Es gibt Bücher, die sich dem Leser erst spät erschließen. Nach Erfahrungen eigenen Lebens, nach geschichtlichen Umbrüchen. Und manche Bücher, mag sich der Wiederlesende nun eingestehen, waren bei ihrem Erscheinen den meisten hierzulande - wenn für sie überhaupt erreichbar - befremdlich, möglicherweise beunruhigend, wenn nicht gar eine Herausforderung.
Allein, heute müssen wir uns ihnen stellen.
So Johnsons „Mutmaßungen über Jakob", 1959 bei Suhrkamp, und postum 1985, abermals bei Suhrkamp, „Ingrid Babendererde", entstanden 1953-1956. Es geht um die frühen und die späten 50er Jahre der DDR, die Johnson, gebürtiger Mecklenburger, der in Rostock und Leipzig Germanistik studierte, Ende 1959 verlassen hatte nach Westberlin, „den Wohnsitz gewechselt", wie er es festgelegt.
Sein Versuch, jenes erste Manuskript mit dem Untertitel „Reifeprüfung 1953" in DDR- Verlagen zu veröffentlichen, war anhaltend gescheitert. Er wurde sich bewusst, dass man ihm in einigen Passagen „Boykotthetze" unterstellen würde. Dafür drohte Zuchthaus! Er gab auf. Als die „Mutmaßungen" in der BRD herauskamen - er hatte zunächst gedacht, sich unter einem Pseudonym zu verstecken, wollte er doch in der DDR bleiben - blieb ihm nichts anderes, als „den Wohnsitz zu wechseln". Zu viele Tabus waren da gebrochen!
Die geteilte Welt; der Kalte Krieg, der wiederholt umzuschlagen drohte in einen abermaligen, gar Atomkrieg; der Eiserne Vorhang; das geteilte Deutschland... Und nun die Konfrontation der Deutschen mit der fürchterlichen Hinterlassenschaft des Faschismus sowie - und das nur in der DDR - mit dem Versuch, eine grundlegend neue Gesellschaftsstruktur zu gründen, den Sozialismus. Johnson wollte dabei sein.
„Ingrid Babendererde", von Hans Mayer, dem Leipziger Lehrer Uwe Johnsons, nach Frankfurt zu Peter Suhrkamp empfohlen, hatte dort eine Chance; wenn sich letztlich auch beide, Autor und Verleger, einigten, das Buch doch nicht herauszubringen. Den Namen „Babendererde" hielt Suhrkamp übrigens für abwegig. Allein für Johnson hatte er wohl, aus dem Niederdeutschen kommend, symbolische Bedeutung: „Ingrid ‚auf der Erde'", das ist eine Gestalt, fern allen abgehobenen Parolen des politischen Alltags, denen die Abiturienten des Güstrower Gymnasiums 1953 auf Schritt und Tritt begegneten. Zwar wollten sie hier und nicht anderswo, Wurzeln schlagen: Jürgen wollte Oberschullehrer werden für Geschichte, Ingrid wollte Musikwissenschaften studieren und Peter Beetz den Bau von Schiffen und Klaus wollte lernen, wie man ein Schauspiel auf der Bühne einrichtet in der Demokratischen Republik... Und hatte nicht der Große Stalin bestimmt: die deutsche Jugend solle erzogen werden zu selbständig denkenden und verantwortungsbewusst handelnden Erbauern eines Neuen Deutschland.
Doch als eine der Abiturientinnen meinte, „Freie Deutsche Jugend" und „Junge Gemeinde" miteinander leben zu können, brach ein unheilvoller Konflikt auf: Man verweigerte sich jeglichem Dialog, man zementierte diese eine Meinung: Die „Junge Gemeinde" ist der innere Feind...dient den religiös-ideologischen Interessen des Bürgertums ... ist eine amerikanisch geförderte Spionage-Organisation.
Die Situation eskaliert, als Ingrid B., in der eilig einberufenen Vollversammlung des Gymnasiums nicht den gewünschten Beitrag gegen die „Junge Gemeinde" hielt, sondern - war das jugendliche Lust am Widerspruch? - das Recht einer Mitschülerin verteidigte, Blue-Jeans zu tragen. Aus Westberlin! Eine ungeheuerliche Provokation, damals. Eine Groteske, heute. Allein die Richtung war vorgegeben: Keine Diskussion! Die Babendererde wurde der Schule verwiesen.
Welcher Leser ?üchtete sich jetzt nicht, mit ihr, in jene bedrängende Szene, Anfang des 53. Kapitels: Aufrichtung durch das Wunder der Musik? Der Rundfunk... spielte ein Brandenburgisches Konzert...und es war sehr lange her...Ingrid hielt ihre Hände unbeweglich auf ihrem Gesicht, das mochte wegen der Sonne sein. Das war eine sehr sonderbare Musik, die war so inständig zuversichtlich. Es war für Ingrid, als habe diese Musik etwas durchaus Gewisses vor, als gehe sie geduldig immer wieder herum um diesen bestimmten Vorsatz von Heiterkeit, unablässig wissend von der Sicherheit der Ankunft und aufgehoben in lauter Wohlmeinen ...wartend dass sie dies verstehe... sie nahm die Hände von ihrem Gesicht und richtete sich auf; nun war sie ganz unruhig ...
Und sie geht nach drüben; obwohl sie weiß, es wird dort eine Lebensweise sein, die eine falsche ist.
Die „Mutmaßungen" kreisen um den mysteriösen Tod des Dispatchers Jakob Abs, seit sieben Jahren verantwortlicher Angestellte bei der Reichsbahn im Norden der DDR. Und sie beginnen mit dem gleichsam protestierenden Satz: Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen. Es gibt hier keinen allwissenden Erzähler; der Leser wird selbst am Ende im Ungewissen belassen: War es Fahrlässigkeit, war es Todverlangen, war es ein Attentat, was da geschah? Ich hatte den Roman von einem Journalisten, der immer wieder zur Leipziger Messe kam, 1964 bekommen. „Kontrebande". Diese hier mitgeteilte Welt störte auf. Dieser Blick auf das geteilte Deutschland verhalf aber nicht zu einem Standpunkt. Also legte man das Buch damals beiseite und amüsierte sich über die Parodie, die Günter de Bruyn 1966 in seiner Sammlung „Maskeraden" über Uwe Johnson schrieb: „Gewissheiten über John".
Und nun: WIEDERGELESEN. „Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953" und „Mutmaßungen über Jakob". Siegfried Unseld, Nachfolger Peter Suhrkamps, hatte sich 1957 wegen der vermeintlich gestalterischen Schwächen jenes ersten Buches, vehement gegen eine Publikation ausgesprochen. Allein in seinem Nachwort zu dem 1985 veröffentlichten Werk steht nun dieser Satz als Frage - auf beide Romane bezogen - den wir jetzt in eine Aussage verwandeln: „Diese Texte waren damals ihrer, unserer Zeit voraus." Fragten sie doch angesichts der Teilung Deutschlands und der Welt nach Zukunft schlechthin auf dem Hintergrund weltpolitischer Krisen im Herbst 1956: Sowjetische Panzer gegen den Demokratie - Versuch in Budapest, englisch-französische Bomber über Suez, die ägyptische Verstaatlichung des Kanals zu unterbinden, und endlich: die Befestigung der Macht Reform- und Dialog-verhindernder Kräfte in der DDR. Schien da - so Jakob Abs - nicht alle Zukunft verbaut?
Dabei glaubte er dem Antifaschismus der Führenden in seinem Land; ohne ihn keine neue, keine sozialistische Gesellschaft. Dieses Eingeständnis war unabdingbar, und es lag zurück, blitzte auf in Gesine Cresspahl:...und Jakob zog mit den Pferden ebenmäßig wie die Ewigkeit über die frischen Stoppeln und wir saßen nebeneinander an den weich überkrusteten P?ugscharen und aßen Nachmittagbrot und es fragte plötzlich aus mir Ist das wahr Jakob mit den Konzentrationslagern: sind Zeitabläufe, von denen ich nie habe denken können: das war gestern und morgen wird es schon vorgestern gewesen sein, oder das war vor zehn Jahren und inzwischen weiß ich über den Monopolkapitalismus als Imperialismus viel besser Bescheid und kann das Vergangene betrachten von heute aus. Sie vergehen nicht, ich bin dreizehn Jahre alt jeden Augenblick vor Jakobs groß?ächigem reglosem Gesicht und seinen halb geschlossenen Augen und höre ihn sagen Ja das ist wahr. Damit kann man nicht leben, das ist unbrauchbar, wie soll es verantwortet werden. Wie soll das eingerichtet werden mit dem nassen Buchenblätterrascheln unter unseren Schritten...
Frage und Antwort scheinen fast verdeckt von einem zufälligen Lebensumfeld. Allein, es war das Gestaltungsprinzip des Romans, Mutmaßungen statt Gewissheiten zu geben, nicht mehr zu sagen, als die Figuren fragen oder wissen konnten: Figuren im Dialog miteinander, oder als Angeregte durch den allenfalls Impuls gebenden Erzähler, Figuren schließlich als Monologisierende. Was war mit Jakob Abs geschehen?
Uwe Johnson kannte sich aus in den Erzähltechniken großer Literatur des 20. Jahrhunderts, der Amerikaner, der Franzosen, und Franz Kafkas. Und er fand die adäquate Form für jenen so Problem geladenen Stoff, Anschluss an die von Hans Mayer beschworene „Moderne".
Noch nie hatte jemand „die Wunde" der Teilung dieses Landes Deutschland so schmerzhaft aus dem bedrängten Leben einfacher Menschen hervorgehen sehen. Das Gesetz erklärte die ungenehmigte Überschreitung der Staatsgrenze zu einem kriminellen Vergehen: mit Strafverfolgung. Freilich hatte Jakobs Mutter nichts von Flucht gemeint, sie war bloß weggefahren; und der alte Cresspahl wollte endlich einmal zu seiner sehr entbehrten und geliebten Tochter. Also nach drüben.
Als Jakob, von dem es schon früh und wohl aus Gründen hieß: Die Großen des Landes warfen ihr Auge auf ihn, seine Mutter besuchen durfte, geriet er in einer vorstädtischen Gaststätte in die Feier eines Gesangvereins: da saß Jakob an der Theke, und es ist wahr, dass er mit dem Wirt über den vielen Regen geredet hat und dass sie nach einer Weile mitten im Tiefsinn der abendländischen Verteidigung angelangt waren, das hörten die Sänger, die wollten nun sofort den Kommunismus aus erster Hand eines frischen Ostflüchtlings erklärt haben, wann ist er denn angekommen ,/ / ein Helles Bier für den Bruder aus dem Osten, hier, Zigarre / ich bin kein Bruder aus dem Osten / ach, bleibst du hier, nicht wahr / nein, ich fahr zurück / warum, Mensch, kann man denn da überhaupt leben? oder musst du, Familie / gefällt mir hier nicht / was! / sag doch mal, was denn / Das ist nicht schwer. Etwa die music box vollautomatisch, ging einer hin mit seinem Groschen und suchte sich eine Plattennummer aus den Badenweiler Marsch /warum magst du das nun nicht / ist der Lieblingsmarsch des Führers/ eben / aber er ist doch tot / und ihr macht ihn euch wieder lebendig / ach, was, ist schöne Musik / nein / ach du bist so ein Hergeschickter / ein Kommunist, alle Kommunisten sind Volksverräter / als Jakob den Tisch umwarf beim Aufstehen und sorgfältig seine Schläge abwog in die glatten zufriedenen vergesslichen Gesichter, in die Fresse schlagen...
Jakob kehrte zurück, bleiben wollte er von Anfang an nicht...Gewiss er hat auch keine einzige vergessen von den Meinungen, die er in ‚dem Deutschland, das den Weg zum Sozialismus eingeschlagen hat' erlernt hatte Damit kam er zu Besuch und er verstand die Bürger des Abendlandes nicht, weil sie davon nie etwas gehört hatten... es war kein Reden mit ihnen, sie verstanden ihn nicht
Dennoch trafen ihn diese Begegnungen am härtesten. Hatte er doch Gesine wiedergesehen und sich ihr liebend verbunden gewusst. Die Lakonik ihrer letzten Worte lässt Tragik aufkommen: ,Bleib hier' ‚sagte sie / ‚Komm mit', sagte er ... Was ich hatte sagen können war ich möchte auf die Wolken...
Nun aber war Gesine Cresspahl, diplomierte Anglistin, angestellte Dolmetscherin im NATO-Hauptquartier in Frankfurt und insofern für den „Militärischen Abschirmdienst", für die Staatsicherheit, selbst für die „Rote Armee" von hochgradigem Interesse. Vermochte man oder hatte man gar Jakob Abs für eine stillschweigende Mitarbeit gewinnen können?
Mit dieser Konstellation: der Beobachtung, der Befragung, der Bedrängnis und der Bedrohung der Haupt- und Nebengestalten des Romans durch die Beauftragten wird - und Uwe Johnson hatte mit diesen Frühwerken Leser der DDR erreichen wollen - jeder aufmerksame Leser konfrontiert und belastet. Sie durften dort jedoch nicht erscheinen.
Es war abermals der Dialog-bereite und Dialog-fähige Stephan Hermlin, der - wie schon im Fall Günter Grass - die „ungeheure Begabung" dieses Autors erkannte, die „Mutmaßungen" „sehr hoch geschätzt" und„selbstverständlich dafür war, dass Johnson in der DDR verlegt würde". Vergeblich.
Es obliegt nun uns, diese Texte, die „ihrer Zeit voraus waren", neu oder wieder zu lesen. Um Vergangenheit anders zu verstehen. Und man wünschte, der interessierte Leser würde die journalistisch so hoch gepriesenen literarischen ,Jahrhundert-Ereignisse" erst gar nicht in die Hand nehmen, sondern Uwe Johnsons Monumental-Werk „Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl", entstanden 1973-1983, 4 Bände, sich zum Erlebnis machen: „... ein episches Massiv..., das in seinem Anspruch, in seiner Komplexität und auch in seinem reich gegliederten ästhetischen Gefüge vieles, was seitdem geschrieben worden ist, imponierend überragt." (Wilfried Barner) Collage
Bildnachweis
Bild 1: Bundesarchiv, B 145 Bild-P057015 / CC-BY-SA
Bilder 2, 3 und Kopfbild: Fotograf E. Budde
Bilder 4 und 5: Fotografin Hannelore Glatte
Der Bertuch-Verlag dankt Frau Glatte und Herrn Budde für die Bilder, die im Artikel verwendet werden konnten.