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Florian Russi

Schaubühne

Insgesmt 8 Theaterstücke von Florian Russi mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden für Kinder- und Jugendgruppen warten darauf, von kleinen Künstlern belebt zu werden.

Kameradschaftsabend und Massenmord. Zum 80. Jahrestag der Ermordung von Henri Hinrichsen (1868-1942)

Kameradschaftsabend und Massenmord. Zum 80. Jahrestag der Ermordung von Henri Hinrichsen (1868-1942)

Dr. Eberhard Ulm

Henri Hinrichsen 1928.
Henri Hinrichsen 1928.

 

Eine Vorbemerkung

 

Als ich 2019 meine Forschungen zur Aufstellung der in der Sowjetunion verwendeten Einsatzgruppen in Düben beendete, war ich zu der Erkenntnis gelangt, dass der Berufsschuldirektor - und damit Berufskollege, SS-Mann Hermann Horlitz, nicht Mitglied einer Einsatzgruppe geworden ist. Die Information, dass er nach Brüssel versetzt worden ist, hatte aber meine Neugier geweckt, welche Aufgabe er dort hatte. Grund dafür war der Umstand, dass Henri Hinrichsen, der Stifter der Henriette-Goldschmidt-Schule, die ich 25 Jahre, von 1992 bis 2017 geleitet habe, 1942 in Brüssel verhaftet, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden ist. 

Hochschule für Frauen 1920. (2)
Hochschule für Frauen 1920. (2)

Demütigung und Entrechtung

Der Musikverleger Henri Hinrichsen war nicht nur ein erfolgreicher Unternehmer, sondern gehörte zu den herausragenden Stifterpersönlichkeiten Leipzigs. Erika Bucholtz hat das verlegerische Wirken Hinrichsens umfassend in ihrer Dissertation (2000) dargestellt. Das Kapitel „Stiftungen und Schenkungen“ füllt mehr als 50 Seiten. Seine und die Schenkungen sowie Stiftungen von Max Abraham, seinem Onkel, wurden in den „Leipziger Blättern“ (Ausgabe 53/2008) von Katrin Löffler gewürdigt. Sie hob drei „Großprojekte“, die Musikbibliothek Peters, die Hochschule für Frauen, später Sozialpädagogisches Frauenseminar, die heutige Henriette-Goldschmidt-Schule [Abb. 2], und das Musikinstrumentenmuseum besonders und berechtigt hervor. Die Philosophische Fakultät der Universität Leipzig ernannte Henri Hinrichsen aufgrund seiner Verdienste am 29.05.1929 zum Ehrendoktor.

All das sollte mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten am 30.01.1933 nicht mehr gelten.

Die Ausgrenzung begann unmittelbar. Hinrichsens Stiftung zur Aufrechterhaltung einer ordentlichen Professur für Musikwissenschaft an der Universität Leipzig wurde im März 1933 zurückgewiesen, bis dahin scheinbar vertraute Kollegen in Berufsverbänden wahrten Distanz zum „nichtarischen“ Verlag, Komponisten wollten nicht mehr bei Edition Peters verlegen lassen. Durch ein Bittgesuch bemühte sich der Verlag um Aufnahme in die Gema-Betriebszelle, um eine „zweitrangige“ Behandlung zu verhindern, betonte seine nationale Gesinnung und erlag dem Irrtum, dass es die nationalsozialistische Regierung beeindrucken würde, wenn die internationalen Partner davon Kenntnis erhielten, dass der Verlag „offiziell von der Regierung an der Mitarbeit und der Wiederaufbau-Arbeit von Deutschland ausgeschaltet wird“.(1) Henri Hinrichsen wollte es nicht glauben – und griff auf eine seltsam anmutende Argumentation zurück, „dass es im Sinne der Regierung Adolf Hitlers ist, wenn Staatsbürger jüdische Glaubens [...] in den gleichen Topf mit jenem entwurzelten internationalen Judentum geworfen werden, das für die ausserordentliche Zuspitzung in der Judenfrage mit verantwortlich ist.“(2)

Das Sozialpädagogische Frauenseminar beteiligte sich auf kommunaler Ebene an Hinrichsens Ausgrenzung, er wurde „aus dem öffentlichen Leben und Bewußtsein“ der Schule gezielt verdrängt. Die von Seffner geschaffene Goldschmidt-Marmorbüste wurde 1933 aus dem Treppenhaus entfernt, ein Porträtgemälde Hinrichsens aus der Aula, das durch ein Hitler-Bild ersetzt wurde. Hinrichsen fand dies „durchaus am Platze, gehört doch in die Aula jeder Schule ein Bild von Adolf Hitler“.

 

Er verwahrte sich jedoch gegen einen auf das „Führer“-Bild gemaltes Zitat aus „Mein Kampf“, das die Dolchstoßlegende im Ersten Weltkrieg beinhaltete, in dem die Juden als „Ungeziefer“ bezeichnet wurden, die als „verräterische Burschen [...] am höchsten Galgen hängen“ müssten.(3) Das Bild wurde auf Anweisung von Oberbürger-meister Goerdeler zwar ausgetauscht, mit Hinrichsen dann die Vereinbarung getroffen, zu Schulveranstaltungen zwar eingeladen zu werden, diesen Einladungen aber nicht mehr zu folgen. 1938 wurde die Goldschmidt-Büste gänzlich aus dem öffentlichen Raum entfernt. Sie überdauerte den Krieg, kam danach auch wieder zur Aufstellung, wurde laut Annerose Kemp dann in der DDR-Zeit in den Keller gebracht, da die Nase abgeschlagen worden war, und schließlich in einer Aufräumungsaktion vom Hausmeister in den Müll entsorgt. Hinrichsens Porträt-Gemälde wurde ihm 1938 zugestellt, ebenso eine im Schulhaus angebrachte Bronze-Plakette, die den Stifter des Hauses ehrte, der das Haus „Dem edlen Streben deutscher Frauen“ gewidmet hatte.

Bereits 1933 konnten Hinrichsens kein Theateranrecht mehr erwerben. Gewissermaßen in Vorbereitung auf den Reichsparteitag 1935, auf dem die „Nürnberger Gesetze“ verkündet wurden, wurde Leipziger Juden in jenem Jahr der Besuch von Frei- und Hallenbädern und der Zugang zum Rosental verboten, ebenso der Besuch von Theater- und Kinoveranstaltungen sowie von Konzerten und Vorträgen. „Nichtarische“ Musiker wurden aus der Reichsmusikkammer ausgeschlossen, jüdische Verleger und Buchhändler aus der Reichsschrifttumskammer, was einem Berufsverbot gleichkam. Die Söhne Walter und Max zogen die Konsequenzen, der erste emigrierte 1936 in die USA, der zweite 1937 nach England (4). Martha Hinrichsen wurde am 24.12.1938 der Zwangsvorname „Sara“ beigefügt, Henri Hinrichsen am 25.01.1939 der Zwangsvorname „Israel“(5). Zu diesem Zeitpunkt war die „Arisierung“ des Verlages, also der erzwungene Verkauf zu einem deutlich unter dem Wert liegenden Preis, längst im Gang, er wurde am 22.07.1939 (6) vollzogen. Schon nach dem Novemberpogrom waren Henri Hinrichsen in „Schutzhaft“ genommen und der in Deutschland verbliebene Sohn Hans-Joachim in das KZ Sachsenhausen(7) überführt worden. Beide wurden nach dem Attentat von Georg Elser auf Hitler am 08.11.1939 erneut inhaftiert, Henri Hinrichsen in der Leipziger Wächterstraße bis zum 19.12.1939.(8) Hatte Henri Hinrichsen bis dahin daran festgehalten, wie er im Juni 1933 auf die Frage geantwortet hatte, ob er in Deutschland bleiben werde, „die selbstverständliche Antwort gab, dass etwas anderes gar nicht in Frage kommt“(9), wurde nunmehr intensiv an der Auswanderung gearbeitet. Sie rettete das Leben von Martha und Henri Hinrichsen, auch des Sohnes Hans-Joachim nicht mehr.

Nachdem ihnen ihr Eigentum genommen worden war, nahm man ihnen schließlich auch das Leben. Henri Hinrichsen geriet in das Räderwerk der Vernichtungsmaschine, so wie 14 weitere Familienmitglieder. Ein Vorgang, der bürokratisch vorbereitet und kaltherzig durchgeführt wurde, in dem das Funktionieren vieler kleiner „Rädchen“ notwendig war, damit die Maschine „reibungslos“ funktioniert.

Die Konstruktion des ersten Teils dieser Maschine erfolgte unweit der Reichsmessestadt Leipzig in der kleinen Heidestadt (Bad) Düben, dem „Tor zur Dübener Heide“, die für Familie Hinrichsen so wie für viele Leipziger eine Bedeutung als Ausflugs- und Erholungsort hatte.

Der Schwarze Adler in Düben. (3)
Der Schwarze Adler in Düben. (3)

„Die grüne Lunge“ vor den Toren Leipzigs und des Industriegebietes Bitterfeld-Leuna war ein begehrtes Naherholungsgebiet geworden. Für die jüdische Bevölkerung änderte sich ab 1933 auch dies.

Ab 1935 verweigerten Gaststätten im Kreis Bitterfeld die Bedienung jüdischer Gäste. Der „Schwarze Adler“ in Düben war das letzte Restaurant im Kreis, das dies nicht tat. [Abb. 3] Sein Besitzer, „ein Wirt namens Gleisner“ wurde am 16.07.1935 im Bitterfelder Kreisblatt dafür öffentlich angeprangert.(10) Vielleicht spielte verständliches geschäftliches Interesse eine Rolle. Auf jeden Fall muss einiger Mut dazugehört haben, letztlich ist aber davon auszugehen, dass sich der „Adler“ dem Druck beugte.

Die Wälder der Dübener Heide wurden 1936 durch den Verein „Dübener Heide“ zum „deutschen Wald“ und „Heiligtum des deutschen Volkes“ erklärt und die wichtigsten Wanderwege entsprechend ausgeschildert.(11) Naheliegend ist, dass damit die jüdischen Bürgerinnen und Bürger vom Besuch der Heide ausgeschlossen waren.

 

Hermann Horlitz – von Düben nach Smolensk und Brüssel

Düben erlangte so wie Bad Schmiedeberg und Pretzsch Bedeutung im Rahmen der Ermordung der jüdischen Bevölkerung, als im ersten Halbjahr 1941 in den drei Heidestädten vier Einsatzgruppen aufgestellt und ausgebildet wurden, deren Hauptaufgabe darin bestand, im „Osten“ die „Endlösung der Judenfrage“ durch Erschießung jüdischer Männer, dann auch von Frauen und Kindern umzusetzen.

Eine Meldung vom 04.05.1941 der „Mitteldeutsche National-Zeitung“, Ausgabe Bitterfeld, aus der Heidestadt Düben klang harmlos, dass nämlich der „hiesige Standort der SS [...] im Kurhause mit den Angehörigen der Kameraden einen Kameradschaftsabend (veranstaltete)“. Ein Teilnehmer des Kameradschaftsabends war der im „SS-Lager Düben“ untergebrachte Berufsschuldirektor Hermann Horlitz mit seiner Ehefrau Hildegard Horlitz. Sie war vom 03. bis 12.05.1941 eigens aus Königsberg angereist, wo Horlitz eine Berufsschule geleitet hatte. Beide ließen es sich gut gehen, mieteten im Zeitraum vom 03. bis 05.05.1941 im Gästehaus Uhlmann eine Privatunterkunft und nutzten das ortsansässige Kurbad für entspannende Moorbäder. Der Kameradschaftsabend mit „von den Kameraden gestaltete(m) Programm“ einschließlich „SS-Orchester“(12) diente der Herstellung von kameradschaftlichen Beziehungen der Angehörigen der Einsatzgruppen D und B, zu der Horlitz gehören sollte, die in Düben auf ihren Einsatz in der Sowjetunion vorbereitet wurden.
Der am 19.03.1904 in Fürstenberg an der Oder geborene und zum Lehrer ausgebildete Horlitz war spätestens seit 1934 SS-Mitglied, am 01.05.1937 auch NSDAP-Mitglied geworden. Nach Kriegsbeginn wurde er als Mitglied der Allgemeinen SS zum 12. SS-Infanterieregiment, dann für kurze Zeit entlassen und erneut im Januar 1941 zum SS-Ersatz-Bataillon eingezogen. Zweimal bemühte er sich, durch „UK-Stellung“ auf seine Schulleiterstelle nach Königsberg zurückzukehren, vergebens. Im Krieg gegen die Sowjetunion wurde jeder Mann gebraucht. Horlitz wurde nach dem 22.06.1941 als Mitglied der Einsatzgruppe B „von Düben aus“ über Warschau nach Bialystok verlegt, wo die Einsatzgruppe „spätestens am 1. Juli“ eintraf. Dort fanden erste Erschießungsaktionen statt, später auch in verschiedenen Orten Weißrusslands und Russlands. Horlitz hatte Kenntnis von diesen Vorgängen, ob er daran beteiligt war, ist nicht nachweisbar und auch nicht Gegenstand dieser Darstellung. Über Minsk, Mogilew und Gomel wurde schließlich Smolensk erreicht. 

Da er „in die Maschine schreiben“ konnte, wurde Horlitz Mitglied des Gruppenstabs der EG B. Sein Vorgesetzter EG-Leiter Artur Nebe diktierte ihm die Zahl der Ermordeten als „Ereignismeldungen“, die an das Reichssicherheitshauptamt Berlin gefunkt wurden, und Einsatzbefehle für die einzelnen Einsatz- und Sonderkommandos. Horlitz wusste also genau, was seine „Kameraden“ täglich taten, zudem wusste man von aus Auschwitz zurückkehrenden Waffen-SS-Reservisten, die zeitweise zur Bewachung des KZ abkommandiert waren, dass in Auschwitz die Massentötung von Juden durch Vergasung durchgeführt wurde.
Nach seiner Verwendung bei der Einsatzgruppe B wurde Hermann Horlitz im Sommer 1942 für zwei Jahre nach Belgien zum „Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD“ (BdS) in Brüssel versetzt. Seine Aufgaben beim Gruppenstab der EG B übernahmen zwei Stenotypistinnen, sie fassten nun die Zahl der Ermordeten in die berüchtigten Ereignismeldungen zusammen.

Als Zeuge beim Prozess gegen den Leiter des „Judenreferats“ von Brüssel, Kurt Asche, in Kiel 1980/81 sagte er als Zeuge aus, dass er beim BdS „in der Personalabteilung tätig (war). Ich hatte dort die Aufgabe, eine Wachkompanie aus Walonen und Flamen aufzustellen.“(13) Danach war er „so eine Art Spieß“ der Wachkompanie. „Die Wachkompanie bewachte die zum BdS gehörenden Gebäude und das Lager in Mechelen. Ich selbst war einmal in Mechelen. Mechelen war ein Judensammellager. [...] Das Lager war gefüllt mit Menschen. [...] Die Flamen haben die Züge bis zur Grenze des Reiches begleitet. [...] Von den Flamen wußte ich, daß die Juden nach Auschwitz kamen.“(14) Die Wachkompanie stellten auch die Begleitmannschaften für die Überführung der in Brüssel aufgegriffenen Jüdinnen und Juden in das „Judensammel- und Durchgangslager für den gesamten Bereich des Militärbefehlshabers für Belgien und Nordfrankreich“ von Mechelen (Malines), die per Lastwagen erfolgte.(15) Es sei angemerkt, dass diese Aussage von Horlitz eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Verurteilung von Kurt Asche gespielt hat, der sich damit entlasten wollte, dass er nicht gewusst habe, wohin die von ihm deportierten Jüdinnen und Juden gebracht wurden und was mit ihnen geschah.

Judenvereinigung Brüssel. (4)
Judenvereinigung Brüssel. (4)

Henri Hinrichsen – von Leipzig nach Brüssel

Einer der in Brüssel „aufgegriffenen“ Juden war der Leipziger Musikverleger Dr. h.c. Henri Hinrichsen. Er hatte Leipzig mit seiner Frau erst Ende Januar 1940 völlig mittellos(16) verlassen können, sie trafen am 30.01.1940 in Belgien(17), am 07.03.1940 in Brüssel ein(18) und bezogen ein Zimmer in der Rue des Suisse 21.(19) [Abb. 4]

Mit ergreifenden Worten hat seine Enkelin Irene Lawford-Hinrichsen bei ihrem wiederholt gehaltenen Vortrag in der Henriette-Goldschmidt-Schule Leipzig beschrieben, wie „dieser arme alte Mann mit seiner Frau und nur einem Koffer in einer Nacht heimlich aus seinem Haus geschlichen“ ist. Sohn Walter finanzierte den Lebensunterhalt.(20)

 
Zwangsregistrierung im "Judenregister". (5)
Zwangsregistrierung im "Judenregister". (5)

In Belgien hoffte Henri ein Leben mit 72 Jahren beginnen“(21) zu können und auf ein Visum aus England, wo sein Sohn Max Edition Peters London, bzw. aus den USA, wo sein Sohn Walter C.F. Peters Corporation New York gegründet hatte. Diese Visa trafen nie mehr ein, seine Frau Martha verstarb am 07.10.1941, da sie als Jüdin das lebensnotwendige Insulin nicht mehr erhielt, nachdem die deutsche Wehrmacht Belgien besetzt hatte.

Es folgten Schritte der bürokratischen Vorbereitung des Massenmords. Nach dem 15.10.1941 musste sich Hinrichsen bei der der „Association des Juifs en Belgique“, „Joden Vereeniging in Belgie“ registrieren lassen. Er wurde als „Deutscher“ und ohne den Zwangsvornamen „Israel“ in das Register mit der Nummer 6093 eingetragen(22). Bei der Eintragung in das „Registre des Juif“, „Jodenregister“ vom 27.11.1941 wurde die Nationalität von Henri „Israel“ Hinrichsen „allemande“, also „deutsch“ gestrichen und durch „apatride“, „staatenlos“ ersetzt. Er wohnte laut dieser Erfassung in der Rue St. George 109, dann in der Avenue de l’Hippodrome 76(23). [Abb. 5]

Ab 07.06.1942 waren alle Jüdinnen und Juden in Belgien ab dem sechsten Lebensjahr zum Tragen des „sichtbar auf der linken Brustseite des Kleidungsstückes“ festaufgenähten „Judensterns“, einem „handtellergroßen, schwarz ausgezogenem Sechsstern aus gelbem Stoff mit der schwarzen Aufschrift ‚JUIF‘“ verpflichtet.

In einer von Adolf Eichmann am 11.06.1942 in Berlin durchgeführten Besprechung wurde hinsichtlich der Deportation der in den „besetzten Westgebieten“ befindlichen Jüdinnen und Juden für Belgien die Anzahl von 10.000 Menschen festgelegt. In dem Vermerk vom 15.06.1942 waren „Juden beiderlei Geschlechts zwischen 16 und 40 Jahre“ zu deportieren, „10% nicht arbeitsfähige Juden können mitgeschickt werden“. Ab dem 13.07.1942 sollen die Transporte – wöchentlich ca. 3 – abrollen.“(24)

Sipo-Gebäude Brüssel. (6)
Sipo-Gebäude Brüssel. (6)

Verhaftung

Henri Hinrichsen wurde bei einer der „kleinen“ täglichen „Judenrazzias“ oder bei der „Großaktion Iltis“ in der Nacht vom 03.09., 23 Uhr, zum 04.09.1942, 06 Uhr, in Brüssel verhaftet, an der auch „28 Mann vom Wachzug“ teilnahmen. „6 weitere Männer des Wachzuges“ waren für die „Sonderbewachung der Juden im Gebäude 510“ eingeteilt.(25)

Das genaue Datum seiner Verhaftung ist aufgrund fehlender Unterlagen nicht bekannt. Sie muss wenige Tage vor dem 12.09.1942 erfolgt sein. An diesem Tag wurde sein Name von der Organisation „ausländische Juden“, „Israëlites étrangers“, einer Liste beigefügt, die an die ehemalige belgische Königin Elisabeth mit der Bitte gesandt wurde, sie möge erwirken, dass diese Personen aus der Haft entlassen werden, um sie so vor der Deportation zu bewahren.(26)

Es kann davon ausgegangen werden, dass Henri Hinrichsen in das von der Wachkompanie bewachte Kellergefängnis im Sipo-Gebäude Brüssel [Abb. 6] verbracht worden ist. „Jeweils zehn bis 15 Juden, Frauen und Kinder, wurden in acht bis zehn Quadratmeter großen Zellen zusammengepfercht.“(27) Es ist nicht nachweisbar, aber vorstellbar, dass sich die beiden Männer, Henri Hinrichsen und Hermann Horlitz, bei der Einlieferung in das Gefängnis, während der Inhaftierung oder bei der Überstellung Hinrichsens in das „Judensammellager“ begegnet sind.

 

 

Sammellager Mechelen. (7)
Sammellager Mechelen. (7)

 

Ermordung

Henri Hinrichsen wurde am 14.09.1942 per LKW nach Mechelen [Abb. 7] gebracht und gehörte als Häftling 901 zum X. Transport. Dass er eigentlich nicht für diesen Transport vorgesehen war, wird durch die Tatsache belegt, dass ein Papierstreifen mit seinem Namen und mit Angaben zu seiner Person auf die Transportliste aufgeklebt worden ist. [Abb. 8] Der Transport verließ Mechelen am 15.09.1942 und umfasste 1048 Menschen: 534 Männer und Jungen, 514 Frauen und Mädchen. Am 17.09.1942 traf der Transport in Auschwitz ein, 717 Deportierte wurden nicht registriert, somit sofort nach Ankunft durch Vergasung ums Leben gebracht. Nur 15 Männer und zwei Frauen dieses Transports, das waren 1,6%, haben überlebt.(28)

Transportliste. (8)
Transportliste. (8)

Das Leben des Musikliebhabers, Mäzens und Familienvaters Henri Hinrichsen endete mit 74 Jahren grausam in einer Gaskammer, sein Leichnam wurde eingeäschert, seine Asche in einem der Tümpel im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau versenkt. So wie Millionen andere hat er kein Grab.

Es ist 80 Jahre her und darf nicht vergessen werden.

 

Fußnoten

(1) Bucholtz,E.: Henri Hinrichsen und der Musikverlag C. F. Peters . Deutsch - jüdisches Bürgertum in Leipzig von 1891 bis 1938, Tübingen 2001, S. 289.

(2) Ebenda, S. 290.

(3) Ebenda, S. 293.

(4) Vgl. ebenda, S. 300.

(5) Vgl. ebenda, S. 301.

(6) Ebenda, S. 303.

(7) Ebenda, S. 301.

(8) Ebenda, S. 309.

(9) Ebenda, S. 287.

(10) Vgl. Sie wollen nichts vom Deutschen wissen. In: Bitterfelder Kreisblatt vom 16.07.1935.

(11) Vgl. Schütze den deutschen Wald! Mahnwort des Vereins Dübener Heide. In: Heimatkalender für den Kreis Bitterfeld 1940. Herausgegeben vom Verein für Heimatkunde des Kreises Bitterfeld und der Arbeitsgemeinschaft für Heimatpflege im Kreise Delitzsch. Druck und Verlag Paul Streubel in Düben, S. 38.

(12) Vgl. Düben. Kameradscha􀅌sabend der SS. In: Mitteldeutsche National-Zeitung vom 04.05.1941.

(13) Vgl. Landesarchiv Schleswig-Holstein (LASH), Abt. 352.3, Nr. 17560, Blatt 3046.

(14) Vgl. LASH, Abt. 352.3, Nr. 17560, Aussage vom 19.01.1981, o.S. (Blatt 1).

(15) Vgl. von Fransecky, T.: Die Wachmannschaften der Deportationszüge. Frankreich, Belgien und die Niederlande. In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte. Hrsg. vom Deutschen historischen Institut Paris. Band 42 (2015), Jan Thorbecke Verlag, Ostfildern 2015, S. 218.

(16) Buchholtz, S. 308.

(17) Vgl. Registerkarte Henri Hinrichsen vom 27.11.1940, Jüdisches Museum Belgien - Brüssel.

(18) Buchholtz, S. 309 f.

(19) Vgl. Registerkarte Henri Hinrichsen vom 27.11.1940, A.a.O.

(20 Buchholtz, S. 310.

(21) Zitiert nach: A.a.O., S. 309.

(22) Vgl. Registerkarte Henri Hinrichsen nach dem 15.10.1941 (o.D.). Service Archive for War Vic􀆟ms – National State Archive Brüssel.

(23) Vgl. Registerkarte Henri Hinrichsen vom 27.11.1940, A.a.O.

(24) Zitiert nach: Dokumente. Der Asche-Prozeß. hrsg. vom Arbeitskreis Asche-Prozeß. Kiel 1985, S. 70.

(25) Vgl. Dokumente. Der Asche-Prozeß. A.a.O., S. 75 f.

(26) Vgl. Mitteilung von Gunter Vandeplas, Muzeum Dossin Mechelen, E-Mail vom 18.07.2022.

(27) Kurt Asche: „Ich habe nie geschlagen“. In: Kieler Nachrichten vom 09.12.1980, S. 13. Zitiert nach: Dokumente. A.a.O., S. 93.

(28) Dokumente. Der Asche-Prozeß. A.a.O., S. 79.

Verzeichnis der Abbildungen

Dr. Eberhard Ulm: Kameradschaftsabend und Massenmord.

 

  1. Henri Hinrichsen 1928, Edition Peters Leipzig.

 

  1. Hochschule für Frauen Leipzig, etwa 1920, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Inv.Nr. F/9052/2005.

 

  1. Hotel Schwarzer Adler Düben. Im Besitz von Tim Gleißner, Bad Düben.

 

  1. Wohnanschrift Rue de Suisse 21, Brüssel. Service Archive for War Victims. National State Archive Brüssel.

 

  1. Zwangsregistrierung im "Judenregister" 27.11.1940, Jüdisches Museum von Belgien, Brüssel.

 

  1. Gestapo Hauptquartier Avenue Louis 453 Brüssel (1937), Stadt Brüssel, Monument Heritage Brüssel.

 

  1. Juden-Sammellager“ Mechelen, Museum Kazerne Dossin Mechelen Belgien.

 

  1. Transportliste mit Henri Hinrichsen. Service Archive for War Victims. National State Archive Brüssel.

 

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