Der bedeutende Leipziger Bankier und Ratsherr Eberhard Heinrich Löhr (1725—1798) hatte in den Jahren 1777/1778 an der Südseite seines einige Zeit zuvor begonnenen großen Gartens im englischen Stil vom namhaften Baumeister Johann Carl Friedrich Dauthe (1746—1816), der „zu den begabtesten und eigenartigsten Vertretern des Klassizismus, die Deutschland hervorgebracht hat“1 zählte, ein prächtiges Wohnpalais errichten lassen. Dieses klassizistische Palais sollte nach seiner Veräußerung am Ende des 19. Jahrhunderts das Herzstück des künftigen Hotels „Fürstenhof“ werden, das sich nach baulichen Veränderungen dann ganz in den Formen des Historismus zeigte.
Ein
weiterer Besitzerwechsel brachte den „Fürstenhof“ in die Hand
des Leipziger Kaufmanns
Armin Fischer-Brill, der durch erneute Umbaumaßnahmen in den Jahren
1911 bis 1913 dem Hotel seine noch heute bestehende Architektur
verlieh. Allerdings
verstarb Paul Guido Arminius Fischer-Brill am 07. Februar 1913 im
Alter von erst 58 Jahren, und drei Tage später wurde sein Leichnam
auf dem Neuen
Johannisfriedhof in der VII. Abteilung im familiären Erbbegräbnis
N0. 125 beerdigt.
Der Rechtsanwalt des Verstorbenen war der renommierte Leipziger
Jurist Curt Hillig, der nunmehr den Verkauf des Hotels „Fürstenhof“
auf den Weg bringen sollte. Wenige Tage nach Beendigung der
Feierlichkeiten zum 100-jährigen Jubiläum der
Leipziger Völkerschlacht unterbreitete am 23. Oktober 1913 der
Münchner Mathias Erwig dem Rechtsanwalt Hillig eine wohl angemessene
Offerte für den Kauf des Hotels. Und am O8. November 1913 wurde der
Kaufvertrag geschlossen - zum Preis von 1. 200. 000 Goldmark, wovon
100.000 Goldmark für das Inventar galten.
Der
Vertrag belegte aber auch die prekäre finanzielle Situation des
verstorbenen Eigentümers
Armin Fischer-Brill, denn sehr zahlreich erlangten während des
Umbaus des
Hotels beteiligte Lieferanten und Handwerksfirmen
Grundschuldeinträge in das Grundbuch, so dass wohl auch durchaus von
einem Notverkauf gesprochen werden
kann.
Mathias Erwig eröffnete wenig später die noble Herberge als „Erwig’s Hotel Fürstenhof Leipzig“ und führte fortan dieses Haus in die Spitzenklasse der Branche.
Wer aber war dieser so vermögende Mathias Erwig?
Geboren wurde Peter Mathias Erwig am 23. Dezember 1873 im rheinländischen Mühlheim an der Ruhr, das seinerzeit zu Preußen gehörte. Er wurde katholisch getauft, was dafür spricht, dass zumindest auch sein Vater ein gebürtiger Rheinländer war. Dann führt seine Spur nach München, wo er um das Jahr 1900 im „Bamberger Hof“, dem feinsten Münchner Hotel, als Oberkellner arbeitete. Dieses Hotel gehörte der altansässigen Familie Ohlwerther, die über Jahre auch den berühmten „Löwenbräukeller“ und die Gastronomie des Münchner Hauptbahnhofes bewirtschaftet hatte, ein Umstand, der ihnen eine beachtliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Reputation verschaffte. In dieses Münchner Gastwirtsimperium der Familie Ohlwerther wurde Mathias Erwig aufgenommen, als er am 26. Februar 1902 in der Münchner Bonifatiuskirche die 21jährige Gastwirtstochter Rosa Clara Johanna Ohlwerther heiratete.
Und es verging kein Jahr, da wurde die nunmehrige Rosa Erwig am 01. Feruar 1903 in Nürnberg von einer Tochter entbunden, die man auf den Namen Margarete taufte. Durch die Protektion der einflussreichen Familie Ohlwerther wurden Mathias Erwig und seine Frau Rosa am 30. Dezember 1903 die Pächter des berühmten Münchner Löwenbräukellers, der zur damaligen Zeit einer Goldgrube glich. In diese guten Jahre fiel dann 1905 die Geburt des zweiten Kindes der Eheleute Erwig, der Tochter Rosa Maria.
Bis
zum Herbst 1911 hatten die Eheleute Erwig mit dem Löwenbräukeller
weit über
eine Millionen Goldmark verdient, und als sich dann im Jahre 1913 in Sachsens
Metropole Leipzig die Möglichkeit bot, das Hotel „Fürstenhof“
zu kaufen, zahlten
die Eheleute dafür 1.150.000 Goldmark baren Geldes. Die
fehlenden 50.000 Goldmark steuerte die Schwiegermutter des Mathias
Erwig bei,
wobei sie dieses Darlehn durchaus mit einem entsprechenden
Hypothekeneintrag sicherte.
Und
genauso ertragreich, wie seinerzeit das Geschäft im Münchner
Löwenbräukeller war, so außerordentlich üppig entwickelten sich
fortan auch die Erträge von
„Erwig’s Hotel Fürstenhof Leipzig“.
Ende
1913 wurde den Eheleuten endlich der ersehnte Sohn Curt geboren.
Die
familiäre Welt der Erwigs war in Ordnung, die Geschäfte wurden
solide betrieben und die Ehefrau Rosa, die im Milieu des Bamberger
Hofes groß geworden war, beherrschte als Patronin den Betrieb des
feinen Hotels perfekt in allen seinen Bereichen. Aber
man leistete sich auch ein Leben im Luxus der Zeit, unternahm
kostspielige Reisen im In- und Ausland, besonders Mathias Erwig
genoss ausgiebig den Wohlstand, den das Schicksal ihm gewährte.
Steuerunterlagen
aus jenen Jahren belegen einen beständigen Zuwachs des familiären
Vermögens.
Am 21. Dezember 1935 aber starb die Ehefrau Rosa im Alter von erst 55 Jahren.
Ihr Begräbnis fand am Heiligabend, einen Tag nach dem 62. Geburtstag von Mathias Erwig, in der XXIII. Abteilung des Südfriedhofes in der neu erworbenen Wahlstelle No. 358 statt, die Mathias Erwig am gleichen Tage für 3.600 Reichsmark für ein Jahrhundert löste. Im Frühjahr 1936 veranlasste der Witwer die Anpflanzung diverser Gehölze samt Blumen auf der Grabstätte, wofür er die stattliche Summe von 700 Reichsmark zahlte.
Wenig später dürfte das prächtige bronzene Grabkreuz auf der Grabstätte errichtet worden sein, dessen Entwurf vom Architekten Wilhelm Lossow stammt.2 Wenngleich sich nirgends ein entsprechender Hinweis findet, so vertritt der Autor dennoch die Auffassung, dass der Bildhauer und Medailleur Bruno Eyermann maßgeblich an der künstlerischen Umsetzung dieser Grabmalschöpfung beteiligt war.
Nachweisbar erfolgte der Guss dieses Grabkreuzes in der berühmten Leipziger Bronzegießerei Traugott Noack. Das noch ganz vom Stil des Art deco geprägte Kreuz ähnelt einem Johanneskreuz, dessen vier Kreuzarme durch eine bronzevergoldete Umschrift, die da lautet „SOLI IN DEO MEA SPES“ 3 aureolenhaft umschlossen werden. Am Fuße des Kreuzes findet sich auf einem bronzenen Sockel eine querrechteckige Tafel aus gleichem Material mit dem Namen und den Lebensdaten der hier beerdigten Rosa Clara Erwig geb. Ohlwerther.
Zwei Jahre nach dem Tode seiner Frau heiratete Mathias Erwig erneut. Die Braut war die um fast 31 Jahre jüngere Luise Minna Höhne und die Hochzeit fand ausgerechnet am 17. Dezember 1937, dem 24. Geburtstag von Erwigs Sohn Curt, in der katholischen Propstei-Kirche in Leipzig statt. Wenig später verfiel die Gesundheit von Mathias Erwig dermaßen rapide, dass seine junge Ehefrau Luise Erwig spätestens ab 1939 das Hotel quasi allein führte.
Am Ostersonntag 1948 erlitt Mathias Erwig einen schweren Schlaganfall, von dem er sich nie wieder erholt hat. Er war fortan rechtsseitig gelähmt. Ab dem Jahre 1949 wurde „Erwig’s Hotel Fürstenhof Leipzig“ von der volkseigenen Handelsorganisation (H0) betrieben, erhielt den Namen „International“.
Erwig
lebte nun mit seiner Frau in einem prächtigen Hause in der noblen
Ferdinand-Lassalle-Straße. Zwischen 90.000 und 100.000 Mark beliefen
sich die jährlichen Mietzahlungen der HO an Erwig für das Hotel.
Am
11. Juni 1956 starb Mathias Erwig im 83. Lebensjahr - hinter seinem
Sarg ging „Arm in Arm“ 4 die Witwe Luise Erwig mit dem Kaufmann
Oswald Götze.
Unmittelbar
nach dem Begräbnis fand am 15. Juni 1956 in Gegenwart der drei Kinder
aus erster Ehe, der zweiten Frau und des Kaufmanns Oswald Götze die Eröffnung
des Testamentes von Mathias Erwig statt. Danach war die zweite
Ehefrau Luise Erwig die Alleinerbin des gewaltigen Vermögens in Höhe
von 1.678.416,47 Mark und der Kaufmann Oswald Götze wurde zum
Testamentsvollstrecker bestimmt, die Kinder aber gingen leer aus und
sollten später die Nacherben der Witwe Luise Erwig sein. Im Falle
der Beanspruchung des Pflichterbteiles sollte die Enterbung der
Kinder gelten.
Da die Kinder jedoch vermuteten, dass die Witwe Luise Erwig mit dem Kaufmann Oswald Götze eine Liaison hatte, die sich entscheidend auf den Inhalt des Testamentes ausgewirkt hatte, nährten sich deren Zweifel an der Rechtsgültigkeit des väterlichen Testamentes. Und so brachten die drei Kinder noch vor Ablauf des ersten Sterbejahres ihres Vaters vor dem Kreisgericht Leipzig eine Anfechtungsklage auf den Weg, der allerdings durch Urteil vom Juli 1958 kein Erfolg beschieden war.
Auch ein von den Kindern im Oktober 1958 vor dem Bezirksgericht Leipzig eingeleitetes Berufungsverfahren wurde schließlich am 05. Juni 1959 abgewiesen und die Witwe Luise Erwig blieb gemeinsam mit dem Testamentsvollstrecker Oswald Götze die Gewinnerin in dieser sicher nicht unumstrittenen Erbschaftsangelegenheit.
Am Ende bietet diese wenig harmonische Familiengeschichte aber einen relativ unerwarteten Schluss. In den umfänglichen Gerichtsakten wird die praktische Möglichkeit, dass die Kinder von Mathias Erwig die Nacherbschaft auch tatsächlich antreten könnten, durchaus verständlich in Frage gestellt, da zumindest beide Töchter Erwigs nahezu gleichaltrig mit der Witwe waren.
Aber
Luise Erwig starb am 01. November 1977 im Alter von 73 Jahren. Sie wurde
im Grab No.4 der Grabstätte, vorn links, beerdigt. Damit gingen die
Erbschaft und somit auch die Inhaberschaft der Grabstätte gemäß
der im Testament angeordneten Nacherbschaft nun auf die drei Kinder
des verblichenen Mathias Erwig über.
Diese
haben dann sehr bald den Grabhügel der Luise Erwig einebnen lassen
und ließen
über das Grab der Luise Erwig mit großen Natursteinplatten einen
Weg bauen,
der zum bronzenen Grabkreuz und ihren davor bestatteten Eltern Rosa und
Mathias Erwig führte. Den Grabstein der Luise Erwig hatten sie vom
Grabe geräumt, willkürlich seitlich abgelegt, wo ihn der Efeu dann
schnell überwachsen hat. Mit dieser damnatio memoriae wurde also
gezielt jede Erinnerung an Luise Erwig samt ihrem Grabesort
ausgelöscht.
Nachdem nun aber erst kürzlich der Sarg der Luise Erwig eingebrochen ist und die mächtigen Natursteinplatten des Weges hinab in diese Grube gesunken sind, ist die Erinnerung an die zweite Frau des Mathias Erwig nun wieder präsent. Die irdischen Turbulenzen im Leben der hier Begrabenen - Mathias Erwig mit seinen Frauen Rosa und Luise - sind längst Vergangenheit. Das schöne Kreuz mit seiner gläubigen Botschaft aber erhebt sich über sie alle und mahnt auch nachfolgende Generationen, sich zu erinnern und wohl auch zu vergeben. 5
Anmerkungen:
1 Albrecht Kurzwelly, 1913
2 Wilhelm Lossow war ein Sohn des Architekten William Lossow, dem Schöpfer des Leipziger Hauptbahnhofs.
3 Allein in Gott ruht meine Hoffnung
4 Zitiert aus der Anfechtungsklage der Kinder gegen das Testament des Mathias Erwig.
5 Unterdessen wurde das Grabkreuz auf Initiative des Autors, im Auftrag der Paul-Benndorf-Gesellschaft zu
Leipzig e. V., restauriert.
Bildnachweis:
Abb. 1: Fotografie von Hermann Walter vor 1889 - gemeinfrei
Kopfbild und Abb. 4: Fotografien von Angela Huffziger, Leipzig
Abb. 2 und 3: Archiv Til Kloeble-Erwig, Berlin