Natürlich ist Leipzig keine Anna-Seghers-Stadt wie Mainz oder Berlin, Städte, in denen sie viele Jahre lebte. Sie war aber mehrfach in Leipzig zu Gast, meist eingeladen von Hans Mayer. Denn dieser Literaturprofessor der Leipziger Karl-Marx-Universität, jetzt Ehrendoktor der Universität Leipzig (1992) und Ehrenbürger der Stadt Leipzig (2001), hatte selbstverständlich nicht nur Schriftsteller aus der BRD wie Günter Grass, Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger und Walter Jens nach Leipzig zu Lesungen in den Hörsaal 40 eingeladen, sondern auch führende Schriftsteller der DDR, so Bertolt Brecht, Willi Bredel, Peter Huchel , Stephan Hermlin, Peter Hacks, Christa Wolf und Anna Seghers.
Seghers hat mindestens zweimal hier gelesen: 1960 aus ihrem Roman „Entscheidung" und 1962 aus ihrer Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen". In einem Brief an Peter Huchel schrieb Hans Mayer am 22.6.1960: „Letzte Woche war übrigens Anna Seghers hier und las mit großem Erfolg in unserem Hörsaal und hielt dann ein Seminar mit den ausländischen Studenten." Und in einem Brief an Anna Seghers vom 29.06.1960 schreibt er: „Zunächst noch einmal herzlichen Dank für die Stunden hier in Leipzig. Unsere Studenten waren sehr begeistert und dankbar."
Schließlich traf Hans Mayer mit Anna Seghers 1962 zusammen. Der Leipziger Verlag Philipp Reclam jun. richtete im Gohliser Schlösschen anlässlich des Erscheinens des 6000. Bandes seiner Universal-Bibliothek eine Feier aus. Dieser Jubiläums-Band enthält die Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen", die Hans Mayer in Anwesenheit der Autorin mit einer Festrede würdigte. In diesem Band ist auch ein ausführliches Nachwort Hans Mayers enthalten, in dem er Anna Seghers' Werk in Beziehung zu Kleist, Fontane, Proust u. a. setzt und ein anerkennendes Urteil über ihre Menschengestaltung formuliert: „Die Schicksale der toten Mädchen sind exemplarische Geschicke. Anna Seghers schrieb eine exemplarische Geschichte." Aus seinen Briefen und anderen Veröffentlichungen wird deutlich, dass er Anna Seghers als große Erzählerin schätzte.
Ich kann mich erinnern, wie Anna Seghers bei ihrer Lesung im Hörsaal 40 Hans Mayer gegenüber sehr selbstbewusst auftrat, als dieser ähnlich wie im oben genannten Nachwort in seinen Begrüßungsworten Seghers' Neigung zur zyklischen Komposition hervorhob. Anna Seghers entgegnete ironisch vor den Studenten: „Ihr Professor hat es immer mit dem Zyklischen." Sie hätte damit nichts im Sinn gehabt.
Gemeinsame Positionen von Anna Seghers und Hans Mayer gab es bei ihrem Eintreten für begabte Schriftsteller, die mit der herrschenden Kulturpolitik in Konflikt geraten waren, so für Heiner Müller (1961) und für Peter Hacks (Ende 1962) wegen dessen Stück „Die Sorgen und die Macht".
Der großen Schriftstellerin Anna Seghers wurde in Leipzig anlässlich ihres 100.Geburtstages im Jahre 2000 in einem Kolloquium der Rosa-Luxemburg-Stiftung gedacht, das unter dem Thema „Anna Seghers im Rückblick auf das 20. Jahrhundert" stand.
In Leipzig wirkt auch der bekannte Anna-Seghers-Forscher Prof. Dr. Friedrich Albrecht, der sich durch eine Vielzahl von Veröffentlichungen um die Würdigung ihrer Werke verdient gemacht hat. Friedrich Albrecht hatte über Anna Seghers promoviert. Seine Promotionsschrift erschien als Buch mit dem Titel "Die Erzählerin Anna Seghers 1926-1932" im Verlag Rütten & Loening Berlin.
Er versucht auch jetzt das Andenken an ihr großes Werk wach zu halten: neben regelmäßigen Beiträgen in den Jahrbüchern der Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz besonders durch den Band "Bemühungen. Arbeiten zum Werk von Anna Seghers (1965-2004)", im Peter Lang Verlag Bern 2005 erschienen, und durch das Nachwort zu „Überfahrt" im Faber & Faber Verlag Leipzig 2007 sowie das Seghers-Buch in der Reihe „Weltliteratur für junge Leser", erschienen 2007 im Bertuch-Verlag Weimar unter dem Titel „Kennst du Anna Seghers?".
In diesem Buch versucht Friedrich Albrecht jungen Lesern (und nicht nur diesen) die Sehnsüchte und Hoffnungen der Anna Seghers zu verdeutlichen, was ihm von Seghers' Sohn Professor Pierre Radvanyi, Paris, in einem Brief als gelungen bestätigt wurde, indem er unter anderem schreibt: „...es macht Spaß, es zu lesen".
Zu bestellen: http://bertuch-verlag.de/71-0-Kennst-du-Anna-Seghers.html
Quellen:
Anna Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen. Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig 1962
Klaus Pezold: Prämissen einer Leipziger Anna-Seghers-Ehrung. In: Anna Seghers im Rückblick auf das 20. Jahrhundert. Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 2001
Hans Mayer: Briefe 1948-1963. Lehmstedt Verlag Leipzig 2006
Friedrich Albrecht: Kennst du Anna Seghers? Bertuch-Verlag Weimar 2007