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Tee mit der Königin

Kurzgeschichten aus Wales herausgegeben und übersetzt von Frank Meyer und Angharad Price.

Hugo Gaudig und sein Werk

Hugo Gaudig und sein Werk

Prof. em. Dr. habil. Annemarie Mieth

Am 5. Dezember 1860 wurde Hugo Gaudig in Stöckey geboren, am 2. August 1923 starb er in Leipzig. Aus Anlass seines 150. Geburtstages werden drei Artikel zu Hugo Gaudig veröffentlicht, die Prof. em. Dr. Annemarie Mieth verfasst hat:
Leipzig, Döllnitzer Straße 2
Hugo Gaudig und sein Werk
Rosemarie Sacke-Gaudig über ihren Vater
Der Jubilar hatte zuweilen schon zu seinen Leb- und Wirkungszeiten über die Undankbarkeit der Landsleute geklagt und die Stadt Leipzig ringt immer noch damit, ob nicht wenigstens eine Gedenktafel an sein Wirken erinnern sollte.
Hugo Gaudig am Schreibtisch mit Orden 1916  Quelle: Hella Bauer, geb. Weise
Hugo Gaudig am Schreibtisch mit Orden 1916 Quelle: Hella Bauer, geb. Weise
Als Hugo Gaudig 1908 mit seinen Schülerinnen den Neubau in der Döllnitzer Straße 2 bezog, hatte er - nach dem Studium der Philologie und Theologie in Halle, einem Probejahr an den dortigen Franckeschen Stiftungen und einer vierjährigen Direktorentätigkeit an dessen Höherer Mädchenschule - seit 1900 die II. Höhere Mädchenschule und das an sie angeschlossene Lehrerinnenseminar in Leipzig geleitet. Vor allem aber war er zu dieser Zeit bereits mit wirkungsvollen Veröffentlichungen hervorgetreten: 1904 waren die „Didaktischen Ketzereien" erschienen, 1908 folgten die „Didaktischen Präludien". Besonders die erstgenannte Schrift ist von großer Ausstrahlung und teilweise überraschender Aktualität. „Breite Schichten unseres Volkes lassen sich ihre Meinungen machen, statt sie sich zu bilden. Aus dieser selbstverschuldeten Unmündigkeit muss das deutsche Volk heraus" schreibt Gaudig im Vorwort zur ersten Ausgabe der „Ketzereien" und steckt damit gleichsam den Rahmen seiner lebenslangen pädagogisch-kulturpolitischen Bemühungen ab. Es brauche ein „Denkenwollen" und „freies Denkenkönnen", welches die Schule, insbesondere die höhere Mädchen- und die höhere Knabenschule, auszubilden habe. Wenn sich Gaudig schon 1908 im Vorwort zur zweiten Ausgabe gegen den Vorschlag wehren muss, seine Schrift in ‚Didaktische Selbstverständlichkeiten‘ umzubenennen, zeigt das, dass er einen empfindlichen Nerv getroffen hat. Und er ist keinesfalls bereit, dem versteckten Vorwurf nachzugeben - im Gegenteil: das von ihm verfolgte Prinzip der Selbsttätigkeit nennt er nicht nur ein erzketzerisches, sondern ein revolutionäres.
Das Lehrerkollegium   Quelle: Schulmuseum Leipzig
Das Lehrerkollegium Quelle: Schulmuseum Leipzig
Selbsttätigkeit! Gaudig setzt in der gegenwärtigen Schulwirklichkeit, beim didaktischen Alltag an: Warum wirkt die Lehrerfrage so oft als brutale, auswendig Gelerntes erwartende Forderung, nicht aber als Wegbereiter selbständigen Denkens der SchülerInnen? Wie kann sich der Lehrer vom geistigen Zuchtmeister, der die Intelligenz zu Tode fragt, zum aktiven Zuhörer verwandeln? Unter welchen Bedingungen finden die SchülerInnen in freispielendem Denken selbst Ziele und Wege, die der entsprechende Stoff für sie bereit hält? Welche Rolle spielen das nachsinnende Lesen, aber auch feste Fragerichtungen und gattungsspezifische Fragepunkte sowie fachübergreifendes Aneignen im Unterricht? Dies sind einige der zentralen Themen, die Gaudig durchaus streitbar in den Anfangskapiteln der „Didaktischen Ketzereien" aufwirft. Seine Suche nach Lösungen macht einerseits deutlich, dass er sich zwar von der einschichtigen, absolut lehrerbetonten Lernschule Herbartianischer Prägung löst, andererseits jedoch die Stringenz, das in Phasen verlaufende Denken und Lernen Herbarts nicht über Bord wirft. Deutlich ist aber vor allem, dass sich Gaudig der Idee der Arbeitsschule verpflichtet fühlt - freilich nicht in einem veräußerlichten, rein manuellen Sinn, sondern primär als geistiges Tätigsein der SchülerInnen: als Form individueller geistiger Selbsttätigkeit. So führt er beispielsweise unter dem Untersuchungsgesichtspunkt der Arbeitsteilung und der Arbeitsvereinigung aus, wie sich die Individualität und die geistige Kraft des Einzelnen differenziert dem schulischen Stoff (Gaudig wählt meist das deutsche Drama als Unterrichtsbeispiel aus, da er sich damit besonders genau beschäftigt hatte ) zuwendet, zugleich jedoch die Integrierung, die Arbeit der Klasse im Auge behält, sie aufnimmt und voranbringt. Das Ziel, so Gaudig, sei die individuelle und gemeinsame Freude an gutem Lesestoff, und zwar über das Klassenzimmer hinaus, in das häusliche Leben hinein. Denn das war das übergreifende Ziel, das er, explizit dargelegt in seinem späteren Hauptwerk, von Beginn an verfolgte: die (Aus)Bildung der Gesamtpersönlichkeit der jungen Menschen über die Mauern der Schule hinaus.
Die Aula   Quelle: Schulmuseum Leipzig
Die Aula Quelle: Schulmuseum Leipzig
„Ein Buch, das zu einem guten Teil wider meinen Willen entstanden ist, lege ich meinen Lesern vor"  - mit diesem scheinbaren Paradoxon eröffnet Hugo Gaudig 1917 das Vorwort zur Erstausgabe seines Werkes „Die Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit". Er hatte es, wie er eigens hervorhebt, unter dem günstigen Umstand geschrieben, in seinem Kollegen und Redakteur der Zeitschrift für pädagogische Psychologie Otto Scheibner einen aufmerksamen Freund seiner Arbeit an der Seite zu haben; und dieser war es auch, der nach Gaudigs Tod im Jahre 1930 eine dritte, durch Straffungen verbesserte Auflage des Buches besorgte.
Konnte in den Frühwerken Gaudigs der Eindruck entstehen , dass er sich vornehmlich der höheren und der Mädchenbildung zuwandte, so setzt er in „Die Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit" mit Nachdruck einen anderen Akzent: es geht ihm um das gesamte Volksschulwesen, da er davon überzeugt ist, dass die Kulturkraft, die im Volke latent vorhanden ist, nicht genügend erkannt und ausgebildet wird. Dies aber sei die Aufgabe der Volksschule, und damit stehe das Kind, das seine Kraft zu entfalten jedwedes Recht habe, im Mittelpunkt eines bedeutsamen nationalen Werks. „Das Ziel aller Erziehung und aller Selbsterziehung ist mir die wertvolle Persönlichkeit"  - so formuliert Gaudig das Leitmotiv seiner umfangreichen Schrift. Folgerichtig tritt der fachdidaktische Zugriff, der die „Ketzereien" dominierte, zugunsten des kulturpolitischen und des persönlichkeitstheoretischen zurück. Ganz offenbar unter dem Eindruck, man bewerte seinen Zielbegriff als exklusiv, der zum Beispiel den arbeitenden Menschen des sog. vierten Standes ausschließe, unterstreicht er mit Nachdruck, dass „Persönlichkeit" nach seiner Auffassung zwar ein „aristokratisches Prinzip", seine Verwirklichung jedoch „nicht an die Zugehörigkeit zu einem Stande oder zu einer Klasse, auch nicht an ein höheres Maß von Besitz"  gebunden sei. Folgerichtig sieht er in der Volksschule eine entscheidende bildende Kraft und lehnt das, wie er betont, leider noch gängige Pathos der Distanz zwischen den einzelnen Schulformen ab. Vielmehr sollten sich alle für die Bildung Verantwortlichen einen Begriff von „Arbeitsschule" zu eigen machen, der die „Kultur der Selbsttätigkeit"  - synonym gebraucht Gaudig „Eigentätigkeit" und „Freitätigkeit" - zum Grundprinzip erhebt. Indem er verwandte Prämissen der „Didaktischen Ketzereien" weiter entwickelt, arbeitet er heraus, dass es nicht allein um die Bildung einer eigenständigen, individuell ausgeprägten Persönlichkeit gehen darf, sondern dass sich diese stets der Gemeinschaft zuwenden und sich deren Bildung verpflichtet fühlen müsse.
Denn das Gefüge, in dem und für das die jungen Menschen leben, erscheint Gaudig in seinem Spätwerk ungemein wichtig, und er sucht es umfassend und auf unterschiedlichen
Ebenen in das ihm vorschwebende Bildungswerk einzubeziehen: der einzelne Schüler und die Schulklasse, das Verhältnis von Elternhaus und Schule, Bezüge zwischen Familienleben und Schulleben, das Wirken der Lehrer und der Schulleitung, das Verhältnis von Pädagogik und Fachwissenschaft, wie es sich in der Aus- und Weiterbildung der Lehrer manifestiert , Schule und Gemeinde ebenso wie Schule und Staat - Gaudig stellt sehr umfassende, aber unbestreitbar wesentliche Zusammenhänge her, die die Schule im Dienste des Kindes zu verwirklichen habe. Gegen die „Schablonenkultur der großen technischen Epoche", die ihn ‚wider seinen Willen‘ zum Schreiben seines Buches gezwungen hat, will er dem persönlichkeitsfördernden „Kulturprinzip der Zukunft" Ziel und Methode geben.

 

Quellen

Gaudig, Hugo: Didaktische Ketzereien.2. Auflage Leipzig und Berlin: B.G.Teubner, 1909
                     Die Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit. 3. verkürzte Auflage, 8-10.
                     Tausend, besorgt von Prof. O. Scheibner. Leipzig: Quelle und Meyer, 1930.

Der Bertuch-Verlag dankt dem Schulmuseum Leipzig für die Bereitstellung der Bilder - www.schulmuseum-leipzig.de.

                  

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