Am letzten Tag des Jahres 1888 trifft als der russische Komponist Peter I. Tschaikowski erstmals in der Stadt Leipzig ein. Auf Einladung der Gewandhausdirektion ist er von Petersburg über Berlin angereist, um hier seine erste Orchestersuite D-Dur op. 48 mit dem Gewandhausorchester einzuüben und am 5. Januar aufzuführen. Dies Konzert ist nicht nur die Premiere des Stückes vor deutschem Publikum, sondern auch der Auftakt seiner ersten großen Tournee durch Westeuropa, wo er erstmalig als Dirigent seiner eigenen Werke auftritt.
In Leipzig hat er Freunde, grandiose Musiker, die am Leipziger Konservatorium unterrichten. Einer ist der russisch-jüdische Geiger Adolf Brodsky, der Tschaikowskis Violinenkonzert 1881 in Wien zur Uraufführung brachte und es berühmt machte. Er macht Tschaikowski mit Edvard Grieg und Johannes Brahms bekannt. Ein anderer ist der begnadete Pianist Alexander Siloti, ein ehemaliger Schüler Tschaikowskis und Liszts. Er organisiert für den 6. Januar eine Kammermusik-Matinee des zu Ehren des Komponisten und einstigen Lehrers. Das Konzert findet in den Räumen des Liszt-Vereins statt.
Klaus Mann hat all diese Begegnungen in seinem Tschaikowski-Roman verarbeitet. Er lässt den Leser die Freuden und Anstrengungen dieser Tage nacherleben. Auch den Besuch Tschaikowskis im Liszt-Verein ist im Roman ausgestaltet. Dabei entspinnt sich ein Gespräch über den verstorbenen Franz Liszt.
Tina Romstedt
Tschaikowsky stand auf […] und machte ein paar Schritte durch das Zimmer. „Wir sprechen ja die ganze Zeit von mir und meinen winzig kleinen Angelegenheiten. Das ist mir nicht nur peinlich vor den leiblich Anwesenden, sondern auch vor diesen da, vor den Meistern.“
Er war am Kaminsims stehengeblieben, der geschmückt war mit den Bildern großer Musiker. Da standen in einer Reihe: Glinka, und Wagner, Schumann und Berlioz, Liszt und Brahms.
„Wie schön Liszts Kopf ist“, sagte andächtig Peter Iljitsch. „Der Adler in der Soutane …“
Sie sprachen plötzlich alle von Liszt. Sowohl Friedheim als Siloti waren seine Schüler gewesen. „Keiner hat herrlicher dieses Instrument beherrscht“, erklärte Friedheim und pochte mit seinen mageren Fingern auf den schwarzen glänzenden Deckel des geschlossenen Flügels.“ Auch Rubinstein nicht“, sagte er streitbar.
„Nein auch Anton Rubinstein nicht“, bestätigte die metallische Stimme des Siloti.
„Und dabei ist ihm das Klavier und die ganze Musik vielleicht nur ein Mittel zur Verführung gewesen“, sagte Friedheim nachdenklich.
„Liszt, oder die Schule der Geläufigkeit – nach Weibern“, warf Martin Krause kichernd ein. „Das hat ein deutscher Dichter-Philosoph geprägt.“
„Merkwürdig“, sagte Tschaikowsy, „er ist kaum länger tot als ein Jahr, und ist schon eine Legende. Er hat bei seinen Lebzeiten die Legende aus sich gemacht. Der große Verführer im Kleid des Abbés, der unbesiegbare Virtuose des Klaviers und der Liebe … Ich habe ihn niemals besucht“, fuhr er langsamer fort. „Er war ja so überlaufen, und wollte wohl nur Verehrer um sich haben. Aus meinen Arbeiten machte er sich nicht viel, hat man mir berichtet …“
Sie sprachen weiter von Liszt, von seinen berühmten Liebesaffären seinen Reisen, seinem breit und fürstlich geführten Leben zwischen Rom, Paris, Weimar und Budapest; der erregenden Mischung aus Mondänität und Frömmigkeit, die ihn charakterisierte; von seiner unermüdlich helfenden, entdeckenden, fördernden, anregenden pädagogischen Tätigkeit.
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Auszug aus: Klaus Manns „Symphonie Pathétique. Ein Tschaikowsky-Roman“. Erstausgabe im Querido-Verlag, Amsterdam 1935.
zu den handelnden Personen:
Alexander Iljitsch Siloti (1863–1945) russischer Pianist, Komponist und Dirigent. Schüler von Rubinstein, Tschaikowsky und Liszt. Er regte zur Gründung des Liszt-Vereins 1885 in Leipzig an.
Martin Krause (1853–1918) Meisterschüler Franz Liszt‘, der sich als Klavierpädagoge und Musikschriftsteller in Leipzig niederließ, wo er den Franz-Liszt-Verein gründete. Innerhalb von zehn Jahren veranstaltete der Liszt-Verein 70 Konzerte, wurde aber 1899 aufgelöst.
Arthur Friedheim (1859–1932) russisch-deutscher Pianist und Komponist. studierte dann bei Anton Rubinstein, bevor er Schüler von Franz Liszt wurde.
Adolph Brodsky (1851-1929) ein russisch-jüdischer Geiger und Musikpädagoge. Bei der Uraufführung von Tschaikowskis Violinenkonzert 1881 in Wien, danach auch in London und Moskau, spielte er den zuvor als unspielbar geltenden Solopart. Von 1883 bis 1891 unterrichtete Brodsky am Leipziger Konservatorium. Am Gewandhausorchester Leipzig war er Konzertmeister.