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Karlheinz Fingerhut
Kennst du Franz Kafka?

Was für ein komischer Kauz muss dieser Kafka wohl gewesen sein, dass kaum ein Lehrer so recht weiß, wie ihn vermitteln. Dabei ließen sich Kafkas Texte mit Träumen vergleichen, und die kennt doch jeder.
Karlheinz Fingerhut ermöglicht in diesem Buch einen leichteren Zugang zum Menschen Kafka und zu seinen teils verwirrenden Werken.

Marx-Forscher von Format –  Kurt Reiprich fand geologische Exzerpte

Marx-Forscher von Format – Kurt Reiprich fand geologische Exzerpte

Dr. Konrad Lindner

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Kurt Reiprich
Kurt Reiprich

Es war im Frühjahr. Der 5. April 2011. Leipzig wirkte nicht mehr frühlingsfern, sondern hoffnungsvoll. Die Veröffentlichung der Exzerpte und Notizen von Karl Marx zur Geologie, Mineralogie und Agrikulturchemie im Akademie Verlag in Berlin stand bevor. Es handelte sich um Studien, die Marx im Alter von 60 Jahren von März bis September 1878 in London durchgeführt hatte. In einem Seniorenheim in Leipzig besuchte ich meinen Kollegen und akademischen Lehrer Kurt Reiprich, der mehr als vier Jahrzehnte zuvor auf die Spur dieser Manuskripte gestoßen war. Für den Mai 2011 stand sein 77. Geburtstag bevor. Wir freuten uns über unser Treffen und hatten vereinbart, über Marx und die Naturwissenschaften zu reden. Die Unterhaltung verlief angeregt und es dauerte nicht lange und da waren wir bei dem Büchlein angelangt, das mein Kollege gerade las und das er mir ebenfalls zur Lektüre empfahl. Dabei handelte es sich um den dialogischen Text „Über Gewißheit“ von Ludwig Wittgenstein. Seine letzten Eintragungen hatte der analytische Philosoph noch zwei Tage vor seinem Tod angefertigt. Wittgenstein starb am 29. April 1951 in Cambridge an einer Krebserkrankung. Am 27. März 1951 hatte er unter Nummer „435.“ einen Gedanken notiert, den Reiprich in seinem letzten Lebensabschnitt für noch wichtiger hielt als die naturphilosophischen Ideen von Marx. Dieser Satz von Wittgenstein lautete: „Man wird oft von einem Wort behext. Z. B. vom Wort 'wissen'.“

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In der DDR rauchte Reiprich Karo-Zigaretten
In der DDR rauchte Reiprich Karo-Zigaretten

Das Wort „wissen“ und der Satz, dass ich etwas weiss, sowie die Frage, was wir wie wissen können, werfen bereits viele Probleme auf und noch behexter wird es, wenn – wie einst in den Staaten des Realsozialismus – von einer „wissenschaftlichen Weltanschauung“ die Rede ist. Diese Weltanschauung hatte ich mir nun aber durch das Studium an der damaligen Karl-Marx-Universität in Leipzig zu eigen gemacht und gar geglaubt, mir weltoffene Bildung angeeignet zu haben. Da sich mir 1974 die Chance eröffnete, nach dem Abschluss der Ausbildung an der Bergakademie Freiberg in der dortigen Sektion für Marxismus-Leninismus als Philosoph bei Kurt Reiprich zu arbeiten, las ich sein Buch über „Die philosophisch-naturwissenschaftlichen Arbeiten von Karl Marx und Friedrich Engels“, das im Jahr 1969 im Dietz Verlag im östlichen Berlin erschienen war. In diesem Buch entwickelte der Autor die Ansicht, dass die „Vereinigung von Materialismus und Dialektik zu einer einheitlichen dialektisch-materialistischen Weltanschauung“ geführt habe und die Ausgangsbasis bilde für „die Integration der Naturdialektik in den dialektischen und historischen Materialismus“. Obwohl dieses Glaubens- und Sprachgebäude mit dem Konstrukt einer wissenschaftlichen Weltanschauung sich im Verlauf des Untergangs des Real- und Staatssozialismus in Luft auflöste, hatte mein Lehrer Reiprich 1968 in seinem Buch wie generell in seiner akademischen Lebensarbeit eine Frage gestellt, die auch jenseits des verblichenen Marxismus-Leninismus immer noch von Bedeutung ist und durchaus noch diskutiert wird. Sie lautet: „Warum haben Marx und Engels derart kontinuierlich philosophisch-naturwissenschaftliche Probleme studiert?“ Das Verdienstvolle im Schaffen von Reiprich war, dass er, wie der Philosoph Martin Koch rückblickend herausstellt, bereits während der 60iger Jahre des 20. Jahrhunderts bestrebt war, „ein möglichst detailliertes Bild über die philosophisch-naturwissenschaftlichen Arbeiten von Marx und Engels“ zu erarbeiten. Dabei bewies Reiprich nicht nur kriminalistisches Gespür, sondern er hatte auch einen überraschenden Erfolg, der ihn inmitten der DDR zu einem Marx-Forscher von Format machte. Als ich ab September 1974 in Freiberg zu meinem akademischen Lehrer in die Vorlesungen zur marxistisch-leninistischen Philosophie ging, die er vor Studenten der Geologie hielt, staunte ich nicht wenig. Im Studium in Leipzig hatten wir gleich im ersten Studienjahr Abschnitt für Abschnitt und Woche für Woche den ersten Band des Werkes „Das Kapital“ gelesen und durchgesprochen, aber dass sich Marx angefangen von Alexander von Humboldts Werk „Kosmos“ bis zu dem Bestseller von Charles Darwin über „Die Entstehung der Arten“ mit den Naturwissenschaften seiner Epoche auseinandergesetzt hatte, das war mir in Leipzig nicht aufgegangen. Folglich war ich überrascht, als ich in der Vorlesung meines Lehrers in Freiberg lernte, dass Marx noch im Alter von 60 Jahren in London 1878 im Britischen Museum ein Lehrbuch der Geologie durchgearbeitet hat.

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 Karl Marx 1882. Er wurde vor 200 Jahren am 5. Mai 1818 in Trier geboren.
Karl Marx 1882. Er wurde vor 200 Jahren am 5. Mai 1818 in Trier geboren.

In seiner Studie aus dem Jahr 1969 schildert Reiprich „die auffällig intensive Beschäftigung von Karl Marx mit Fragen der Geologie“. Er vertrat die Ansicht, Marx habe die naturkundlichen Studien über Erddynamik und Vulkanismus unternommen, „weil die Geologie in ihrer Verflechtung mit Paläontologie, Mineralogie und Petrographie einen der wesentlichen Nachweise für die Einheit von Materie und Bewegung“ erbracht habe. Diese Aussage muss nicht in das Sprachgebilde des dialektischen und historischen Materialismus eingebunden werden, das nicht nur eine Wissensform, sondern nicht minder eine zivilreligiöse Glaubensform war. Die zitierte Aussage über die Einheit von Materie und Bewegung kann bruchlos als Ausdruck einer dynamischen Darstellung der Wirklichkeit gelesen werden, wie sie im Deutschen Idealismus ansatzweise von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in seinen Leipziger Anmerkungen über die Erdentstehung, vor allem aber von Georg Wilhelm Friedrich Hegel ausgearbeitet wurde. Bereits in Jena war Hegel Mitglied der Herzoglichen Mineralogischen Gesellschaft. In seinen Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Natur (1825/26) behandelte Hegel unter dem Stichwort „Geologischer Organismus“ das akute „Bedürfnis“ der geologischen Wissenschaften, „die Entstehung der Erde, den Bildungsprozeß, zu wissen, den Stufengang in der Produktion dieser Unterschiede, deren System sie ist“. Es war nicht so, wie gern behauptet wird, dass Hegel der Natur ihre Geschichte absprach. Im Gegenteil; der Denker aus Stuttgart erklärte in Berlin mit Blick auf Gebirge wie den Harz die Geltung des dynamischen Denkens in der Geologie mit dem starken Hinweis: „Das ganze Aussehen der Gebirge zeigt wesentlich geschichtliche Revolutionen.“ Auf dem Hintergrund des Interesses von Hegel an den Erdwissenschaften erweist sich Marx als ein nicht minder dynamischer Denker; eine geistige Einstellung, der Friedrich Nietzsche den wohl berühmtesten Ausdruck verlieh, wenn er seinen Zarathustra sagen ließ: „Ich schwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu und glaubt Denen nicht, welche euch von überirdischen Hoffnungen reden!“

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Mein Lehrer Reiprich hätte Michael Quante von der Universität Münster, der gerade sein Buch „Der unversöhnte Marx“ (2018) im mentis Verlag publiziert hat, vehement zugestimmt, wenn dieser die Aufgabe stellt, „den Kern des Marxschen Denkens als Philosophie“ zu rekonstruieren. Er hätte auch den Grundsatz der Kontinuität aufgegriffen, wonach bei Marx „auf der fundamentalen begrifflichen Ebene eine Kontinuität zentraler philosophischer Thesen und Denkmotive“ festzustellen sei. Reiprich stritt als Marx-Forscher für die analoge These, dass der Denker aus Trier in seinem Philosophieren seit den Pariser Manuskripten von 1844 und den dortigen zentralen Notizen zur „Geognosie“ - das heißt der „Wissenschaft, welche die Erdbildung, das Werden der Erde als einen Proceß, als Selbsterzeugung“ darstellt - bis hin zu den Londoner Exzerpten dem Fluss des erdgeschichtlichen Geschehens auf der Spur blieb. Die Auszüge aus den Werken von Carl Fraas „Klima und Pflanzenwelt in der Zeit“ im Jahr 1868 und von Joseph Beete Jukes „The student's Manual of Geology“ im Jahr 1878 atmen immer noch den Geist der Pariser Manuskripte. Durch das Team um die Berliner Philosophin Anneliese Griese wurde die aufwendige Editionsarbeit der geologischen Exzerpte im Rahmen der Marx-Engels-Gesamtausgabe im Jahr 2011 zum Abschluss geführt. Angesichts des langen Weges bis zu diesem Resultat offenbart sich das Verdienst des damaligen Professors der Bergakademie Freiberg, der durch seine „Übersicht über die zeitliche Gruppierung unveröffentlichter Dokumente und Materialien von Karl Marx und Friedrich Engels zum Studium philosophisch-naturwissenschaftlicher Probleme“ mehr als vierzig Jahre vor der Edition auf den Schatz der Exzerpte von Marx zur Geologie öffentlich aufmerksam gemacht hat.

Es war keineswegs so, dass Reiprich nach der Friedlichen Revolution und nach dem Wiedergewinn der politischen Einheit in Deutschland auf der Geltung des dialektischen und historischen Materialismus und auf einem Beibehalten des Szientismus in den Farben der DDR bestanden hätte. Das Gegenteil war der Fall. Bereits inmitten der DDR – erst in Jena und dann in Freiberg sowie seit 1977 in Leipzig - war Reiprich nie nur in der Sprache des Marxismus heimisch, sondern war ein gerade auch in der katholischen Theologie und Philosophie belesener Mann. Nicht zuletzt im Umfeld der Konferenz mit dem Naturphilosophen Carl Friedrich von Weizsäcker vom April 1988 an der damaligen Karl-Marx-Universität dachte Reiprich auf neue Weise „Über das Verhältnis von naturwissenschaftlicher und philosophischer Frage“ nach. Der neue und unbekümmerte Horizont philosophischen Fragens hinderte uns aber am 5. April 2011 nicht, dass ich mit meinem akademischen Lehrer darüber sprach, wie er denn überhaupt im Verlauf der 60iger Jahre des 20. Jahrhunderts auf die Idee gekommen ist, nach unveröffentlichten Exzerpten von Marx über Dialektik und Naturwissenschaften zu fahnden. Wir kamen dadurch über eine Phase seiner Biographie ins Gespräch, die ich noch nicht miterlebt hatte, da ich einer jüngeren Generation angehöre.

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Mein Lehrer studierte von 1952 bis 1957 in der Klassiker-Stadt Jena Philosophie und Germanistik. Sein Studium fiel in die Zeit, als die politischen Angriffe der Parteiführung der SED gegen den Leipziger Philosophen Ernst Bloch ihren Höhepunkt erreichten. Vor der Wende hat mein Kollege nicht darüber gesprochen, aber nach der Friedlichen Revolution holte Reiprich dies nach. Er schwieg nicht. Reiprich berichtete darüber, wie es war, als der kluge wie aufmüpfige Assistent Günter Zehm im Jahr 1957 als Bloch-Schüler in Jena erst aus der Einheitspartei ausgeschlossen und dann ins Zuchthaus gesteckt wurde. Eine bedrückende Erinnerung. Nach dem Studium in Jena ging Reiprich an das Institut für Gesellschaftswissenschaften der Bergakademie Freiberg. Der philosophisch nicht nur an Marx, sondern seit dem Studium – nicht zuletzt durch Diskussionen mit Zehm - auch an Karl Jaspers mit der Frage nach den unabweisbaren Grenzsituationen unseres Daseins interessierte Marxist sollte sich in der ideologischen „Praxis“ bewähren. Der Philosoph verstummte nun aber nicht an der montanwissenschaftlichen Hochschule, an der einst Alexander von Humboldt studiert hatte, sondern ging in seiner Publizistik auf den Erkenntnis- und Gesetzesbegriff des Naturforschers Humboldt zurück. Seinen Doktorgrad erlangte Reiprich am 19. April 1962 an der Universität Jena mit einer Arbeit zu dem Thema „Der wissenschaftliche Gesetzbegriff in den Werken von Karl Marx und Friedrich Engels in der Zeit bis 1848 (unter besonderer Berücksichtigung des Manifests der Kommunistischen Partei)“. Die Habilitation errang der aufstrebende Philosoph am 3. Oktober 1966 an der Humboldt-Universität Berlin. Als Aspirant am damals legendären Lehrstuhl von Hermann Ley, der sich philosophischen Fragen der Naturwissenschaften widmete, verteidigte Reiprich eine Arbeit über „Die Beziehung der marxistischen Philosophie zur Entwicklung der Naturwissenschaften in der Periode 1871-1895“. Doch um die theoretischen Überlegungen darüber zu testen, wonach sich Marx vermutlich intensiver als zuvor angenommen mit den zeitgenössischen Naturwissenschaften beschäftigt habe, musste die empirische Probe gewagt werden.

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Er philosophierte beim Wandern.
Er philosophierte beim Wandern.

Der Impuls für ein „Zurück zu den Quellen!“ kam bei einer Tasse Kaffee in Freiberg. Das erfuhr ich zu meiner Überraschung auch am 5. April 2011. Die Episode ist schnell erzählt: Der österreichische Marxist Walter Hollitscher besuchte während der 60iger Jahre die Bergakademie Freiberg zu einem Vortrag. Von dem Autor war im Jahr 1965 in Wien ein Buch über „Die Natur im Weltbild der Wissenschaft“ in dritter und erweiterter Auflage erschienen. Reiprich saß mit Hollitscher im Café Hartmann am Markt der Bergstadt Freiberg. Das Café besteht noch heute. Dem Philosophen aus Österreich erzählte der junge Kollege, dass es seiner Ansicht nach wichtig wäre, einmal genauer zu prüfen, in welchem Umfang sich Marx über die Naturwissenschaften seiner Zeit informierte. Hollitscher gab den Rat, dass eine Recherche im Archiv in Amsterdam die Antwort ermöglichen würde, aber die erforderlichen Materialien könnten auch in Moskau liegen. Amsterdam war für den jungen Marxisten der DDR nicht erreichbar, während die Dokumente heute im Internet einsehbar sind. Für Reiprich eröffnete sich aber der Weg nach Moskau in das Parteiarchiv, wo die einschlägigen Kopien in der Tat vorhanden waren. Hätte ich meinen akademischen Lehrer nicht zum Interview besucht, wäre diese Geschichte verloren gegangen, die im Café Hartmann spielte. Kurt Reiprich starb am 21. Juni 2012 in Leipzig. Unser Treffen vom April 2011 war unsere letzte Zusammenkunft. Mein Lehrer schenkte mir damals einen Artikel aus dem Jahr 1968, der in einer geologischen Fachzeitschrift aus Anlass des 150. Geburtstages von Marx erschienen war. Der Titel lautet: „Das Studium geologischer Arbeiten durch Karl Marx“. Ein Gedanke meines Professors blieb mir seit dem Frühjahr 2011 besonders in Erinnerung. Er sagte etwas, das heute so erscheint, als hätte er von einem Buch wie „Der unversöhnte Marx“ von Quante geträumt. Der kleine Reiprich sprach zu unserem Abschied: „Es wäre dringend erforderlich, wenn wir mit unserem Gewissen ins Reine kommen wollen, dass wir eine vernünftige und abgewogene Rezeption des Marxschen Erbes vollziehen fernab von jeder Sozialismusgläubigkeit, fernab von jeder Kapitalismusgläubigkeit.“

22. März 2018

Bildnachweis

Der Autor dankt Frau Michaela Chrost, Tochter von Kurt Reiprich, für die Nutzungsrechte der Fotos ihres Vaters.

Karl Marx: Wikimedia Commons, gemeinfrei

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