Eine ganz besondere, einzigartige kulturgeschichtliche Perle Leipzigs entdecken wir nur wenige hundert Schritte entfernt vom Leipziger Augustusplatz in südöstlicher Richtung - umgeben von schützenden Mauern im Norden und Süden und seit einem Menschenalter eingeschlossen von Gebäuden im Westen und Osten finden wir hier mit prächtigsten Bäumen bestanden das viele Jahrhunderte alte Sepulcrum Lipsiensis - die Insel der Toten dieser Stadt seit dem Jahre 1278 .
Von Anbeginn empfahl man die Verblichenen dem Schutzpatron Johannis dem Täufer und so ist dieser wichtigste historische Begräbnisplatz unserer Stadt mit den etwa 280.000 hier Begrabenen unauslöschbar als der Alte Johannisfriedhof in die Geschichte eingegangen.
Mit dem Begräbnis von Dr. Emil Breiter am Heiligen Abend des Jahres 1883 endete die 605-jährige Tradition dieses hochbedeutsamen Friedhofes.
Viele Kriege sind in den Jahrhunderten über diese große Stätte der Toten hinweggefegt und haben Verwüstungen, Entehrungen und Überbauungen dieses heiligen Feldes bewirkt. Insbesondere das 19.Jahrhundert als auch das so kulturzerstörende 20.Jahrhundert mit seinen Kriegen und Diktaturen hat die ursprüngliche Gesamtarchitektur dieses Friedhofes unwiederbringlich zerstört.
Den Gottesacker im Zenit seines Glanzes erlebte der junge Goethe während seiner Leipziger Studentenzeit 1765 bis 1768, und als ein lebensbedrohlicher Blutsturz ihn Ende Juli 1768 dem Tode sehr sehr nahe brachte, wünschte er sein Begräbnis auf diesem Friedhof. In welch opulenter Pracht Goethe diesen Friedhof erlebte, vermittelt uns folgende Beschreibung des Apothekers vom „Goldenen Löwen", Elias Weidemann, aus dem Jahre 1647:
„ Der Gottesacker war mit hohen Mauern, Dächern und Schwiebbogen um und um gar zierlich angebauet und mit schönen und herrlichen kostbaren Epitaphien aus Marmorsteinen, Holtzwerck und Mahlwerck, mit biblischen Gemählden, Sprüchen, Figuren, Historien und anderen Gemählden von Bildhauern, Mahlern und Künstler herrlich gezieret.
Die alten Geschlechter, welche vorlängst abgestorben, die hat man nebst ihren rümlichen Thaten und Herkommen, nach ihren alten Gebräuchen, Trachten, Kleidungen und anderen Monumentis allda finden können.
In Summa dieser Leipzigsche Gottesacker ist so wohl erbauet gewesen dass wenn fremde Nationes und Völker anhero kommen, sie denselben als ein Wunder anschauet, und ist dergleichen Gottesacker an Zierrat, Gebäuden und Gemählden im ganzen Römischen Reiche nicht zu finden gewesen."
Buchstäblich in letzter Minute hat man sich besonnen und dieses einmalige Zeugnis der Leipziger Stadtgeschichte nach einer musealen Aufarbeitung seit 1995 für nachfolgende Generationen wieder erlebbar gemacht.
Leider hat man sich im Rahmen der willkürlichen Präsentation dieses historischen Friedhofes nicht um eine authentische Rekonstruktion der Grabstätten bemüht. Dem Besucher bleibt der eigentliche Genius loci verborgen - er kann nur das schöne parkartige, grabmalbestandene Areal in seiner Ästhetik erfassen; der historisch kausale Gesamtzusammenhang dieses Ortes in der Abfolge seiner Entstehung bis zur gleichermaßen eingetretenen Abfolge seiner Zerstörung ist dem Besucher allerdings unmöglich gemacht und nur durch professionellen Vortrag im Rahmen einer Führung vermittelbar.
Wenngleich viele berühmte Leipziger jahrhundertelang in den Kirchen bestattet wurden - in St. Thomas wird bis 1785 , in St. Pauli bis 1790 begraben - so liegt der Anteil dieser privilegiert Bestatteten auf keine Fall über 1%. Wir finden auf diesem Friedhof alle namhaften Patrizierfamilien, bedeutende Gelehrte, Künstler, Kaufleute und Ratsherren .
So Heinrich Stromer von Auerbach, der erst 26-jährig 1508 Rektor der Universität wurde und als hochangesehener Mediziner nicht nur der Leibarzt des Herzogs Georg von Sachsen, sondern u.a. auch des Kurfürsten von Brandenburg oder des Erzbischofs von Mainz war.
Wenngleich der legendäre Baumeister und Bürgermeister Hieronymus Lotter 1580 auf seinem erzgebirgischen Gut in Geyer starb, so wurde er hier bestattet.
Der große Dichter Gellert fand hier sein Grab nicht weit entfernt von der Ruhestätte des bedeutendsten Thomaskantors Johann Sebastian Bach. An einem schönen Maientage des Jahres 1810 begrub man hier Käthchen Schönkopf, des jungen Goethe Liebste in den Leipziger Studentenjahren und sein „ erstes Mägde ", wie er später bekannte. Sehr zahlreich sind hier prominenteste Leipziger begraben, die einst in sehr engem und privatimen Verhältnis zu Goethe standen, wie beispielsweise sein Zeichenlehrer Adam Friedrich Oeser oder dessen Tochter Friederike, der Kunstsammler Gottfried Winckler, der Bildungsbürger Friedrich Rochlitz, die Verlegerfamilie Breitkopf, die Kupferstecher Bause oder Stock.
Der aus der Schweiz stammende unübertroffene Prediger Zollikofer oder der in Austerlitz geborene Schauspieler Matthias von Treuenfeld, des großen Richard Wagners Mutter und seine von ihm so sehr geliebte Schwester Rosalie - die Liste der hier ruhenden prominenten Toten Leipzigs ist so unendlich lang und selbst eine mehrstündige Führung vermag dem Besucher nur eine leise Ahnung zu vermitteln, wieviel Kulturgeschichte sich in den über sechs Jahrhunderten an diesem Orte angesiedelt hat.
Die Reste des Alten Johannisfriedhofes bilden inmitten der Stadt ein Refugium seltenster Prägung, eine Oase der Besinnlichkeit und des Friedens, ein Ort der Ruhe und des Schweigens, ein Raum der Natur und großer Geister und ein weises Zeugnis der irdischen Vergänglichkeit und vielleicht auch der eigenen Bedeutungslosigkeit.
Kein anderer Ort dieser Stadt vermag heute die Geschichte der berühmten Messestadt Leipzig durch seine Eigengeschichte so umfassend zu vermitteln als der Alte Johannisfriedhof - ein 1846 geweihter zweiter Friedhof bekommt seine Blütezeit unmittelbar nach der Schließung des Alten Johannisfriedhofes und geht als der große Begräbnisplatz des Leipziger Bürgertums im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert unter dem Namen Neuer Johannisfriedhof in die Geschichte ein.