Alles im Leben von Siegfried Schmutzler kreist um das geistige Zentrum Leipzig, seine Geburts- und Heimatstadt. Hier lernt und stu diert er, wird selbst für kurze Zeit Volksschullehrer im nahen Leipziger Umfeld, Markkleeberg-Großstädteln, studiert erneut nach dem Umbruch 1946, wird schließlich Gemeindepfarrer und als Krönung Studentenpfarrer an seiner Leipziger Universität. Die erste deutsche Diktatur überstand er mit Mühe unbeschadet, die zweite wird ihm zu Verhängnis. Offensiv, zuversichtlich und öffentlich verteidigt er den christlichen Glauben gegen atheistische Einschränkungen und Verfassungsbrüche jedweder Art. Seine Arbeit mit der Jugend ist dem kommunistischen Staat ein Dorn im Auge. Hinzu kommt, dass Schmutzler die Nähe zum arbeitenden Volk sucht, als dessen Interessenvertreter sich allein der sozialistische Staat fühlt.
In einem Schauprozess, der von der SED-Bezirksleitung Leipzig, der Staatsanwaltschaft, der Staatsicherheit und sogar vom ZK der SED initiiert und langfristig vorbereitet ist, wird Georg-Siegfried Schmutzler 1957 zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er vier im Zuchthaus Torgau, teilweise in Einzelhaft, verbüßen muss. 1
Mit dem Urteil soll auch die sächsische Landeskirche eingeschüchtert werden. Die Leipziger Studentengemeinde wird in der SED- Presse diffamiert, einzelne Mitglieder werden verhaftet und politisch motiviert verurteilt. Trotz aller Willkür und machtpolitischen Übergriffe 2 gelingt es nicht, Schmutzler das geistige Rückgrat zu brechen oder sein Gottvertrauen einzuschränken. Das Gegenteil ist der Fall. Schmutzler kehrt nach Leipzig zurück und geht nicht in die Bundesrepublik. Er wird Fachberater für theologisch-pädagogische Fragen bei der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens und beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR. »Eine umfassende Aufgabe lag vor mir«, schreibt er rückblickend, »nicht nur das katechetische Feld im engeren Sinne, sondern die theoretische und praktische Durchdringung des gesamten kirchlich-pädagogischen Handelns in Verkündigung, Kinder-, Konfirmanden-, und Jugendarbeit, Arbeit mit Eltern, Ausbildung und Weiterbildung kirchlicher Mitarbeiter einschließlich der Theologen, konstruktiv-kritische Auseinandersetzung mit Erziehungs- und Bildungssystem der DDR.« 3
Nur fünf Jahre später verwirklicht sich für Siegfried Schmutzler ein lang gehegter Traum. Die Evangelische Kirche der DDR richtet ein Katechetisch-Pädagogisches, später Theologisch-Pädagogisches Kolleg genannt, für alle Landeskirchen der DDR ein, an dessen Spitze Schmutzler berufen wird. Hinzu kamen Lehrverpflichtungen an der Kirchlichen Hochschule in Leipzig. Über 20 Jahre arbeitete Schmutzler auf theologisch-pädagogischen Gebieten, praktisch und theoretisch. Unter den schwierigen Bedingungen »der rigerosen Polit-Pädagogik des stalinistischen DDR-Sozialismus« gelang ihm ein großer Schritt hin zu einer Gemeindepädagogik. 4
Mein Studium war eingebettet in einem Lebenszusammenhang, ohne den es hätte kaum gelingen können. Seine Mitte hieß: Evangelische Studentengemeinde Leipzig.« 10
Noch zweimal sollte Siegfried Schmutzler an den Ort seiner Verurteilung zurückkehren, in den Saal 115 des Leipziger Landgerichtes, als Zeuge in den Revisionsprozessen gegen seine ehemaligen Peiniger, die DDR-Richter Kurt Bachert und Erich Wirth, der eine als Beisitzer und der andere als vorsitzender Richter. »Der einstige Studentenpfarrer Dr. Siegfried Schmutzler, der genau an jener Stelle 1957 als Angeklagter gestanden hatte, durchlebte in seiner zweieinhalbstündigen Aussage noch einmal Verhaftung, Untersuchungshaft und Schauprozess.« 11
Das war am 6. Mai 1996, fast 40 Jahre nach seiner Verurteilung. Schmutzler nahm das wahr als schlimme Erinnerung und kabarettistisches Spektakel. Keiner der beiden Angeklagten - Wirth stand im Oktober vor Gericht - musste wirklich im Gefängnis eine Strafe verbüßen. Schmutzler hat volle vier Jahre im Zuchthaus zubringen müssen. Seine Mitstreiter, die Theologiestudenten Andreas Jentsch und Wolfgang Wohllebe wurden zu einem Jahr und sechs Monaten beziehungsweise zu zwei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus verurteilt. 12
Die SED-Parteileitung der Karl-Marx-Universität forderte in einer Erklärung vom 9. August 1957 »die strengste Bestrafung des Agenten Schmutzler«. 13
Im Prozess wird ihm staatsfeindliche Hetze vorgeworfen. »Nein«, so
Siegfried Schmutzler 1996, »ich leistete nur Widerstand gegen die
Ideologie des Staates und war überzeugt, mich dabei im Rahmen der
DDR-Verfassung zu bewegen. Die Verantwortlichen in der DDR kamen zu der
Ansicht, unsere Gemeinde würde die geistige Situation der Studenten in
Leipzig zu stark bestimmen. Die konkreten Straftat-Vorwürfe gegen mich
waren an den Haaren herbeigezogen.« 14
Als 1997 der Nachlass von Theodor Litt auf Initiative von Dr. Peter Gutjahr-Löser und des Sohnes Rudolf Litt von Düsseldorf nach Leipzig an die Universität gebracht werden kann, löst das Aktivitäten besonderer Art aus: der Nachlass wird nach einer vorläufigen Verzeichnung und Verfilmung Gegenstand der Forschung, eine Ausstellung zu Theodor Litt wird eröffnet und die Theodor-Litt-Gesellschaft begründet, die seitdem ein Jahrbuch heraus gibt. Alljährlich findet im Oktober zu einem thematischen Schwerpunkt das Theodor-Litt-Symposium statt. All das begleitete mit wachem, manchmal auch kritischem Interesse Georg-Siegfried Schmutzler. Er tat es solange, bis ihm eine lange Krankheit das nicht mehr gestattet.
Nur wenige Jahre nach seinem Tod ist der schriftliche Nachlass des mutigen Pfarrers im September 2006 aus den Händen seiner Witwe, Regina Schmutzler, von Berlin nach Leipzig in das Universitätsarchiv überführt worden.
Die Universität Leipzig wird ihrem Studenten, Promovenden und Studentenpfarrer in schwerer Zeit stets ein ehrendes Gedenken bewahren und seinen Namen mit dem von Theodor Litt in einem Zuge nennen.
2 Vgl. Schmutzler, Georg-Siegfried: Gegen den Strom. Erlebtes aus Leipzig unter Hitler und der Stasi. Göttingen 1992, S. 143: Bereits in der Untersuchungshaft soll der Gefangene erniedrigt werden. Der Chef-Vernehmer herrscht ihn an:
»Hier sind Sie kein Pfarrer, kein Herr Doktor, hier sind Sie ein ganz gewöhnlicher Schmutzler.«
3 Schmutzler, Georg-Siegfried: Gemeindepädagogik in Aktion. Von der Mauer bis zur Wende. Bielefeld 1994. S. 14.
4 Ebda S. 168.
5 »Der Deutsche Geist und das Christentum«, zuletzt 1997 erschienen, »Protestantisches Geschichtsbewusstsein« und »Mensch und Welt«.
6 Universitätsarchiv Leipzig (UAL), Phil. Fak. Prom. (Siegfried Schmutzler) 2803, Bl. 13; vgl. FAZ, Nr. 278 v. 23. Nov. 1957, Theodor Litt, Schmutzlers Überzeugungstreue: »Ich kenne den Studentenpfarrer Dr. Siegfried Schmutzler, das Opfer des in diesen Tagen in Leipzig aufgeführten Schauprozesses, seit seiner Studienzeit ganz genau. Er gehörte zu dem engsten Kreise derjenigen Studenten, der mir in dem Widerstand gegen die durch das ›Dritte Reich‹ pro pagierte ›Weltanschauung‹ die zuverlässigste Stütze gewesen ist.«
7 Schmutzler, Georg-Siegfried: Gegen den Strom (wie Anm. 2), S. 26
8 Ebda. S. 29.
9 Georg-Siegfried Schmutzler: Die Rolle der Religion in Theodor Litts Pädagogik und Philosophie in seiner Leipziger Zeit. In: Theodor-Litt-Jahrbuch 2001/2. Leipzig 2002 (wie Anm. 2), S. 162.
10 Georg-Siegfried Schmutzler: Gegen den Strom (wie Anm. 2), S. 68.
11 Görtz, Armin: Pfarrer Schmutzler durchlebte nochmals DDR-Schauprozess. Zeuge sagte im Verfahren gegen Bachert aus. In: Leipziger Volkszeitung Nr. 106 v. 7. Mai 1996.
12 Amtsblatt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen Jg. 1992, Nr.11/B 21, Dresden 15. Juni 1992, und Nr. 12/B 23, Dresden 30. Juni 1992.
13 Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, SED-Kreisleitung Leipzig, Karl-Marx-Universität Nr. IV/4/14/64, Bl. 4.
14 Görtz, Armin (Interview): Hirte Schmutzler ging für seine Herde ins DDR-Zuchthaus. Verdienstkreuz für einstigen Studentenpfarrer. In: Leipziger Volkszeitung Nr. 254 v. 29. Okt. 1996.
Quelle:
Sächsische Lebensbilder
Band 7
Leipziger Lebensbilder
Der Stadt Leipzig zu ihrer Ersterwähnung vor 1000 Jahren 1015-2015
Herausgegeben von Gerald Wiemers
Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig
In Kommission bei Franz Steiner Verlag Stuttgart
Bildnachweis:
Bild 1: Foto Gerald Wiemers
Bilder 2 und 4: Fotos von Ursula Drechsel
Bild 3: Universitätsarchiv Leipzig