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 Logiker der Freiheit – der Hegel-Forscher Pirmin Stekeler

Logiker der Freiheit – der Hegel-Forscher Pirmin Stekeler

Dr. Konrad Lindner

01. Leipzig – Denkort der Dialektik

Professor Dr. Pirmin Stekeler im Jahr 2014 im Amt als Präsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften.
Professor Dr. Pirmin Stekeler im Jahr 2014 im Amt als Präsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften.

Im Alter von 39 Jahren wurde er 1992 an der Universität Leipzig zum Professor berufen. Mit im Gepäck das Buch: Hegels Analytische Philosophie. Die Wissenschaft der Logik als kritische Theorie der Bedeutung. Die Rede ist von dem Philosophen und Logiker Pirmin Stekeler. Geboren 1952 in Messkirch. Heute gilt er als einer der international führenden Hegel-Forscher. Sein Buch zur Wissenschaft der Logik hatte er weitgehend in Konstanz verfasst. Der erste großen Anlauf beim Wiederentdecken des gewaltigen Ideenvorrats von Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Ins Zentrum rückt Stekeler die Dialektik, die er als Dialog deutet: "Hegels Dialektik ist letztlich logische Analyse, die sich im Gespräch mit der faktischen Tradition der Kultur der Menschheit und spezieller mit der philosophischen Kultur der Begriffsanalyse entwickelt." (1; S. 233.) Im Verlauf von drei Jahrzehnten setzte Stekeler in Leipzig die Energien frei, durch die sich die Universität zu einem Denkort der Dialektik entwickelte, der bis nach Pittsburgh in die Hochburg der Analytischen Philosophie hinein strahlt. Die publizistische Plattform für die Übersetzung der Hauptwerke Hegels in die Sprache der Gegenwart ist die Philosophische Bibliothek des Felix Meiner Verlages zu Hamburg. Hier erschien von Stekeler im Jahr 2014 der dialogische Kommentar zu Hegels Phänomenologie des Geistes in den Bänden Gewissheit und Vernunft sowie Geist und Religion. Zu Beginn des Jahres 2020 folgte "ein erneuter Anlauf", um "ein textnahes Nachdenken entlang des von Hegel vorgezeichneten Denkwegs" zu leisten. (5; S. 12.) Jetzt erschien Hegels Wissenschaft der Logik im Dialogischen Kommentar. Den Start bildet mit Band 690 die Seinslogik,die zuerst im Jahr 1812 gedruckt wurde. Noch im Jahr 2020 folgt die Wesenslogik, während die Begriffslogik etwa im Jahr 2022 erscheinen wird.

02. Dialektik ist Analyse ohne Ende

Im Vorwort seines sich auf 2.230 Seiten belaufenden Kommentars zu Hegels Phämonomenologie des Geistes ist im Jahr 2014 von Stekeler zu erfahren: "Mich jedenfalls begleitet das Buch, dem Hegel am Ende den Titel einer Phänomenologie des Geistes gegeben hat, seit einer wunderbaren studentischen Zeltreise durch Italien im Sommer 1971 mit einem Schweizer Freund, Guido Hischier, der mich schon damals über Theodor Adorno und Georg Lukács zu Hegel geführt hat." (3; S. 13.) Das bedeutet, dass Stekeler im Alter von 18 Jahren in das Buch "Der junge Hegel und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft" (1954) von Georg Lukács einzusteigen begann. Stekeler hat die Frage der Logik als einer Dialektik der Freiheit in das Zentrum seiner Bemühungen zu Hegel gerückt. Seine Kommentare beginnt er aber nicht mit der Wissenschaft der Logik, die während der Nürnberger Zeit Hegels in den Jahren 1812 bis 1816 erschien. Den Anfang macht er mit dem ersten Buch Hegels. Den ersten dialogischen Kommentar schreibt Stekeler über die Philosophie des Geistes; ein Buch, das 1807 herauskam, als Hegel nach dem Weggang von der Universität Jena die Redaktion der Bamberger Zeitung übernommen hatte. Doch bereits in der Phänomenologie des Geistes ist zu lernen, dass Dialektik im Sinne Hegels nicht eine unabänderliche Lehre von Weltgesetzen ist, sondern eine jeweils für neue Horizonte offene Analyse ausmacht. Im Kommentar zur Phänomenologie des Geistes würdigt Stekeler jene Denkhaltungen, die mit Skepsis, mit Zweifel, mit Ironie, mit Fragen und mit Freude an der Revision gewohnter Einschätzungen und Überzeugungen einhergehen, ohne dabei die Tradition zu missachten und die Arbeit am Begriff zu vernachlässigen. Als Eigenheit der Logik Hegels und damit der Dialektik hält Stekeler fest: "Dialektik ist daher nichts anderes als eine im Kontext konkreter Problemlösungen begriffene Begriffsanalyse." (3; S. 70.)


03. Hegel ist der große Denker der Praxis

Professor Dr. Pirmin Stekeler im Dezember 2019 während einer Diskussion in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften.
Professor Dr. Pirmin Stekeler im Dezember 2019 während einer Diskussion in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften.

In der achten These über Ludwig Feuerbach spannt Karl Marx mit dem berühmten Satz, dass alles gesellschaftliche Leben "wesentlich praktisch" sei, eine Perspektive auf, die einer Revolution im nachkantischen Philosophieren gleichkommt. (7; S. 48.) Nur begann die Hinwendung zum tätigen, zum praktischen, zum autonomen und zum freien Menschen nicht erst 1845 in Paris, als Marx seine Thesen notierte, sondern sie begann spätestens 1795 in Bern, als Hegel unter dem Eindruck von Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftslehre an seinen Freund Friedrich Wilhelm Joseph Schelling schrieb: "Man wird schwindeln bei dieser höchsten Höhe aller Philosophie, wodurch der Mensch so sehr gehoben wird; aber warum ist man so spät darauf gekommen, die Würde des Menschen höher anzuschlagen, sein Vermögen der Freiheit anzuerkennen,das ihn in die gleiche Ordnung aller Geister setzt? Ich glaube, es ist kein besseres Zeichen der Zeit als dieses, daß die Menschheit an sich selbst so achtungswert dargestellt wird; es ist ein Beweis, daß der Nimbus um die Häupter der Unterdrücker und Götter der Erde verschwindet." (0; S. 24.) Es spricht für das Genie des jungen Schelling, dass er während der Jahre darauf erst in Leipzig und dann in Jena der Idee von der Würde und der Freiheit des Menschen folgte. In seinen Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) proklamierte er auch im Sinne seines Freundes Hegel: "Denn der Mensch ist zum Handeln gebohren." (9; S. 71.) Der Denkfehler von Marx war es, dass er seit den Jahren seines Studiums die "Felsenmelodie" der Werke Hegels zu bewundern begann, aber bis in das Nachwort vom 24. Januar 1873 zu seinem Buch Das Kapital hinein nicht begriff, dass nicht nur er, sondern dass sich bereits Hegel daran macht, "im Wirklichen selbst die Idee zu suchen". (8; S. 8.) Im Unterschied zu Marx verhilft Stekeler zu der Einsicht, dass Hegel der große Denker der Praxis ist, der Analytiker des gesellschaftlich tätigen Menschen, der Entdecker der Individuen in ihrer leiblichen wie institutionellen Bedingt- und Bestimmtheit. Das Nachdenken über Sein und Dasein, über Subjekt und Freiheit, über Wissen und Gewissheit, über Wollen und Entscheiden, über Wissenschaft, Religion und Kunst stellt Hegel auf den Boden des Wirklichen. Bereits Hegel sah, dass alles gesellschaftliche Leben wesentlich praktisch ist.

04. Keine Praxis ohne Empraxis

Professor Dr. Pirmin Stekeler im Dezember 2019 während einer Diskussion in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften.
Professor Dr. Pirmin Stekeler im Dezember 2019 während einer Diskussion in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften.

Wenn wir essen und trinken, gehen und greifen, kriechen und klettern, tanzen und turnen, Kinder zeugen und Häuser bauen, aber auch wenn wir sprechen und singen, malen und schreiben, Zahlen addieren oder ein Gedicht rezitieren, dann befolgen wir immer Regeln praktischen Verhaltens. Wir erlernen sie im Miteinander mit anderen Menschen. Häufig durch Imitation. Das ins Können eingewebte Wissen fassen wir gewöhnlich nicht in Worte. Für das Wissen, das uns in unseren Praktiken begleitet, das bei einem jeden Können im Spiel ist, weil es uns leitet, über das wir beim Vollzug unseres Tuns aber nicht nachdenken, führte Karl Bühler 1934 den Ausdruck "empraktisch" ein. Dieser Begriff wird von Stekeler in der "Philosophie des Selbstbewußtseins" (2005) gezielt nutzbar gemacht. Er weist beispielsweise auf das "empraktische Vermögen" eines Kindes hin, das ohne weitere Reflexion "ich" sagen kann und "du" und "dies(er) da". (2; S. 37.) Wir sind ein sprachlich verfasstes Seiendes, das sich im Dasein praktisch bewährt. Der Ausdruck "empraktisch" erweist sich als ein funktionaler Begriff, der dabei hilft, im Detail aufzuzeigen, wie Hegel daran arbeitet, das "in Vollzugsformen Implizite aufzuhellen". (3; 35.) Über Hegels Fokus auf die Empraxis in der Praxis schreibt Stekeler: "Das rechte Verstehen ist immer praktisch. Es zeigt sich im rechten Tun. Und das Rechte zeigt sich am Ende in einer allseits zufriedenstellenden Kooperation der beteiligten personalen Subjekte und nirgends sonst." (3; S. 35.)

05. Feier der Freiheit: Sei eine Person!

In Hegel erblickt Stekeler einen Vordenker des Rechtsstaates. Gleich zu Beginn seines dialogischen Kommentars zum Geist-Buch von 1807 streicht der Philosoph von der Universität Leipzig heraus, dass die Leser in dem ersten Buch Hegels einen Autoren vor sich haben, der als "der Logiker des personalen Subjekts und der Freiheit, der Logiker der Subjektivität und damit der Moderne" zu lesen ist. (3; S. 13.) Die Begrifflichkeit der "Geistigkeit" ist bei Hegel gerade kein Mystizismus, wie Marx noch 1873 meinte klagen zu müssen, sondern ein Schlüssel für vielfältige Praxisanalysen. Hegel gelingt es auf systematische Weise, von der Wissenschaft bis zum Staat und nicht zuletzt bis in die Religion und die Kunst hinein, die verschiedenen Praxisformen in ihrer institutionellen Verfasstheit und Bedingtheit zu entdecken. "Gegen einen naiven Naturalismus und Individualismus", so gibt Stekeler zu bedenken, "zeigt uns Hegel die gemeinschaftliche und gesellschaftliche Konstitution personaler Fähigkeiten im Rahmen sozialer Normen und Rechte" auf. (3; S. 37.) Bereits der Geistanalytiker Hegel hat entdeckt, dass Wissenschaft gesellschaftlich verfasst ist. Vor allem aber ist bei Hegel zu lernen, dass sich Freiheit und Institution nicht ausschließen. Menschen entwickeln sich nur durch Institutionen zu Personen. Von Stekeler wird "Hegels kategorischer Imperativ 'Sei eine Person!' (aus der Rechtsphilosophie)" nicht auf "das Vertrauen von einzelnen Personen in einzelne Personen" reduziert, sondern zur Person werden wir durch "unser Vertrauen in die schon etablierten ... Praxisformen oder Institutionen", in die wir hineingestellt sind und in denen wir uns lernend bewähren. (3; S. 51.)

06. Marx und Hegel über den Fluss der Bewegung

Bei aller Kritik an der vermeintlichen "Mystifikation" hielt Marx große Stücke auf Hegels Logik. Er würde nicht wenig staunen, könnte er Band 690 der Philosophischen Bibliothek in die Hand nehmen. Stekeler bekommt in seinem Kommentar der Seinslogik etwas hin, das Marx gern gestemmt hätte. Bei allem Ärger, die Transformation der großen Logik in eine nachhegelsche Sprache nicht selber bewältigt zu haben, hätte Marx in vielen Passagen des Kommentars von Stekeler Veranlassung, sich bei den Ausführungen über Sein und Nicht-Sein sowie über Sein und Werden verstanden zu fühlen. Immerhin stand Marx auf den Schultern von Heraklit und Hegel, als er am 24. Januar 1873 im Nachwort zur zweiten Auflage seines Werkes Das Kapital auf die Begrifflichkeit der antiken Philosophie und auf die Symbolkraft des Flusses zurückkam. Beim Herantreten an das Wirkliche und beim Vollzug wissenschaftlicher Analysen forderte Marx im Duktus einer dialektischen Logik dazu auf, "jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite" und "kritisch und revolutionär" aufzufassen. (6; S. 826.) Im zitierten Nachwort verzichtet Marx auf Details zur Seinslogik. Stekeler dagegen berichtet, dass Hegel auch in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie erwähnt, dass er von Heraklit "jeden einzelnen seiner Sätze in seine Logik aufgenommen" habe. (5; S. 299.) Hegel zieht auch die Metapher des fließenden Flusses heran. Er stellt dem halb anschaulichen Satz, dass alles fließt, einen Satz an die Seite, mit dem die Anschauung des empirischen Flusses überschritten wird. Hegel übersetzt: "Alles fließt, das heißt, Alles ist Werden." (5; S. 300.) In dem Kommentar Stekelers ist im Detail zu lernen, dass Marx 1873 dem begrifflichen Prinzip folgt, dass "alles Bestimmte entsteht und vergeht", was heißt, dass "alles Reale sich im Werden wie ein Fluss verhält". (5; S. 299 und S. 379.) - Anlässlich des Erscheinens seines Kommentars der Seinslogik bestätigte Pirmin Stekeler, dass die Leipziger Luft für sein Mammutprojekt eine große Hilfe war: "Weil hier viel vorurteilsloser an dem Interesse an Hegel Gefallen gefunden wurde, wodurch es hier einfacher war als an einer Universität in Westdeutschland."

(Interview vom 13. Dezember 2019.)

Literatur:

(0) Briefe von und an Hegel. Band I: 1785 – 1812. Hrsg. von Johannes Hoffmeister. Felix Meiner Verlag Hamburg 1969.

(1) Pirmin Stekeler-Weithofer: Hegels Analytische Philosophie. Die Wissenschaft derLogik als kritische Theorie der Bedeutung. Ferdinand Schöningh Paderborn 1992.

(2) Pirmin Stekeler-Weithofer. Philosophie des Selbstbewußtseins. Hegels System alsFormanalyse von Wissen und Autonomie. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2005.

(3) Pirmin Stekeler: Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar. Band 1: Gewissheit und Vernunft. Felix Meiner Verlag Hamburg 2014.

(4) Pirmin Stekeler: Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein dialogischer Kommentar. Band 2: Geist und Religion. Felix Meiner Verlag Hamburg 2014.

(5) Pirmin Stekeler: Hegels Wissenschaft der Logik. Ein dialogischer Kommentar. Band 1: Die objektive Logik. Die Lehre vom Sein. Qualitative Kontraste, Mengen und Maße. Felix Meiner Verlag Hamburg 2020.

(6) Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Mit einer Einleitung und einem Kommentar herausgegeben von Michael Quante. Felix Meiner Verlag Hamburg 2019.

(7) Karl Marx: Philosophische und ökonomische Schriften. Hrg. Von Johannes Rohbeck und Peggy H. Breitenstein. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2008.

(8) Karl Marx an den Vater. Berlin, den 10. November 1837. In: Marx-Engels-Werke.Ergänzungsband. Erster Teil. Dietz Verlag Berlin 1968.

(9) Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797). Hrsg. von Manfred Durner unter Mitwirkung von Walter Schieche. Frommann-Holzboog Stuttgart 1994.

Fotorechte:

Die Cover der Kommentarbände zu Hegels Phänomenologie des Geistes (Band 1 undBand 2) sowie zur Seinslogik stellte Johannes Kambylis vom Felix Meiner Verlag in Hamburg zur Verfügung.

Die Aufnahme 01 zeigt Professor Dr. Pirmin Stekeler im Jahr 2014 im Amt als Präsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Stefanie Kießling von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften stellte die Aufnahme 2014 zur Verfügung.

Die Aufnahmen 02, 03 und 04 zeigen Professor Dr. Pirmin Stekeler am 13. Dezember2019 während einer Diskussion in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften (SAW). Aufgenommen von Dr. Konrad Lindner.

Stand: 05. Februar 2020 5

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