War Ihr Lebensweg als Musiker im Elternhaus vorgezeichnet?
Eigentlich nicht. Die Großeltern mütterlicherseits und väterlicherseits waren Bauern und Landwirte. Meine Mutter hatte eine schöne Stimme und zu Hause wurde viel musiziert. Im Kindesalter lernte ich Klarinette, Klavier und Geige. Was dann passierte, ist ein Märchen: An der Musikakademie in Dresden habe ich im Alter von 15 Jahren Klavier und Geige vorgespielt, zuletzt „Morgenstimmung" aus Peer Gynt von Edvard Grieg und ich war angenommen. Ich studierte vier Jahre im Hauptfach Cello, im Pflichtfach Klavier und im Nebenfach Gesang. Danach begann das Studium an der Musikhochschule: Im Hauptfach erhielt ich bei dem hervorragenden Cello-Pädagogen Prof. Karl Grosch meine musikalische Ausbildung, im 2. Hauptfach bei Prof. Helga Fischer meine Gesangsausbildung. In den nächsten vier Jahren habe ich täglich wenigstens sechs Stunden Cello geübt, verbissen und mit Tränen in den Augen. Aber das Ergebnis war, dass ich 1958 das erste Mal in der Dresdner Staatskapelle als Cellist mitwirken konnte.
Warum sind Sie in der DDR geblieben? Sie hätten doch andere Angebote gehabt?
Ich habe den Staat gehasst. Ich hätte gehen können. Aber meine Mutter hätte ich nie allein gelassen. Und dann hatte ich hier eine solide Ausbildung genossen.
Von bestimmten, auffällig höflichen Herren wurde ich gefragt, ob ich Gespräche in Hamburg mit Herrn X und in Wiesbaden mit Herrn Y führen könne. Meine Antwort war bestimmt: „Für die Gestapo arbeite ich nicht!" Erst danach wurde mir bewusst, dass Erich Loest für weniger Provokation 7 Jahre in Bautzen eingesessen hatte.
Noch in der Nacht rief mich ein Freund an: „Bist du denn wahnsinnig geworden! Willst du uns alle nach Sibirien bringen? ..." Aber irgendwie schafften es diejenigen, die mir wohl gesonnen waren, mich aus der Schlinge zu holen. Auch Kollegen haben die Hand über mich gehalten. Das war eine schwierige Zeit.
Welche Partien als Tenor haben Sie besonders gern gesungen?
Es ist gar nicht leicht auszuwählen. Zuerst muss ich den Raoul de Nangis in der Oper „Die Hugenotten" (Giacomo Meyerbeer) nennen. Das war 1974 eine großartige Inszenierung von Joachim Herz! Dann möchte ich den David in den „Meistersingern" und den Steuermann im "Fliegenden Holländer" anführen. Den Belmonte und Pedrillo in „Die Entführung aus dem Serail" mochte ich und den Fenton in „Die lustigen Weiber von Windsor". Den Grafen Almaviva im „Barbier von Sevilla" sang ich ebenso gern wie den Fuchs im „Schlauen Füchslein". Meine aktive Opernkarriere beendete ich 2003 mit Partien im„Rosenkavalier" und in der Oper „Levins Mühle" von Udo Zimmermann.
Was hat Sie in Leipzig besonders beeindruckt?
Die Thomaskirche ist für mich ein außergewöhnlicher Ort. Dort habe ich mir einen Namen in den Evangelistenpartien der Oratorien von Johann Sebastian Bach gemacht. 1962 durfte ich das erste Mal als Evangelist im Weihnachts-Oratorium von Bach singen. Später habe ich in den Passionen von Johann Sebastian Bach mitgewirkt.
Herr Kammersänger, wie halten Sie es mit den Sprachen?
Im Hebräischen kenne ich mich inzwischen etwas aus. Mein Englisch ist aber schlechter als mein Sächsisch und sächsisch rede ich ganz selten.
Wie avancierten Sie zum Leiter des Synagogalchores? Sie hatten eine breite musikalische Ausbildung, aber Sie waren kein ausgebildeter Dirigent.
In der Tat. Das sagte ich auch einer Journalistin, die ich nicht einordnen konnte und die mich vor dem Gedenkkonzert zu Ehren von Werner Sander, der 1972 verstorben war, interviewte. Ich hatte mich auf Drängen von Helmut Aris, dem Präsidenten des Verbandes der jüdischen Gemeinden der DDR, bereit erklärt, in diesem Gedenkkonzert den Synagogalchor zu leiten. Ich konnte die Journalistin noch fragen, wo das Interview erscheinen würde. „In der Presse der Welt!" rief sie mir mit rollendem „r" zu. Am nächsten Tag rief mich ein Freund aus Hamburg an und las mir aus der Zeitung „Die Welt" vor: „Helmut Klotz ist als Nachfolger des verstorbenen Oberkantors von Leipzig und Dresden, Werner Sander, berufen worden..." Was sollte ich machen? Also war ich der Meinung, ich müsse es ein Jahr tun, und nun leite ich den Chor schon 39 Jahre. Es ist eine Ehre für mich, zum 50. Jubiläum des Chores - und dem 40jährigen Jubiläum unter meiner Leitung - am 14. April 2012 im Gewandhaus das Jubiläumskonzert zu leiten. Danach übergebe ich den Stab an meinen Nachfolger.
Kammersänger Helmut Klotz:
Ja, wir sind gefeiert worden, und das in der ganzen Welt. Wir gaben Konzerte in Israel, Südafrika, Brasilien, Spanien, Belgien, Schweden und mehrfach in Polen, nicht alle kann ich aufzählen. Zweimal waren wir in Auschwitz. Ein Konzert in der Kathedrale von Oppeln mit 1 300 Besuchern, das unter der Schirmherrschaft von Kardinal Alfons Nossol stand, war auch für uns ein Höhepunkt. Eine Konzertreihe zu Hause will ich wegen der politischen Ausstrahlung besonders erwähnen: Unser Mitwirken seit vielen Jahren am ökumenischen Gottesdienst in der Leipziger Thomaskirche zum Gedenken an die Opfer der Reichspogromnacht vom 09. November 1938. Heute kann man sich das nicht mehr vorstellen, es war anfangs sehr wichtig, dass Roland Wötzel, Sekretär der SED-Bezirksleitung, in der ersten Reihe saß. Ohne ihn hätte dies nicht stattfinden können. Übrigens, der Mann ist bibelfest und hatte in seinem Schreibtisch immer eine Bibel liegen.
Sie haben sich für die jüdische Sache sehr engagiert. Gab es dadurch Schwierigkeiten?
Natürlich gab es Anfeindungen. 1978 erhielt ich die erste Morddrohung: „Du arisches Judenschwein! Wenn du morgen das Konzert machst, ist es dein letztes." Es war für mich eine sehr schwierige Situation, ich habe mich durchgerungen und das Konzert geleitet, und ich spürte meine Berufung als Botschafter für eine gute Sache: nach dem verbrecherischen Handeln der Deutschen die Versöhnung mit Israel zu befördern. Das hat mein Leben verändert.
Es war nicht das einzige Mal, es hat immer wieder Drohungen gegeben.
Konnten Sie erfahren, wie Ihre Botschaft bei Betroffenen angekommen ist?
Während unserer Konzerttournee 1994 in den USA haben wir in acht Tagen sechs Konzerte gegeben, eine große Anstrengung. Nach einem Konzert des Synagogalchores in Boston/USA lud mich der deutschen Botschafter zu einem Gespräch ein. Es kam eine alte Dame, die offenbar sehr bewegt war, zu uns und sagte: „Ich bin eigentlich gekommen, um zu protestieren. Es ist das erste Mal seit 1946, dass ich wieder deutsch spreche. Alle Mitglieder meiner Familie habe ich in Auschwitz verloren, nur ich habe überlebt. Und jetzt höre ich aus deutschen Mündern
Ham' chabe ess haner und Ez chajim
(Gesang über Bestimmungen im Talmud und Der Baum des Lebens)
Ich weiß jetzt, dass es ein anders Deutschland gibt."
Sie weinte, der deutsche Botschafter und ich weinten - wir weinten zusammen.
Aber solche Begegnungen gab es viele und sie haben mir immer wieder Kraft und Mut gegeben, diese Musik als Botschaft in die Welt zu tragen.
Interessierte Leser können sich kundig machen unter www.synagogalchor-leipzig.de
Die Autoren danken Herrn Kammersänger Klotz für die Bilder aus seinem Privatbesitz und dafür, dass er das Einverständnis der Fotografen vermitteln konnte.
Das Interview führten Ursula und Wolfgang Brekle.
Nachtrag: Kammersänger Helmut Klotz erhielt im Rahmen des Louis Lewandowski Festivals eine Auszeichnung. Festivalsdirektor Nils Busch-Petersen sagte: "Als Förderer der Synagogalmusik anerkennen wir Ihren wichtigen Beitrag für die Bewahrung einer einzigartigen Chortradition, die vor der Shoah in vielen deutschen Synagogen gesungen wurden." Prof. Dr. Eliyahu Schleifer hielt die Laudatio: "Angesichts all seiner Leistungen im Dienste der jüdischen Musik verdient niemand diese Ehrung so wie er." Januar 2013