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Johannes E. R. Berthold
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Wittgensteins Frage nach den Farben

Wittgensteins Frage nach den Farben

Dr. Konrad Lindner

Gedanken zum Blumen- und Maljahr 2021

Christrosen
Christrosen

0. Fragestellung

Es lässt sich trefflich darüber streiten, ob Johann Wolfgang von Goethe bei seiner berühmten ersten Zeilen „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche ...“ den Main in seiner Geburtsstadt Frankfurt am Main, die Ilm in der Residenzstadt Weimar oder die Saale in der Universitätsstadt Jena im Blick hatte. In den folgenden Schlaglichtern soll ausgehend vom "Osterspaziergang" des Dichters zu Weimar eine andere Frage erörtert werden. Eine Frage, die der Philosoph und Logiker Ludwig Wittgenstein in einem seiner letzten Texte stellte. Im Kontext seiner "Bemerkungen über die Farben" (1950/51) fragte Wittgenstein: "Gibt es eine 'Naturgeschichte der Farben', und wieweit ist sie analog einer Naturgeschichte der Pflanzen?" Bei der Suche nach Fingerzeigen zu einer Antwort möchte ich ausgehend von einigen Aquarellen, die ich zu Beginn des Blumen- Maljahres 2021 erarbeitet habe, den Dialog mit Schelling und Marx, aber auch mit Kandinsky, Heidegger und Gadamer zur Malpraxis suchen.

Kamelie
Kamelie

1. Kamelieneinblicke

Ein hoher Busch aus Kamelienblüten, der in die klassische Naturgeschichte und die Goethe-Zeit zurückführt, kann bei Jahresbeginn im Schlosspark zu Pillnitz bewundert werden. Der fast zehn Meter hohe Kamelienbaum beherbergt während seiner Blüte zehntausende rote Farbpunkte. Diese einzigartige Feier der Farbe Rot ist in dem Aquarell "Kamelienbusch" nachempfunden. Ein Ableger der Pillnitzer Kamelie mit dem lateinischen Namen "Camellia japonica L." wächst bei uns im Haus. Mir eröffnet die Pflanze in Pillnitz einen Zugang zur Natur- und Kunstphilosophie des jungen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Der junge Philosoph kam im Frühjahr 1796 als Hauslehrer nach Leipzig. Bereits ab Herbst 1798 erhielt er auf Betreiben von Goethe in Jena eine Professur. Bevor Schelling im Oktober 1798 ans Katheder trat, hielt er sich sechs Wochen in Dresden auf. Während er abends die fälligen Vorlesungen zur Naturphilosophie zu Papier brachte, streifte er tagsüber durch Dresden und Umgebung. Er wanderte im Elbsandsteingebirge, lernte Schloss Pillnitz kennen und sah vielleicht auch die dortigen Kamelien im Englischen Garten. Selbst wenn keine Blüten mehr zu sehen sind, kann ihr dunkles Blattgrün auch im Sommer für Faszination sorgen. Vor allem aber tauchte Schelling in Dresden im August und September 1798 in die Kunstsammlungen ein. Sein philosophisches Interesse richtete sich sowohl in der Philosophie der Natur als auch in der Philosophie der Kunst auf das Licht und seine Wirkungen. In den späteren Vorlesungen zur Kunst in Jena lag Schelling auch daran, am Beispiel von Werken der Malerei den Gegensatz von Licht und Schatten, von Hell und Dunkel und damit auch den Zusammenklang der Grundfarben Rot, Blau und Gelb zur Sprache zu bringen. Wie sich die Blicke der Menschen durch "die göttlichen Gemählde der Raphaels und Correggios" (so Schelling am 20. September 1798) in der Galerie Alte Meister damals wie heute auf die Lichtzentren der Meisterwerke fokussieren, wachsen die Pflanzen der Sonne entgegen. Der "Einfluß des Lichts", schrieb Schelling 1798 in Leipzig, ist "erste Bedingung aller Vegetation". Begeistert es mich beim Malen der Kamelienblüten, ihre Hinwendung zum Licht durch ein rotes Leuchtzentrum auszudrücken, bin ich bei Schelling und seinem Leipziger Wirken. Immerhin ruft der Blick zu den Kamelienblüten in Pillnitz die Erinnerung an die Linnéische Sozietät wach, die im Jahr 1789 zur Beförderung der naturkundlichen Forschung in Kursachsen gegründet worden ist. Der junge Schelling wurde 1798 kurz vor der Reise nach Dresden in diese Sozietät aufgenommen. Zuvor hatte er in Leipzig seine "Ideen zu einer Philosophie der Natur" (1797) und ein zweites Buch mit dem Titel "Von der Weltseele" (1798) verfasst. Der Begriff der "Weltseele" geht auf Platons Dialog "Timaios" zurück. Dieser Terminus zielt auf die Einsicht, dass Sonnensysteme und Planetenkörper, aber auch Populationen von Lebewesen sowie Menschen und Gesellschaften jeweils Ganzheiten sind, die sich raumzeitlich verändern. Erläutert Giordano Bruno den Begriff der "Weltseele" am Beispiel der wachsenden, blühenden und fruchtenden Bäume, setzt Schelling eben diese dynamische Tradition fort. Er greift sowohl Immanuel Kants Ideen zur Erdentstehung als auch Goethes Deutung des Pflanzenwachstums auf. Schelling formuliert gestützt auf Goethes botanischen "Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären" (1790) in dem Buch von der Weltseele den großartigen Gedanken, dass "alle Operationen der Natur in der organischen Welt ein beständiges Individualisieren der Materie" sind.

Tulpen
Tulpen

2. Malen mit Marx

Es ist nicht so, dass mir beim Malen ständig Karl Marx über die Schultern schaut. Aber bei dem Blick auf die Malergebnisse von Anfang 2021 und beim Bedenken der Frage Wittgensteins nach der "Naturgeschichte der Farben" kommt mir ein Gedanke zur Kunst in den Sinn, den ich erläutern möchte. Als ich im Jahr 1974 meine Tätigkeit an der Bergakademie Freiberg begann, hatte ich als Assistent auch Seminare zum Philosophieren von Marx zu halten. Dabei bildeten die "Thesen über Feuerbach"(1845) einen Schlüsseltext. In den elf Thesen erörtert Marx die Frage nach dem Status des Wirklichen. Er arbeitet heraus, dass es darauf ankommt, die Wirklichkeit nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Objekts und der "Anschauung", sondern vor allem unter dem Gesichtspunkt des Subjekts und das heißt als "sinnlich menschliche Thätigkeit" und damit als "Praxis" zu betrachten. Betont Marx "die Bedeutung der 'revolutionairen' der 'praktisch-kritischen' Thätigkeit", dann rückt er das politische Handeln und die zivilgesellschaftliche Aktivität in den Mittelpunkt. Aber was ich während meiner Tätigkeit zu Zeiten der DDR nicht sah und nicht wusste, das ist die Vielschichtigkeit des Begriffs der Praxis. Mit dem Gesichtspunkt der Praxis verbindet Marx nicht nur die Aufmerksamkeit für das politische Handeln, sondern auch die Sensibilität für die Mannigfaltigkeit der anderen Tätigkeitsformen bis hin zur künstlerischen Praxis. Wie Schelling integrierte auch Marx die Bildende Kunst in die menschliche Praxis. Die jüngste Tochter Eleanor schrieb am 28. Dezember 1896 über ihren Vater: „Marx als Gesamtpersönlichkeit kann nur richtig erfaßt werden, wenn man seine verschiedenen Seiten beleuchtet. [...] Nicht nur die Wissenschaft lag ihm am Herzen – sondern auch die Kunst und die Literatur.“ Marx, der 1865 auf die Frage "Ihre Farbe" mit "Rot" antwortete, hatte auch die Malerei im Blick, als er in seinem Notizbuch notierte: "Der Streit über die Wirklichkeit od. Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isolirt ist, - ist eine rein scholastische Frage." Die Malerei ist eine wichtige Denk- und Tätigkeitsform. Sie ist eine Praxisform der Menschheit, die von der steinzeitlichen Höhlenmalerei über die Werke der Alten Meister bis zu den Farb- und Formexperimenten von Wassily Kandinsky oder Piet Mondrian reicht. Bereits der 19-jährige Marx fertigte 1837 als Student in Berlin Auszüge aus Johann Joachim Winckelmanns Hauptwerk "Geschichte der Kunst des Altertums" (1764) an. Mit Sicherheit las Marx die "Ästhetik" von Georg Wilhelm Hegel mit den Abschnitten über Malerei. Das im 19. Jahrhundert populärste Buch Hegels ist 1842 von seinem Schüler Heinrich Gustav Hotho auf der Grundlage von Mitschriften der Vorlesungen des Meisters herausgegeben worden. Die Wertschätzung von Hegels Philosophie der Kunst im Freundes- und Bekanntenkreis von Marx klingt in einem Brief von Friedrich Engels an. Am 1. November 1891 empfahl Engels dem jungen Conrad Schmidt beim Hegel-Studium die "Vorlesungen über die Geschichte der Philolosophie" und ergänzte sogleich: "Zur Erholung kann ich Ihnen die Ästhetik empfehlen. Wenn Sie sich da etwas hineingearbeitet haben, werden Sie erstaunen. "Sicher kannte Marx den Satz Hegels, dass die Malerei "durch den Gebrauch der Farbe das Seelenvolle zu seiner eigentlich lebendigen Erscheinung" bringt. Ferner konnte Marx über die Grundfarbe Rot in der "Ästhetik" lesen: "Das eigentliche Rot ist die wirksame, königliche, konkrete Farbe, in welcher sich Blau und Gelb, die selbst wieder Gegensätze sind, durchdringen".

Winterlinge
Winterlinge

3. Nietzsche zum Naturgenuss

Gelbblühende Winterlinge lassen sich auf großer Bühne unter dunklen Wolken porträtieren. Um sie mit ihren erstaunlichen Erdkräften zu zeigen, durch die sie sich zum Himmel recken. Über die dynamische Perspektive beim geistigen Zugriff auf das Wirkliche und beim Ausüben von Kunst hat ein Philosoph Bahnbrechendes geschrieben, der von sich sagte: "Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit." Die Rede ist von Friedrich Nietzsche. Der Starphilosoph mit dem Schnauzbart stammt aus dem Pfarrhaus in Röcken bei Leipzig. Der Hochbegabte wuchs in Naumburg auf, lebte im Eliteinternat Schulpforta, studierte erst in Bonn und seit Herbst 1865 - genau ein Jahrhundert nach Goethe - in Leipzig, wo er am 8. November 1868 Richard Wagner aufsuchte. Nietzsche wurde mit nur 24 Jahren in Basel Professor der Philologie. Wegen seiner labilen Gesundheit ließ er sich bereits mit 34 Jahren verrenten. Nietzsche wird nachgesagt, dass er in Pforta besonders hinreißend auf dem Klavier phantasierte, wenn "ein Gewitter am Himmel stand". Er verfasste im Juli 1863 mit 18 Jahren aber auch schon "Philosophische Betrachtungen über den Naturgenuß". Über die Subjektivität unseres Bild- und Hörerlebens schrieb er: "Unsere Seele ist nichts als das vergeistigte Auge, Ohr usw. Farbe und Klang ist nicht den Dingen, sondern Auge und Ohr eigen." Ohne wache Sinne kein Farb- und Klangerleben. Der sprachgewaltige Autor beleuchtete und durchforschte in der dichten Serie seiner Bücher von "Der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" (1872) über sein Hauptwerk "Also sprach Zarathustra" (1883 - 1885) bis hin zu dem biographischen Rückblick "Ecce homo" (1888) das Exzessive, Unerwartete und Spontane oder Rauschhafte im Menschenleben, in der Wissenschaft und vor allem in der Kunst. Leitend ist der anthropologische Satz in dem Buch "Die fröhliche Wissenschaft" (1880/81), dass wir "alle wachsende Vulkane" sind, die "ihre Stunde der Eruption haben werden", die wir aber nicht vorhersehen können. Angeregt durch die Freundschaft mit Wagner arbeitete Nietzsche seit 1869 die Figur des Dionysos heraus; im Kontrast zum Gott Apoll. Dionysos gilt als Vegetations- und Fruchtbarkeitsgott, aber auch als Schutzgott der Musiker. Das Dionysische erhebt Nietzsche in seinen Betrachtungen zur griechischen Kunst zum Prinzip der Entgrenzung und des Schöpferischen. Der Bildnergott Apoll steht bei ihm für das Gesetz, für das Maß und für die Begrenzung im künstlerischen Tun, während das dionysische Element das Überschreiten des Gewohnten, das Verlassen des Bekannten und die Abkehr vom Genehmen verkörpert. Nietzsche war ein guter Pianist; aber gemalt hat er nicht. Brachte er bei der Analyse der Künste den Gegensatz zwischen dem "bildfrohen Apoll" und Dionysos als dem "Gott der Musik" in Stellung, wie Eugen Fink formuliert, war das ein Impuls vor allem für die Theater- und Opernbühne. Wie sehr die Malerei aus dem Geist der Musik erwächst, das wurde aber erst nach dem Tod von Nietzsche durch Künstler wie Wassily Kandinsky und Paul Klee thematisiert. Mir ergeht es so, dass ich mir bei dem Winterlings-Aquarell mit dem Kontrast von Gelb und Dunkellila musikalische Klänge "dazuhören" kann.

Stiefmütterchen
Stiefmütterchen

4. Kandinsky zum Malen

Bei Immanuel Kant ist in der "Kritik der Urteilskraft" (1790) etwas zu lernen, das sowohl in der "Ästhetik" von Hegel als auch in den kunstphilosophischen Betrachtungen von Wassily Kandinsky, Paul Klee und Johannes Itten eine große Rolle spielt. Kant betont, dass Meisterwerke aus einer "Hervorbringung durch Freiheit" erwachsen, bei der es sich um "eine Willkür" handelt, "die ihren Handlungen Vernunft zum Grunde legt". Während Hegel in seiner "Ästhetik" bezogen auf die künstlerische Praxis die Freiheit als "die höchste Bestimmung des Geistes" veranschlagt, benennt Kandinsky kurz vor dem Ersten Weltkrieg, dass die Bildentstehung aus dem Pendeln zwischen Euphorie und Abgrund erfolgen kann: "Das Malen ist ein donnernder Zusammenstoß verschiedener Welten, die in und aus dem Kampfe miteinander die neue Welt zu schaffen bestimmt sind, die das Werk heißt ... Werkschöpfung ist Weltschöpfung". Heute ist es üblich geworden, unbekümmert bei Kandinsky nachzuschlagen, wenn man über Meisterwerke und auch über Bilder in der Hobbymalerei nachdenkt. Das war nicht immer so. Als Kandinskys Schrift "Über das Geistige in der Kunst" (1912) erschien, war das Echo geteilt bis ablehnend. Lisbeth Stern, die Schwester von Conrad Schmidt und Käthe Kollwitz, schrieb in den Spalten der "Sozialistischen Monatshefte" wach und informativ über Bildende Kunst. Sie hatte aber große Schwierigkeiten, sich mit den Werken aus den Künstlergruppen "Die Brücke" um Karl Schmidt-Rottluf und "Der blaue Reiter" um Kandinsky und Franz Marc anzufreunden. Im 8. Heft der "Sozialistischen Monatshefte" meinte die Kunstpublizistin am 25. April 1912 über eine Ausstellung der "Expressionisten" in Berlin: „Mit den Bildern Kandinskys ist nichts anzufangen, bestenfalls können sie als psychologische Experimente interessieren.“ Am 06. Juni 1912 besprach Lisbeth Stern kurz nach dem Erscheinen die Programmschrift Kandinskys "Über das Geistige in der Kunst". Doch sie warnte die Leserschaft vor der Schrift zur abstrakten Malerei, weil das Buch "hoffnungslos ungeschickt geschrieben" sei. Stern versuchte zwar ansatzweise, das Buch von Kandinsky zu referieren. Sie brach die Streitschrift auf die Botschaft der Entgegenständlichung herunter, indem sie ausführte: "... die Kunst von morgen operiert nicht mehr mit Gegenständen, auch nicht mehr mit sinnlichen Elementen, sondern mit den hinter ihnen liegenden 'geistigen Klängen' ...". So richtig der Gedanke vom Klangkosmos referiert wird, dem die schaffenden und bildenden Menschen in ihrem Dasein angehören, so wenig versuchte Lisbeth Stern den Tiefgang derartiger Überlegungen zur abstrakten Malerei auszuloten. Den bereits vor dem Ersten Weltkrieg allgegenwärtigen Übergang zu einer gegenstandslosen Kunst empfand sie offenbar als Ausrutscher oder als Fehltritt und insgesamt als einen bedauerlichen Irrweg in der künstlerischen Praxis. Die Vorbehalte gegen die Form- und Farbexperimente im Bilderkonzert der expressionistischen Malergruppen waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt in den Spalten der "Sozialistischen Monatshefte" beträchtlich. Doch zumindest wurden die Turbulenzen in der zeitgenössischen Malerei von Lisbeth Stern beachtet. In ihren lebhaft geschriebenen Kunstkorrespondenzen beachtete sie die Schar der Expressionisten und besprach ihre Werke - wenn auch mit großer Skepsis – an prominenter Stelle.

Schneeglöckchen
Schneeglöckchen

5. Erdenpflanze Schneeglöckchen

Das Blumenjahr 2021 begann ich zunächst mit kleinen Acrylarbeiten, dann aber besann ich mich auf das Aquarell. In Acryl entstand eine Winterlingsblüte, an der ein Wassertropfen hängt. Im Aquarell wiederum versuchte ich erstmals, eine große weiße Blüte der Christrosen ins Bild zu setzen. Anschließend kam ich jedoch auf ein Thema zurück, das ich in den Jahren zuvor immer wieder einmal erprobt hatte, bei dem ich mit den Ergebnissen jedoch nicht so recht zufrieden war: Die Schneeglöckchen. Die Leuchtkraft der Schneeglöckchen ist beträchtlich. Ihr Vermögen, dem Schnee und der Kälte zu widerstehen, ist so beachtlich, dass wir diese Pflänzchen alljährlich staunend bewundern. In meinem Aquarell vereinen sich sieben Schneeglöckchen zu einer Blumengruppe, die sich aus dem kalten Erdreich heraus zum Himmel und zum Licht hinauf reckt. Bei diesem Bild muss ich an einen berühmten Vortrag denken, den der Starphilosoph Martin Heidegger in politisch dunkler Zeit gehalten hat. Seine Gedanken über die Konstitution von Bildwerken sind jedoch von einer solchen Wucht und Tragweite, dass sie den Zusammenbruch der NS-Diktatur überdauert haben. Der Vortrag mit dem Titel "Der Ursprung des Kunstwerkes", den Heidegger zuerst am 13. November 1935 in Freiburg gehalten hat und den er nach dessen Tod dem Leipziger Kunsthistoriker Theodor Hetzer widmete, wurde von Hans-Georg Gadamer im Jahr 1960 mit einer Einführung versehen und neu herausgegeben. In seiner Wortmeldung zur Kunst führt Heidegger die treffliche Unterscheidung von Ding, Zeug und Werk ein. Eine Differenzierung der ästhetischen Begrifflichkeit, die eindrucksvoll verrät, dass der Philosoph von "Sein und Zeit" (1927) mit den Analysen von Marx zu den Wertformen Gebrauchswert und Tauschwert in dem Buch "Das Kapital" (1867) bestens vertraut war. Mein Aquarell ist nicht nur Ding oder Zeug, sondern ein kleines Werk. Eine Pflanze wird in ihrem Lebensrhythmus entdeckt und porträtiert. "Im Werk ist die Wahrheit am Werk, also nicht nur ein Wahres", argumentiert Heidegger. Über die Wahrheit, die in einem Aquarell wie der Gruppe Schneeglöckchen zur Anschauung kommt, werden wir uns dann klar, wenn wir über das Sich-Verbergen und das Sich-Entbergen der Natur nachdenken. Im jahreszeitlichen Wechsel erfahren wir, dass Spross, Blätter und Blüten vieler Pflanzen verwelken und dass sich die Pflanze im Winter auf die Zwiebel und die Wurzeln in der Erde zurückzieht. Heidegger bringt den Begriff der Erde ins Spiel, über den er ausgehend vom menschlichen Arbeitsprozess schreibt und die Widerständigkeit des Erdbodens herausstellt: "... die Erde selbst muß als das Sichverschließende hervorgestellt und gebraucht werden". Im Winter entziehen sich viele Pflanzen unseren Blicken, um in der neuen Vegetationsperiode hervorzusprießen. Die Erde verschließt und verbirgt sich im Winter, aber sie öffnet und zeigt sich dann auch wieder. Gadamer führt zur Seinsweise der Erde aus: "Die Erde ist in Wahrheit nicht Stoff, sondern das, woraus alles hervorkommt und wohinein alles eingeht." Indem sich die Blüten der Schneeglöckchen im neuen Jahr kraftvoll zeigen, erleben wir die Erde in ihrem Sich-Entbergen. "Die Natur, die sich zu verbergen liebt (Heraklit)," so erläutert Gadamer, "ist dadurch nicht nur hinsichtlich ihrer Erkennbarkeit charakterisiert, sondern ihrem Sein nach. Sie ist nicht nur das Aufgehen ins Lichte, sondern eben sosehr das Sichbergen ins Dunkle, die Entfaltung der Blüte der Sonne zu ebenso wie das Sichverwurzeln in der Erdtiefe."

Krokusleuchten
Krokusleuchten

6. Doktor Faust über die Farben

In seinen Notizen über die Farben ging Wittgenstein auf die Farbenlehre Goethes ein. Er meinte aber im April 1950: "Ich bezweifle, daß Goethes Bemerkungen über die Charaktere der Farben für einen Maler nützlich sein können." Die Malerinnen und Maler auch unserer Tage sind bis hin zu den Hobbykünstlern Farbpraktiker, die bei Goethe dennoch Anregung finden, wenn sie über ihr Tun nachdenken. Bei Goethe findet sich in seiner Faust-Dichtung ausgerechnet in den fast 40 Zeilen zum "Osterspaziergang" eine passable Antwort auf die Frage Wittgensteins nach der "Naturgeschichte" der Farben. Bevor Doktor Faust am Ostersonntag bei seinen Betrachtungen zum Fest über die Auferstehung des Herrn spricht (Zeile 19), denkt er über die elliptische Umlaufbahn der Erde um die Sonne und über den jeweiligen Neigungswinkel des Erdkörpers nach. In hiesigen Breiten hängt es von der Sonneneinstrahldauer ab, wann und in welchen Farben die Pflanzen blühen und wie sich die Menschen kleiden. In dem Monolog "Osterspaziergang" kommt ab der neunten Zeile zur Sprache, dass die Menschen wie die Malerinnen und Maler vor allem Kinder der Sonne sind. Die Antwort auf die Frage Wittgensteins nach der "Naturgeschichte der Farben" bringt Doktor Faust zum Osterfest beim Abschied vom Winter lyrisch auf den Punkt:

"Aber die Sonne duldet kein Weißes,

überall regt sich Bildung und Streben,

alles will sie mit Farben beleben;

doch an Blumen fehlt's im Revier,

sie nimmt geputzte Menschen dafür.“

Bildnachweis

Die acht Aquarelle zu Blumenthemen malte Dr. Konrad Lindner.

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