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N wie Ninive
Erzählungen

In metaphorisch einprägsamen Stil  werden verschiedene Schicksale erzählt, die ihren Haupthelden alles abverlangen, sie an ihre Grenzen bringen. Bei der Frage nach der Schuld, nach Gerechtigkeit und Gott verstricken sich Zukunft und Vergangenheit. 

"Er hat einen eigenen Ton, ein bisschen mecklenburgisch erdenschwer, aber dann auch wieder sehr poetisch"

Frankfurter Allgemeine 07.10.2014 Nr. 232 S. 10 

Erich Zeigner und die Bürger von Calais

Erich Zeigner und die Bürger von Calais

Dr. Manfred Hötzel

Erich Zeigner Foto: Archiv Alfred Siercke, Hamburg
Erich Zeigner Foto: Archiv Alfred Siercke, Hamburg
"Leipzig muß mehr werden als es war. Es muß das Zentrum werden des mitteldeutschen Raumes. Alle Voraussetzungen dafür sind da. Unsere Stadt hat nicht die Vorteile, die manche andere Stadt für sich in Anspruch nehmen kann. Die Stadt liegt nicht an einem großen Strom. Sie ist nicht Sitz einer Regierung und genießt infolgedessen nicht die Förderung durch das ganze Land. Aber sie hat eines, darin liegt ihre Geschichte begründet und das ist die Hoffnung für die Zukunft: Sie hat Tausende und Abertausende von Menschen, die gewohnt sind, selbst anzufassen und ihr Schicksal in die Hand zu nehmen."
Wer glaubt, im Vorstehenden einen Stadtpolitiker von heute zu hören, der irrt nur hinsichtlich des Zeitpunktes. Das Zitat stammt aus der Einleitung zum Rechenschaftsbericht des Oberbürgermeisters Erich Zeigner für das 1. Halbjahr seiner Tätigkeit, den er vor rund 65 Jahren, am 26. Januar 1946, auf einer Kundgebung im Leipziger Schauspielhaus gab.
Erich Zeigner hatte einen langen Weg zurückgelegt, ehe er auf diese Position gekommen war und sich nun verpflichtet und in der Lage sah, seinen Mitbürgern angesichts von Not und Elend nach der Katastrophe des 2. Weltkrieges Hoffnung zu vermitteln und Mut zu machen.
Schon einmal hatte er auf hervorgehobener Position gestanden. 1923 befand er sich auf dem Höhepunkt einer innenpolitischen Krisesich kurzzeitig als sächsischer Ministerpräsident  im Zentrum dramatischer Auseinandersetzungen. Damals war er gescheitert.
Der 125. Geburtstag soll Anlaß für einen kurzen Blick auf ein exemplarisches Leben sein.

Werdegang
Erich Richard Moritz Zeigner wurde am 17. Februar 1886 in Erfurt geboren. Sein Vater war ein gutsituierter Kaufmann, der 1894 nach Leipzig zog und hier eine Holz- und Kohlenhandlung führte. Kindheit und Jugend des Sohnes Erich verliefen glücklich. Er studierte Jura und Volkswirtschaft an der Universität Leipzig bei berühmten Gelehrten. Auch musisch begabt, erlernte er das Klavierspiel und gab später gern Hauskonzerte.
Als Assessor an verschiedenen sächsischen Amtsgerichten schlug Zeigner die übliche Laufbahn ein. Nach der Promotion zum Dr. jur. und der 2. juristischen Staatsprüfung wurde er 1913 Staatsanwalt und später Richter am Landgericht Leipzig. Bildungserlebnisse, politisches Interesse und das Schicksal des Bruders, der als Soldat im 1. Weltkrieg tödlich verwundet worden war, führten ihn 1919 in die SPD. Das war eine Entscheidung gegen seine Herkunft und sein berufliches Umfeld. Von seinen Kollegen als "roter Moritz" bespottet, von seinen Genossen als "Novembersozialist" skeptisch betrachtet, machte er eine steile Karriere. Im Alter von nur 35 Jahren wurde er zunächst Justizminister und 1923 mit 37 Jahren Ministerpräsident des Landes Sachsen.

1923 - Zwei Todsünden
Erich Zeigner geriet mitten in die scharfen politischen und sozialen Konflikte der Weimarer Republik, die sich durch starke Polarisierung auszeichneten. Er nahm eindeutig Partei für die "republikanische und proletarische " Seite. Er verfocht in der Landesregierung selbstbewußt ein konsequent demokratisches und republikanisches Programm. Als Ministerpräsident bezog er die KPD in das parlamentarische System ein. Er schreckte auch nicht davor zurück, die geheime Aufrüstung der Reichswehr offen anzuprangern. Das machte ihn in ganz Deutschland bekannt und bei allen Gegnern der Weimarer Republik, besonders in der Reichswehr und in den reaktionären Geheimorganisationen, verhasst. Zwar erhielt er die Zustimmung von Demokraten und Republikanern wie z. B. der Schriftsteller Heinrich Mann und Fritz von Unruh, doch "in einer amtlichen Stellung blieb er der einzige Mann", der die faschistische Gefahr frühzeitig erkannte und offen benannte.

Es war leicht, ihn zu verdrängen. Auch der Parteivorstand der SPD ließ ihn im Stich. Die
Reichsregierung setzte mit Hilfe der Reichswehr über eine sog. Reichsexekution die sächsische Landesregierung unter Zeigner ab. Die Aktion war nur scheinbar legal. In Wahrheit verletzte die Reichsregierung mit der Reichsexekution die Verfassung, denn die Landesregierung Zeigner agierte im parlamentarischen Rahmen.
Der politische Sturz genügte seinen Gegnern nicht. Sie wollten ihn auch moralisch vernichten.
Ein geplanter Prozess wegen Landesverrat am Reichsgericht kam nicht zustande. So sollte wenigstens seine persönliche Ehre geschädigt werden. Er hatte als Justizminister Tausende wegen Bagatelldelikten Verurteilte begnadigt. Einige hatten ihm als Dank kleine Geschenke zukommen lassen, deren Annahme Zeigner stets bestritt. Er wurde in einem Aufsehen erregenden Prozeß wegen angeblicher Bestechlichkeit (und Aktenunterschlagung) zu drei Jahren Gefängnis und Ehrenrechtsverlust verurteilt. Auch seine Pension wurde ihm aberkannt.
Sein Schicksal war Mitte der 1920er Jahre Tagesgespräch. Während der Prozess gegen Zeigner am Landgericht lief, sei Leipzig im Vorfrühling 1924 "voll des Anti-Zeigner-Lärmes", schrieb der Kabarett-Autor Rolf A. Sievers in der Satire-Zeitschrift "Der Drache". In den folgenden Jahren zogen die bürgerlichen Parteien in Sachsen mit den Losungen "Nie wieder Zeigner-Zeit! Nie wieder Sowjet-Sachsen !" in die Wahlkämpfe.

Nach einer Amnestie vorzeitig entlassen, blieb Zeigner nach dem tiefen Fall eine politisch führende Rolle verwehrt. Aber er beugte sich nicht. Er führte das bescheidene, jedoch lehrreiche und interessante Leben eines Parteiarbeiters für die SPD als Wanderredner, Redakteur und Rechtsberater. Frühzeitig hatte er vor Militarismus und Faschismus gewarnt - vergeblich. 1932 und nochmals im Februar 1933 unterzeichnete er einen "Dringenden Appell" des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes, gemeinsam mit bekannten Intellektuellen und Sozialisten gegen die Machtergreifung der Nazis und für die Einheit der Arbeiterparteien, der aber ohne Echo blieb. Die Jahre im Faschismus brachten ihm neue Demütigungen, Verfolgung und Gefängnis. Wieder blieb er aufrecht. Er sah diese Zeit auch als Prüfung und Vorbereitung für zukünftige Aufgaben, die er ersehnte.

Zeigner als Redner  Foto: Archiv Alfred Siercke, Hamburg
Zeigner als Redner Foto: Archiv Alfred Siercke, Hamburg
An der Spitze der Stadt Leipzig
1945 erfüllte sich diese Hoffnung. Das Jahr brachte nicht nur die Befreiung, sondern auch Berufung in ein Amt, das seiner Person, seinen Fähigkeiten und Wünschen entsprach. Als Oberbürgermeister von Leipzig konnte er seine juristische Fachkenntnis, sein Redner- und Organisationstalent entfalten. Er sah diese Berufung auch als Rehabilitierung für die Schmach der Vergangenheit und verzichtete auf eine förmliche Wiederaufnahme des Skandalverfahrens von 1924. Lieber stürzte er sich in die Arbeit.
Die Nachkriegssituation mit ihrer materiellen und geistigen Not unter den Bedingungen der sowjetischen Besatzung lässt sich heute nur schwer nachvollziehen. Am wichtigsten war es, die Trümmer zu beseitigen und die elementaren Bedürfnisse an Wohnung, Nahrung und Versorgung zu befriedigen. Für Zehntausende Umsiedler, Flüchtlinge und Heimkehrer mussten Unterkunft und Verpflegung organisiert werden. Wichtige Kulturstätten wie das Schauspielhaus und das Grassi-Museum waren wieder aufzubauen. In der Zusammenarbeit der antifaschistischen Parteien SPD, KPD, CDU, LDPD und vieler ehrenamtlicher Helfer gelang es, die größten Probleme zu bewältigen. Leipzig galt in kurzer Zeit als die deutsche Stadt, in der die Trümmer des Krieges beseitigt waren. Ein annähernd normales Funktionieren des städtischen Lebens war geschafft. Überregionales Aufsehen erregte die Wiedereröffnung der Universität am 5. Februar 1946 und die ersten Messe im Frieden im Mai 1946. Zeigner war dabei nicht nur Repräsentant der Stadt, er war auch der respektierte Chef der Verwaltung, der viele Fäden in der Hand hielt, ohne die Leistungen anderer zu schmälern.

Die Wirkung Erich Zeigners beruhte auch auf seinem rhetorischen Talent, das er in seiner Berufslaufbahn schulen konnte. Eine vielseitige Bildung und lebenslange umfangreiche Studien boten einen unerschöpflichen Stoff. Flüssiger Vortrag, geschickter Aufbau und eine klangvolle Stimme fesselten die Zuhörer.

Nicht nur die Normalisierung des städtischen Lebens lag Erich Zeigner am Herzen; in der Hoffnung auf ein neues Deutschland trat er für die gesellschaftliche Umgestaltung ein. Das hieß damals Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher, Bodenreform und Entnazifizierung von Verwaltung, Schule und Justiz. Als Jurist sah er es als besonders notwendig an, Rechtsnormen als Maßstab des Handelns durchzusetzen. Im sächsischen Landtag war er Mitgestalter neuer Gesetze über Verfassung, Gemeindeordnung und Verwaltungsgerichtsbarkeit. Diese wichtigen Rechtsinstitutionen wurden leider nach wenigen Jahren missachtet und beiseite geschoben. Immer neue Aufgaben lud er sich auf. 1947 nahm er eine Berufung als (nebenamtlicher) Professor an die Universität Leipzig an. Die Vorlesungen über Verwaltungslehre sollten helfen, den dringend gebrauchten Nachwuchs für die Verwaltung auszubilden. Auch hier schien sich sein Jugendtraum, eine akademische Laufbahn, doch noch zu erfüllen.

Gesamtdeutscher Ministerpräsident ?
Erich Zeigner stand für eine noch größere Aufgabe bereit. 1946 gab es noch Hoffnung auf eine gesamtdeutsche Regierung. Deren Ministerpräsident sollte Zeigner werden. Seine Führungsqualitäten hätten ihn dazu befähigt, vor allem aber seine eigenständige Position als freiheitlicher Sozialist, der er geblieben war. Das schien ihn den westlichen Alliierten akzeptabel zu machen, wie ihn andererseits die Sowjetunion befürworten konnte, da er kein Antikommunist war. Dass sich nicht alle Hoffnungen dieser Zeit erfüllten, ist nicht Zeigner anzulasten.

 

Die Bürger von Calais Denkmal in London Foto: Wikipedia gemeinfrei
Die Bürger von Calais Denkmal in London Foto: Wikipedia gemeinfrei
Neue Konflikte
Er widmete sich weiter mit aller Kraft seinem geliebten Amt als erster Bürger und Diener seiner Stadt. Aber auch hier blieb ihm Resignation nicht erspart. Ab Sommer 1948 geriet er in ernste Widersprüche mit der SED. Die Vereinigung von KPD und SPD zur SED hatte er noch unterstützt, weil er sie als Lehre aus den Erfahrungen der Weimarer Republik betrachtete. Er war der Partei verbunden. Nun setzte sich in der" Partei neuen Typs" der Stalinismus durch. Funktionäre stellten ihn vor die Alternative: Wer führt in der Stadt, die Partei oder die Verwaltung? Selbst ein Oberbürgermeister Zeigner sollte die führende Rolle der Partei, d. h. des Parteiapparates, ohne Abstriche anerkennen. Politisch hätte er diesen Anspruch wohl hingenommen, denn er versuchte weiterhin im Sinne der kommunalen Selbstverwaltung allein für die Interessen der Stadt zu wirken. Aber als unsachliche Einmischung in die Verwaltung oder als Angriff auf seine persönliche Integrität lehnte es diesen Anspruch ab. Wieder stand er allein, wenn auch unter anderen Bedingungen als 1923. Bevor der politische Gegensatz offen ausbrach, erkrankte Erich Zeigner schwer. Er starb am 5. April 1949 im Diakonissen-Krankenhaus. Nach einem Staatsakt in der Kongresshalle wurde er auf dem Südfriedhof im Familiengrab beigesetzt.
Die ungeheuren Schwierigkeiten der Nachkriegszeit und der frühe Tod ließen sein Werk, das neue Leipzig zu schaffen, unvollendet.

Vermächtnis
Wenn von Erich Zeigner die Rede ist, wird oft das Schiller-Wort aus dem Prolog zu "Wallenstein" zitiert: "Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte." Das Urteil soll zumeist Zeigners Rolle 1923 treffen, wird aber auch auf seine Zeit als Oberbürgermeister bezogen. Wird ihm das Zitat gerecht?
Trotz eines zweifachen Scheiterns - Erich Zeigner war eine bedeutende, aber auch tragische Figur der deutschen Geschichte und der Leipziger Stadtgeschichte. Als politische Persönlichkeit mutig und verantwortungsbewusst, auch ehrgeizig und machtbewusst, aber nicht skrupellos. Nicht Macht über oder gegen Menschen war Hauptmotiv seines Handelns. Das wird an einem eher nebensächlichen, aber viel sagenden Detail deutlich: 1945 ließ Zeigner eine Figur aus der berühmten Bronzegruppe "Die Bürger von Calais" des französischen Bildhauers Auguste Rodin in sein Arbeitszimmer im Neuen Rathaus stellen. Es war die Figur des Schlüsselträgers, der die Gruppe anführt. Es handelt sich um eine Replik aus der Sammlung des Museums der bildenden Künste Leipzig. Rodin stellt ein Ereignis aus dem hundertjährigen Krieg Frankreichs mit England im 14. Jahrhundert dar. Angesehene und opferwillige Bürger der Stadt Calais lieferten nach elfmonatiger Belagerung sich und den Schlüssel der Stadt dem englischen König Edward III. aus. Sie retteten damit ihre Stadt und erwarteten den Tod. In den Bürgern von Calais sah Erich Zeigner sich selbst. Wie bei ihnen war sein Handeln vom Gedanken der Verantwortung für andere bestimmt, das auch das eigene Opfer einschloß. Im Schlusswort einer Tagung von Juristen 1947 rief er seinen Zuhören zu: „Das ist es, worum ich Sie bitte: Wir alle müssen lernen, dass die Not es uns verbietet, kategorisch verbietet, eine private Existenz zu führen. Unsere Generation hat das Unheil geschaffen, und es ist nicht bloß unabweisbare Pflicht, nein, Genossen, es ist das große Geschenk, das uns gegeben ist: Wir können und wir wollen eine bessere Ordnung durch unsere aufopferungsvolle Bemühung wieder aufbauen!"

Literatur
Matthes, Anneliese u. Lothar: Erich Zeigner. Eine biographische Skizze, Hrsg.: SED-Stadtleitung Leipzig, Leipzig (1985), Br., 8°, 48 S., Abb.
Rudloff, Michael (Hrsg.): Erich Zeigner - Bildungsbürger und Sozialdemokrat, Leipzig: Friedrich-Ebert-Stiftung, Büro Leipzig (1999), Br., 8°, 234 S., Abb. [enthält Spezialbeiträge zu Leben und Werk Erich Zeigners]
Schmeitzner, Mike: Erich Zeigner. Der Linkssozialist und die Einheitsfront, in: Schmeitzner, Mike / Wagner, Andreas (Hrsg.): Von Macht und Ohnmacht. Sächsische Ministerpräsidenten im Zeitalter der Extreme, Sax-Verlag, Beucha 2006, Ln., 8°, S. 125-158
Hötzel, Manfred: Erich Zeigner und die Bürger von Calais. Zum 125. Geburtstag von Erich Zeigner, Hrsg.: Fraktion der Linkspartei im sächsischen Landtag, Dresden 2011, Br., 8°, ca. 75 S., Abb. [enthält außer dem obigen Beitrag eine Biografische Chronik, ein Verzeichnis von Zeigner-Gedenkstätten und -orten, eine Zeigner-Bibliografie sowie einen dokumentarischen Anhang mit den wichtigsten Reden Erich Zeigners in Originalfassung, davon einige bisher unveröffentlicht]

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