Leipzig-Lese

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Büchner gilt unbestritten als Begründer der modernen deutschen Literatur. Lassen Sie sich auf eine Begegnung mit dem rebellischen Georg Büchner und seinem ungewöhnlichen Werk ein.

Silvia Frank: Kennst du Georg Büchner?
http://bertuch-verlag.de/194-0-Kennst-du-Georg-Buechner.html
ISBN 978-3-937601-87-8

Büchner und Leipzig

Büchner und Leipzig

Dr. Silvia Frank

Georg Büchner. Zeichnung von Hoffmann 1833. Quelle: Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf
Georg Büchner. Zeichnung von Hoffmann 1833. Quelle: Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf

Georg Büchner hat Leipzig nie kennen gelernt. Weder Büchners Verwandte noch Freunde haben in der Stadt gelebt. In seinen Werken wird sie nicht einmal erwähnt. Dennoch sind Leipzig und Büchner miteinander verbunden.

Diese Verbindung beginnt mit einem Mord am 3. Juni 1821 im Hausflur der Sandgasse in Leipzig. Das Opfer ist die 46jährige Witwe Johanna Christiane Woost. Der Mörder, der für die Tat eine abgebrochene Degenklinge benutzt, ist der arbeits- und obdachlose Friseur Johann Christoph Woyzeck. Er wird unmittelbar nach der Tat gefasst und gesteht.

Wie stets nach derartigen Verbrechen stehen der Lebensweg bis zur Tat und die Motive des Täters im Mittelpunkt der Öffentlichkeit. Der Lebensweg des Mörders Woyzeck unterscheidet sich kaum von dem anderer, die zu den Ärmsten zählen: Als 13jähriges Waisenkind beginnt er seine Lehre, findet keine feste Arbeit, landet beim Militär, zeugt ein Kind, darf nicht heiraten, leidet an Depressionen, wird Alkoholiker und straffällig, weist wiederholt alle Anzeichen einer Psychose auf.

Auch die Öffentlichkeit nimmt großen Anteil an diesem Kriminalfall.

Hinrichtung Woycecks auf dem Leipziger Marktplatz. Quelle: Stadtgeschichtliches Mueum Leipzig
Hinrichtung Woycecks auf dem Leipziger Marktplatz. Quelle: Stadtgeschichtliches Mueum Leipzig

Der Prozess gestaltet sich aber schwierig, da es ernsthafte Zweifel an Woyzecks Zurechungsfähigkeit gibt. Der Leipziger Stadtphysikus Prof. Dr. Johann Christian August Clarus, ein anerkannter Gerichtsmediziner, wird beauftragt, zwei Gutachten zu erstellen. Beide bescheinigen Woyzeck »moralische Verwilderung, Abstumpfung gegen natürliche Gefühle und rohe Gleichgültigkeit«, was für das Gericht eindeutig die Schuldfähigkeit des Täters belegt. Woyzeck wird zum Tode durch das Schwert verurteilt und am 27. August hingerichtet.

An diesem Tag schreibt der Leipziger Lehrer und Gelegenheitsdichter Ernst Anschütz in sein Tagebuch: »Das Schafott war mitten auf dem Markt gebaut. [...] Kurz vor halb 11 Uhr war der Stab gebrochen, dann kam gleich der Delinquent aus dem Rathause, [...] der Delinquent ging mit viel Ruhe allein auf das Schaffot, kniete nieder und betete laut mit viel Umstand, band sich das Halstuch selbst ab, setzte sich auf den Stuhl und rückte ihn zurecht, und schnell mit großer Geschicklichkeit hieb der Scharfrichter ihm den Kopf ab, [...] Dass vormittags keine Schule war, versteht sich.«

Szene aus dem Defa-Film "Wozzeck" 1947. Quelle: Filmmuseum Potsdam/DEFA-Stiftung
Szene aus dem Defa-Film "Wozzeck" 1947. Quelle: Filmmuseum Potsdam/DEFA-Stiftung

Nach Woyzecks Hinrichtung reißen die Diskussionen um seine Zurechnungsfähigkeit in medizinischen und juristischen Fachkreisen nicht ab.

Vermutlich wird im Elternhaus Georg Büchners, im hessischen Darmstadt dieser Aufsehen erregende Fall diskutiert. Denn von seinem Vater, der u. a. als Armenarzt praktizierte und als Gerichtsgutachter mit ähnlichen Fällen konfrontiert wurde, erfuhr Georg Büchner zeitig von der unvorstellbaren Not der Ärmsten und der aus diesen Lebensumständen resultierenden Gewalt, die vereinzelt in einem Mord gipfelte. Jahre später, als ihn sein Vater bereits auf den Arztberuf vorzubereiten begann, las er in der »Zeitschrift für die Staatsarzneikunde« das Clarus - Gutachten. Außerdem wird Büchner während seines Medizinstudiums durch ähnlich gelagerte Fälle wiederholt an den Leipziger Fall Woyzeck erinnert.

Im September 1836 schreibt der Dichter an seine Familie: »Ich habe meine zwei Dramen noch nicht aus den Händen gegeben, ich bin noch mit manchem unzufrieden[...]«

Eines dieser erwähnten Dramen scheint »Woyzeck« zu sein. Erst nach Büchners frühem Tod wurden die Manuskripte gefunden und entziffert. Auf Grund der unleserlichen Schrift geht das Drama bis 1920 als »Wozzeck« in die Literaturgeschichte ein.

Der Fall Woyzeck war für Büchner kein Einzelfall, sondern wird Anlass für die dramatische Umsetzung des Schicksals vieler Verzweifelter. Und das ist ein Grund, warum im Drama nicht Leipzig, sondern eine hessische Kleinstadt als Handlungsort gewählt wurde.

Bis heute, fast 100 Jahre nach der Uraufführung, sind Leser oder Zuschauer betroffen, wenn sie in Büchners »Woyzeck« die Entwürdigung des Menschen zum Objekt miterleben. Über die Betroffenheit hinaus durch die Analyse der Ursachen und Folgen gewinnt der Einzelne Einblick in das Funktionieren menschenverachtender Gesellschaftssysteme.

Kurzum, Büchners Woyzeck ist ein großartiges Stück der Weltliteratur, das seinen Anfang in der Sandgasse zu Leipzig nahm und in der aktuellen Inszenierung von »Büchner/Leipzig/Revolte« im Leipziger Centraltheater seine aktuelle Widerspiegelung findet.

 

Literatur:

Georg Büchner: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Hg von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm und Edda Ziegler. München (dtv) 2002

Alfons Glück: Der historische Woyzeck. In: Georg Büchner:1813-1837; Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler;[Katalog der Ausstellung Mathildenhöhe, Darmstadt, 2. August-27. September 1987] Verlag Strömfeld/Roter Stern 1987

Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Biographie. Verlag J .B. Metzler, Stuttgart; Weimar 1993

 

 

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