gemeinfrei
1 Weihnachtsbaum: Foto Dietrich Lincke
2 Mondlandschaft mit bewölktem Himmel. Gemälde von Adalbert Stifter ca. 1850
3 Neue Katholische Kirche zu Leipzig, Innenaufnahme: Foto Archiv W. Brekle
4 St. Thomas zu Leipzig: Foto Ursula Drechsel