Wie kann man 91 Lebensjahren in 100 Zeilen gerecht werden? Wie einer Frau, die 27 Jahre das Archiv der Universität Leipzig leitete und zu einem modernen Zentralarchiv entwickelte? Die auch nach der Pensionierung das Leben in der Messestadt mitgestaltete und prägte, etwa als Vorsitzende der Ephraim-Carlebach-Stiftung, die sich mit dem Leben und Wirken der Leipziger Juden in Vergangenheit und Gegenwart befasst. Es kann nur ein Versuch sein.
Seit 1841 lebt die Familie Drucker in Leipzig. Am 1 1. Juli 1917 kam Renate Drucker als jüngste Tochter des bedeutenden Juristen Dr. Martin Drucker, eines liberalen Demokraten, zur Welt. „Eigentlich wollte ich auch Jura studieren", berichtet die zierliche Frau. Denn die Juristerei lag der Familie sozusagen im Blut. Nicht weniger als 25 nahe Verwandte väter- und mütterlicherseits hatten seit Beginn des 19. Jahrhunderts an der Leipziger Universität studiert, die meisten davon Jura. Doch es kam anders. Nach dem Besuch einer Mädchenschule in Leipzig legte Renate Drucker ihr Abitur in Salem ab, wo sie Unterricht in Latein, Griechisch und auch Arabisch hatte, ihren Wunsch, Hebräisch zu lernen, aber nicht verwirklichen konnte.
„Wer die mittelalterliche Geschichte betreiben will, der muss sich auch mit diesen Sprachen befassen", sagt sie. An der Universität Leipzig studierte sie ab 1936 Geschichte, Germanistik, Anglistik und mittelalterliches Latein. Doch bereits nach dem 3. Semester wurde sie der Hochschule verwiesen. Grund: Ihr den Nazis verhasster Vater war „Halbjude".
Wie wirr die Nazi-Ideologen waren, zeigt sich unter anderem daran, dass Renate Drucker ab 1941 zwar wieder zum Studium als „Mischling zweiten Grades", aber nicht zum Staatsexamen und zur Promotion zugelassen wurde und 1942 ausgerechnet an die neu gegründete Reichsuniversität Straßburg gehen konnte, die inoffiziell auch als „NS-Kampfuniversität Straßburg" bezeichnet wurde. Und doch waren zwei Professoren aus Leipzig dorthin gegangen, bei denen die junge Studentin weiterlernen wollte und die ihr die in Leipzig unmögliche Promotion ermöglichten.
Und in Straßburg widerfuhr ihr 1944 etwas, was sie noch heute mit den Worten kommentiert: „Ich habe immer wahnsinniges Glück gehabt." An einem Dienstagabend, so erinnert sie sich, machte sie um l8 Uhr ihre letzte Prüfung, nahm vom Prüfer sogar noch die Unterlagen in Empfang, die sie sofort zur in Tübingen angesiedelten Außensstelle der Straßburger Uni mitnehmen sollte. „Am Donnerstag marschierten Amerikaner und Franzosen in Straßburg ein", so Drucker. Da ihre Papiere aber bereits in Tübingen waren, bekam sie von dort einige Wochen später ihr Doktordiplom zugeschickt.
Die in Leipzig ausgebombte Familie floh im März vor der drohenden Verhaftung des Vaters nach Jena, wo dann die Amerikaner Martin Drucker anboten, mit ihnen das Land zu verlassen. Menschen, denen er geholfen hatte, setzten sich für ihn ein. „Aber er sagte, dass man jetzt doch Ordnung machen müsse, und das ginge am besten dort, wo man Bescheid weiß", berichtet und denkt die Historikerin. Zurück in Leipzig arbeitete sie als Assistentin an der Uni, übernahm 1950 das Archiv der Universität, das sie bis zur Pensionierung leitete, und lehrte Historische Hilfswissenschaften.
Renate Drucker hat Geschichte erlebt, sie liebt Leipzig und Sachsen trotz vieler Enttäuschungen, wie 1968 die Sprengung der Paulinerkirche am Augustusplatz. An das 550-jährige Universitätsjubiläum 1959 hat sie keine besondere Erinnerung, war als Archivarin nicht einmal einbezogen. „Und die öffentlichen Veranstaltungen, da bin ich sicher nicht zu vielen hingegangen."
Man könnte mit Renate Drucker vermutlich stundenlang sprechen und sie würde immer noch eine interessante Geschichte erzählen, würde weiter mit Bezug auf ihr Elternhaus von ihrem Werdegang berichten, zu dessen Verständnis dieses Hintergrundwissen unbedingt notwendig sei.
Vermutlich würde sie aber auch immer wieder sagen, dass man bestimmte Dinge nicht aufschreiben solle oder dürfe, und fragen: „Warum ist das eigentlich alles interessant?"
Renate Drucker starb am 23. Oktober 2009 in ihrer Heimatstadt, kurz nachdem sie dem Journalisten Jörg Aberger ein Gespräch gewährt hatte.
Der Bertuch Verlag dankt der Pressestelle der Universität Leipzig, den Artike aus dem Alumni-Magazin 2009 übernehmen zu dürfen.