... bin ich trotz des Schocks und der Trauer nicht um den Schlaf gebracht. Denn Erinnerungen sind eine Macht. Ich denke an die Newa, ich denke an Lena – unsere Dolmetscherin mit den großen braunen Augen und den naturblonden Haaren - und denke an das Antiquariat, in dem ich in deutschen Büchern stöbern konnte. Und ich sehe den Reigen von Henri Matisse in der Ermitage. Alles damals im September 1973 in Leningrad. Heute St. Petersburg. Ich war 21 Jahre alt. Student in Leipzig. Lena erzählte von ihrem Großvater, der im Großen Krieg in deutsche Gefangenschaft geraten und nach der Rückkehr unter Stalin noch einmal in ein Lager gesteckt wurde. Denke ich an Russland in der Nacht, denke ich an den Flug nach Irkutsk über die Weiten und die Wälder Sibiriens hinweg. An den Studentensommer 1976 in einem Eisenerztagebau. Da war ich bereits Assistent der Philosophie an der Bergakademie in Freiberg. Beim Rückflug Station in Nowosibirsk und Besuch im Wissenschaftlerstädtchen.
Denke ich an das russische Riesenreich, kommt mir der 1. Mai 1985 in den Sinn. Der Neue – Michail Gorbatschow - stand oben auf der Tribüne. Ich lief unten mit einer großen Papiernelke. Mit dem Spruch auf den Lippen: "Es leben die sowjetischen Frauen!" Dabei dachte ich an die Soziologin und Philosophin Raissa Gorbatschowa, aber auch an Katja, die Russisch-Spanisch Dolmetscherin an unserem Institut für Weiterbildung in Moskau. Sie begleitete mich, als ich einen Artikel in der Redaktion der Zeitschrift für Fragen der Philosophie ablieferte. Ein Aufsatz, in dem das Thema "Lenin und die Naturwissenschaften" abgehandelt wurde. Während die russischen Kolleginnen und Kollegen in der Philosophie längst wieder bei Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Eduard Gans unterwegs waren, fahndete ich in Moskauer Archiven nach Lenins Exzerpten in Schweizer Bibliotheken. Meine russischen Kolleginnen und Kollegen lächelten über mich, den Sonderling aus Deutschland von der Karl-Marx-Universität in Leipzig. Denn sie blickten längst in den Westen und lernten munter Englisch und studierten alle möglichen modernen Philosophien, darunter vor allem handfeste Sprachphilosophie.
In Moskau 1985 war Aufbruchsstimmung. Ich war 33 Jahre alt. Die Losungen vom Aufbau des Kommunismus wurden abgebaut. Die Spitzen der Intelligenz erlebte ich als weltbürgerlich, als kritisch, als weitaus spannender als zu Hause in der DDR. Die Russen wollten die Öffnung gen Westen, die Gorbatschow dann auch in Taten umgesetzt hat. Im Institut für Geschichte der Naturwissenschaften an der Akademie der Wissenschaften in Moskau arbeiteten tüchtige russische Historiker für ein amerikanisches Journal an einer Studie über die Rezeption der Theorien Albert Einsteins in Russland und in der Sowjetunion. Denke ich an Russland in der Nacht, dann bin ich sehr, sehr traurig, dass ich seit 1985 nicht wieder in Moskau im Puschkin-Museum weilen und Die roten Weingärten von Vincent van Gogh und Die Königin von Paul Gaugin mit Freunden oder mit meiner Frau bewundern konnte.
Was mir in diesen Tagen im März 2022 mit jetzt 70 Jahren wirklich Angst und große Sorge macht, dass sind nicht die Russen, dass ist vielmehr dieser eine Wladimir Putin. Der Mann, der meine sächsische Heimat und die Wucht freiheitlicher Demonstrationen gegen erstarrte Betonköpfe aus eigenem Erleben eigentlich kennt, der aber heute die Welt erst belogen und dann am letzten Donnerstag im Februar 2022 den gewissen- und geistlosen Überfall auf die Ukraine befohlen hat. Sein Krieg gegen das Bruderland Ukraine ist ein Krieg gegen Russland. Ein Krieg, in dem Putin junge Russen verführt und gnadenlos verheizt. Ein Krieg, der sich gegen die Unabhängigkeit und den Freiheitsgeist der Ukrainer richtet. Denn: Etwa die Hälfte der Bürger der Ukraine sind Russen, die keineswegs alle, wie die Warlords im Donbass, heim ins Reich wollen. Ich erblicke in den Alpträumen der Nacht einen Krieg, mit dem Putin vor allem auch dem eigenen Land die Luft der Freiheit entziehen will. Der Krieg gegen die Phantasie und die Unabhängigkeit der Ukraine ist allein ein Krieg des Wladimir des Unbelehrbaren und nicht der Krieg der russischen Bevölkerung. Putin hofft durch Krieg vor allem auch den Willen zur Demokratie und die zivilgesellschaftlichen Bestrebungen der Russinnen und Russen von St. Petersburg über Nowosibirsk bis Wladiwostok begrenzen, beschneiden und brechen zu können. Er glaubt, seine autokratische, wirklichkeitsvergessene und rücksichtlslose Diktatur, für die er von seinen Kumpanen in Tschetschenien und von dem Kriegsherrn in Weißrussland bewundert und hofiert wird, mit roher und zynischer Gewalt zementieren zu können. Ich schreie den einen Satz still vor mich hin, denke ich an Russland in der Nacht, den auch die Mütter und Frauen von gefallenen russischen Soldaten aussprechen: Keinen Krieg! Nieder mit Putins Krieg!
Ich bete und hoffe, denke ich an Russland in der Nacht: Ukrainer und Russen beendet bald, bald, bald mit vereinter Kraft Wladimir Putins verbrecherische Unterdrückungsorgie! Denke ich an Russland in der Nacht, vertraue ich auf die demokratische Kraft der russischen Menschen, die im Angesicht einer durch Putin herausgeforderten und empörten Welt, kein Bächlein bleiben, sondern zum Strom von sibirischem Format anschwellen wird. Denke ich an Russland in der Nacht, bin ich bei aller Sorge durch meine Erinnerungen und durch meine Gespräche mit vielen anderen Menschen, die Putins Angriff auf die Ukraine auch als Angriff gegen das eigene Volk und damit gegen jede Demokratie deuten, gerade nicht um den Schlaf gebracht. Wir werden es sehen und werden es schaffen, wenn wir aufstehen: Aus Bächen können Flüsse und aus Flüssen kann ein starker Strom der Wahrheit und Freiheit erwachsen, der Putin vor ein internationales Gericht zu spülen vermag. Deshalb ist auch der Hang zur unterschiedslosen Ausgrenzung aller russischen Sportler, Künstler und Wissenschaftler in meinen Augen gerade keine gute Idee. Das ursprünglich altgriechische Wort δημοκρατία für die deutsche Vokabel Demokratie oder für die französische Version démocratie hat auch im Russischen einen sehr guten, weil weiblichen Klang: Demokratija! Демократия! - Meine ersten Vorfrühlingsaquarelle 2022 widme ich den vielen, vielen Menschen in der Ukraine und in Russland, die im Gegensatz zu Putin keinen Krieg wollen, die unter ihm leiden und die gegen ihn kämpfen!
03. März 2022
Bildnachweis
(1) Bundesarchiv, Bild 183-1989-1007-433 / CC-BY-SA 3.0
Berlin, Verabschiedung Michail Gorbatschow
Berlin: 40. Jahrestag Der Generalsekretär des ZK der KPdSU, Michail Gorbatschow, der mit seiner Gattin Raissa aus Anlaß des 40. Jahrestages der DDR in Berlin weilte, trat am Abend den Rückflug nach Moskau an. Herzlich wurden die Gäste auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld verabschiedet.
(2) Vincent van Gogh: Roter Weinberg, Arles, 4. November 1888 via Wikimedia, gemeinfrei
(3) Edvard Munch: Der Schrei der Natur. Via Wikimedia, gemeinfrei
(4) Text des Artikels 1 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte an der Außenwand des österreichischen Parlamentsgebäudes in Wien
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