Der „Nachfolgebau" des „Collegium Beatae Mariae Virginis" Leipzig, Otto-Schillstraße 1.
(Das „alte" Collegium stand an der Ecke Goethe-/Ritterstraße.)
Foto: Dr.Peter Gutjahr-Löser
In dieser Schilderung mischt Thomas Mann konkret Beobachtetes mit in dichterischer Freiheit neu Gestaltetem: Die Universitätsbibliothek steht tatsächlich - in einiger Entfernung vom Hauptgebäude - gegenüber vom früheren Gewandhaus. Auf deren Grundstück entstand in der Zeit von 1999 bis 2002 ein großer Neubau für die geisteswissenschaftlichen Fächer der Universität. Auch das „Collegium Beatae Virginis" gab es - aber das hatte seinen Sitz an der Ecke Goethestraße / „kleine" Ritterstraße, also auf dem Platz, an dem - nach dem Abriss eines heruntergekommenen Nachkriegsgebäudes - noch 2012 die bedeutende Software-Firma Unister ihre neue Zentrale bauen will. Die Universität hatte das Grundstück bereits vor dem Jahr 1900 verkauft und mit dem Erlös das Gebäude Otto-Schill-Straße 1 errichtet. Nachdem der Universität das Eigentum nach der Wiedervereinigung vom Bundesverwaltungsgericht wieder zugesprochen worden war, wird es heute vermietet. Im Erdgeschoss befinden sich ein Ladengeschäft und - bis vor Kurzem - das bei Studenten beliebte „Cafe Paul". Im zweiten Obergeschoss ist das „Konfuzius-Institut" eingezogen, ein mit der Universität eng verzahntes chinesisches Kultur-Institut. Die Juristenfakultät, deren Sitz Thomas Mann in das „Collegium Beatae Virginis" verlegt, hatte ihren endgültigen Sitz bereits seit dem 17. Jahrhundert auf dem Universitätsgrundstück, das zwischen Petersstraße und Schloßgasse liegt. Nachdem die dort im 19. Jahrhundert errichtete Juridicum-Passage im Zweiten Weltkrieg zerstört worden war, wurde an dieser Stelle im Rahmen der neu geschaffenen Einkaufs- und Kinopassage „Petersbogen" auch das Juridicum - vom dritten bis zum sechsten Stockwerk untergebracht. Dazu gehören die zweigeschossige Bibliothek und zwei Stockwerke für die Dienstzimmer der Professoren und ihre Mitarbeiter.
Leverkühn setzt den brieflichen Bericht über Leipzig damit fort, er habe einen Dienstmann beauftragt, sein Gepäck vom Bahnhof in die Petersstraße zu bringen:
„ ... Stellt sich mir auch als Fremdenführer vor und wies sich als solcher aus durch ein Messingschild und durch zwei, drei englische und französische Brocken, teuflisch gesprochen, peaudiful puilding und an liquide exdremement inderessant. - Item, wir wurden der Sache eins, und hat der Kerl mir zwei Stunden lang alles geeigt und gezeigt, mich überall hingeführt: zu der Pauluskirchen mit wunderlich gekehltem Kreuzgang, zu der Thomaskirchen, wegen Johann Sebastians, und zu seinem Grabe in der Johanniskirchen, wo auch das Reformationsdenkmal ist und das neue Gewandhaus. Lustig wars in den Straßen, denn, wie ich zuvor geredt, währte noch gerade die Herbstmesse, und allerlei Fahnen und Tücher mit Anpreisungen von Pelzwerk und anderen Waren hingen aus den Fenstern an den Häusern herunter, war auch ein groß Gewimmel in allen Gassen, sonderlich in der innersten Stadt, beim alten Rathaus, wo mir der Kerl das Königshaus und Auerbachs Hof und den stehengebliebenen Turm der Pleißenburg zeigte, - Luther hielt da seine Disputation mit Eck. Und nun erst das Geschieb und Gewühl in den engen Straßen hinter dem Marktplatz, altertümlich, mit steilen Dachschrägen, durch gedeckte Höfe und Gänge, an denen Speicher und Keller liegen, in die Kreuz und Quer labyrinthisch verbunden. ..."
Der Held des Buches beschreibt dann seine muskalischen Begegnungen in der Pleiße-Stadt, sein Studium der Musik und sein Verhältnis zu Ludwig van Beethoven und Felix Mendelssohn Bartholdy:
„Nur ein Gewandhaus-Konzert bis dato gehört mit Schumanns Dritter als piece de resistance. Ein Kritiker von damals rühmte dieser Musik umfassende Weltanschauung nach, was sehr nach unsachlichem Geschwätz klingt, und worüber denn auch die Klassizisten sich weidlich lustig machten. Hatte aber doch seinen guten Sinn, da es die Standeserhöhung bezeichnet, die Musik und Musiker der Romantik verdanken. Sie hat die Musik aus der Sphäre eines krähwinkligen Spezialistentums und der Stadtpfeiferei emanzipiert und sie mit der großen Welt des Geistes, der allgemeinen künstlerisch-intellektuellen Bewegung der Zeit in Kontakt gebracht, - man sollt es ihr nicht vergessen. Von dem letzten Beethoven und seiner Polyphonie geht das alles aus, und ich finde es außerordentlich vielsagend, daß die Gegner der Romantik, das heißt: einer aus dem bloß Musikalischen ins allgemein Geistige hinaustretenden Kunst, immer auch Gegner und Bedauerer der Beethoven'schen Spätentwicklung waren. Hast du je darüber nachgedacht, wie anders, wieviel leidend-bedeutender die Individualisierung der Stimme in seinen höchsten Werken sich ausnimmt, als in der älteren Musik, wo sie gekonnter ist? Es gibt Urteile, die durch ihre krasse, den Urteilenden kräftig kompromittierende Wahrheit belustigen. Händel sagte von Gluck: ,Mein Koch versteht mehr vom Kontrapunkt als er‘, - ein mir teures Kollegenwort. Ein kritisch unverächtlicher Franzose, glühender Bewunderer Beethovens bis zur IX. Symphonie, erklärte um 1850, in diesem Werk eines ermatteten Geistes herrsche die finstere Pedanterie eines talentlosen Kontrapunktisten. Kennst du die humoristische Begeisterung, mit der solche treffenden Fehlurteile mich erfüllen? Nichts ist wahrer, als daß Beethoven es in der Fuge nie zu der technischen Sicherheit, Fertigkeit, Leichtigkeit brachte, über die Mozart gebot. Eben darum besitzt seine Polyphonie eine Geistigkeit, die das Musikalische überwächst und erweitert. Mendelssohn, für den ich, wie du weißt, viel übrig habe, fing sozusagen mit Beethovens dritter Periode, i. e. mit dem mehrstimmigen Stil, gleich an, und das war mehr und anderes als Zelter-Schule. Alles, was ich gegen ihn einzuwenden habe, ist, daß ihm die Polyphonie zu leicht wurde. Er ist, trotz Elfen und Nixen, ein Klassiker."
Darüber, wie Leverkühn in die Fänge Mephistos geraten ist, gibt es in dem Leipzig-Kapitel des Romans nur dunkle Andeutungen. Sie werden erst am Schluss aufgelöst, als der Komponist in einem ehemaligen Kloster im oberbayerischen Pfaffenwinkel mit dem von Thomas Mann erfundenen Namen „Pfeiffering" (Vorbild ist das alte Klostergut Polling bei Weilheim) tatsächlich vom Teufel geholt wird. Um auf das Buch neugierig machen darüber nichts weiter!
Aber: Wer sich über das Zustandekommen dieses Werkes genauer unterrichten will, kann zu dem von Thomas Mann zwei Jahre später zusätzlich publizierten Buch „Die Entstehung des Doktor Faustus - Roman eines Romans" greifen.