Claudia, im 40. Lebensjahr, Ärztin in einer Berliner Klinik, kinderlos (zwei Abtreibungen), geschieden, hat ihr Domizil in einem Hochhaus mit Einzimmerwohnungen, Appartements genannt. Hier begegnet sie Henry, ihr etwa gleichaltrig, Bauingenieur, scheinbar ein Single. Ein Jahr lang währt die gegenseitige Berührung, dann reißt eine absurde Schlägerei mit Jugendlichen ihn aus dem Leben. Mit seiner Beerdigung beginnt die Novelle.
War er ihr ein Freund? Sie weiß es nicht. Freundschaft wäre doch, [sich] einem anderen Menschen anzuvertrauen . . ‚ zwingend notwendig. Nun aber das Distanz herstellende fremd im Titel. Es wird zum Leit-Motiv der Novelle.
Man hat lediglich Bekannte und Kollegen und sieht da - dies die Radikalität des Textes! -- zerbrochene oder notdürftig aufrechterhaltene Ehen (neun an der Zahl), Demütigungen, hingenommen von vor allem Frauen, Zynismen sich überlegen glaubender Männer, sich langweilende, gewaltbereite Halbstarke. Man hat Verwandte, nahe und ferne, sie tun einem allenfalls leid, und man hat ihnen und man hat sich nichts zu sagen: den Eltern, der Schwester, Onkeln und Tanten! Vernunft machte mich unabhängig und einsam ..., Ich vermeide es, enttäuscht zu werden . . . Ich habe in Drachenblut gebadet, und kein Lindenblatt ließ mich irgendwo schutzlos.
Dennoch, scheint es, wird nicht von einem Lebens-Unglück die Rede sein.
Nach den verursachenden >>Zuständen, die Menschen so werden lassen<<‚ war oben gefragt worden. Mir scheint, das neunte Kapitel - es ist das umfangreichste der Novelle - sagt den Anfang von allem. Dies wäre wieder zu lesen, ist man zu mehr nicht aufgelegt.
Nach 25 Jahren fährt die Erzählerin, in Begleitung Henrys, in die Stadt ihrer Kindheit und Schulzeit. Und da durchbricht, für einen Augenblick, eine zweifache Erinnerung ihre allwaltende Fremdheit und Distanz zur Mitwelt. Einmal hatte es sie gegeben: die hingebungsvoll sich anvertrauende Freundschaft zweier Mädchen; Claudia und Katharina. Alles teilten sie in nicht enden wollenden Gesprächen. Gespräche über die Lehrer, gefürchtete und gerechte und einen Moment lang scheu bewunderte. Gespräche über Gott.
Ob es ihn nun gäbe oder nicht! Das wollten sie an ihrem 14. Geburtstag entscheiden, um durch eine weitere Gemeinsamkeit verbunden zu sein. Katharina kam aus einer gläubigen Familie.
Allein - und nun die andere Erinnerung - der Juni 1953. Bewundernswert erscheint das psychologisch--gestalterische Vermögen Christoph Heins: Wozu war eine Vierzehnjährige im Verstehen solchem Ereignis gegenüber in der Lage, und, gewichtiger, welch prägende Folgen, abermals traumatisch, senkten sich auch hier in einen jungen Menschen? Ich sollte in der Schule keine Fragen stellen und nicht darüber diskutieren ... Ich fühlte die Angst der Erwachsenen, miteinander zu reden... über eins ihrer Tabus ... ich begann zu schweigen, um nicht andere zu belästigen ... Im politischen Raum entstand das Verdikt: Keine Fehlerdiskussion! Das hielt, verhängnisvollerweise, bis zum Oktober 1989 an. >>Zustände, die Menschen so werden [ließen] <<, wie es die Darstellung zeigt.
Die Novelle war bei ihrem Erscheinen 1982 einzigartig in ihrer Kompromisslosigkeit. Wiedergelesen fügt sie sich (nur für mich?) nun jedoch in gelebte Lebenszusammenhänge und verliert einiges von dem damaligen wirklichen Schock.
Und da gibt es das lebenslang anhaltende Goethesche Gebot der >>Entsagung<<: >>Eingedenk der Zerbrechlichkeit menschlicher Verhältnisse, sich nicht als Spielball objektiver Mächte gebrauchen, vor allem nicht missbrauchen zu lassen, sondern seine Bestimmung als Subjekt aufrechtzuerhalten ...<< (Hans-
Jochen Gamm).
In solchem Licht könnten die letzten Sätze der Novelle fast glaubhaft anmuten: Ich bin gesund. Alles was ich erreichen konnte, habe ich erreicht. Ich wüsste nichts, was mir fehlt. Ich habe es geschafft. Mir geht es gut. / Ende.
Nalewski, Horst: Deutschstunden. Miniaturen zur deutschen Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts. Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 2015