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Zu Gast in Weimar

George Eliot; deutsche Übersetzung: Nadine Erler

Zu den vielen Künstlern, die es nach Weimar zog, gehörte auch die englische Schriftstellerin George Eliot. Im Sommer 1854 verbrachte sie drei Monate im kleinen, doch weltberühmten Städtchen an der Ilm. George Eliots schriftlich festgehaltenen Eindrücke sind äußerst amüsant. Dieser Blick einer Fremden lässt Weimar in anderem Licht erschienen.

Broschüre, 40 Seiten, 2019


Anna Seghers

Anna Seghers "Der Aufstand der Fischer von St. Barbara"

Prof. Dr. habil. Horst Nalewski

HOFFNUNG AUS EINER NIEDERLAGE ?

Anna Seghers Wohnhaus in Berlin mit Erinnerungstafel (1)
Anna Seghers Wohnhaus in Berlin mit Erinnerungstafel (1)

 

Man stelle sich vor: Eine Preisverleihung steht an, Verleihung eines renommierten Literatur--Preises, den zuvor B. Brecht, A. Döblin, L. Frank, C. Zuckmayer, A. Zweig erhalten hatten, des Kleist-Preises 1928. Dem eine Entscheidung herbeizuführenden Komitee stand in jenem Jahr der Schriftsteller Hans Henny Jahnn vor. Er hatte zu wählen unter achthundert (!) Manuskript--Einsendungen und entschied sich für die Erzählung der in diesem Moment noch ganz unbekannten Anna Seghers „Aufstand der Fischer von St. Barbara", Gustav-Kiepenheuer--Verlag Potsdam. Der Autorin erste Buchveröffentlichung.

Anna Seghers wurde 1983 die Ehrenbürgerschaft der Stadt Mainz verliehen. Aus diesem Anlaß waren in ihrer Berliner Wohnung (v.l.n.r.) Dr. Storch (FDP), A. Seghers, Oberbürgermeister Jocke Fuchs, Wegell (FDP), Klaus Bölling, Bürgermeister Dr. Keim sowie Dr. Harder, Präsident der Gutenberg-Universität Mainz und andere Persönlichkeiten anwesend.(2)
Anna Seghers wurde 1983 die Ehrenbürgerschaft der Stadt Mainz verliehen. Aus diesem Anlaß waren in ihrer Berliner Wohnung (v.l.n.r.) Dr. Storch (FDP), A. Seghers, Oberbürgermeister Jocke Fuchs, Wegell (FDP), Klaus Bölling, Bürgermeister Dr. Keim sowie Dr. Harder, Präsident der Gutenberg-Universität Mainz und andere Persönlichkeiten anwesend.(2)

 

Seine Begründung: „Ein gutes Buch mit knapper und sehr deutlicher Sprache, in dem auch die geringste Figur Leben gewinnt, in dem die Tendenz schwächer ist als die Kraft des Menschlichen. Es ist ein Daseinsvorgang in fast metaphysischer Verklärung. Das nenne ich Kunst." Es muss uns bis ins unmittelbar Gegenwärtige berühren, lesen wir den ersten Abschnitt jener Erzählung, da eine Polarität sich auftut, die eben nur die Kunst auszuhalten und weiterzureichen in der Lage ist: Der Aufstand der Fischer von St. Barbara endete mit der verspäteten Ausfahrt zu den Bedingungen der vergangenen vier Jahre ...Aber längst, nachdem die Soldaten zurückgezogen, die Fischer auf der See waren, saß der Aufstand noch auf dem leeren, weißen, sommerlich kahlen Marktplatz und dachte ruhig an die Seinigen, die er geboren, aufgezogen, gep?egt und behütet hatte für das, was für sie am besten war.
Da ist der eine Pol, ein vergeblicher Aufstand Besitzloser gegen Besitzende, wie es ihn immer wieder gegeben hat, und der deshalb bei allem Realismus des Erzählten zeit- und ortlos scheint, und da ist ein Gestalt gewordener Aufstand, der andere Pol, sichtbar, unsichtbar. Ein weibliches Ur-Gesicht jenseits aller Wirklichkeit? (So möchte man die phantastische Gra?k von Karl Stratil auf dem Titelblatt der Reclam--Ausgabe der Erzählung verstehen.)
Was nun jeden Leser von Anfang an staunen machen muss, ja fesseln mag von Seite zu Seite, ist eben jene Erfindung eines St. Barbara kraft künstlerischer Fantasie; verwandelt in bedrängende Anschauung und einen sprachlich kargen Duktus, was beides einzigartig war und ist. „Das nenne ich Kunst."


Mittelpunkt?gur der Erzählung wird ein von außen Gekommener, ein Fremder, der von den Fischern erkannt wird als jener Hull, der im benachbarten Port Sebastian einen Aufstand angezettelt hatte, nun steckbrie?ich gesucht, hier Unterschlupf gefunden. Ein Abenteurer, ein Rebell, ein instinktiver Revolutionär, den die Fischer mit einem Ausdruck von Neugierde, Hoffnung und ein wenig Hochmut anblickten: Der Tisch
stand gegen das Fenster der Schenke. Es war Nachmittag. Oktober. Dumpf und unbeweglich, bleigrau und regenschwer starrten Himmel und Erde gegeneinander, wie die Platten einer ungeheuren hydraulischen Presse. Es war kalt... Nebeneinander an der Wand saßen die Schiffer, aufrecht, die Hände auf den Knien. Da sie nicht tranken, waren sie offenbar gekommen, um miteinander zu schweigen. Hull fiel es aufeinmal
schwer aufs Herz, dass es gekommen war. Es gab auf der Welt viele warme lustige Winkel, alle standen ihm offen, warum war er nicht abgefahren, warum saß er hier?

Solche Anfechtung überfällt ihn wiederholt; doch er bleibt. Hull wird zum Organisator des Aufstands. Er bringt es zuwege, dass auch die Fischer der benachbarten kleinen Orte zu einer Versammlung nach St. Barbara kommen; er verp?ichtet sie, einen Drei-Punkte-Beschluß anzunehmen und der Reederei ultimativ vorzulegen; und er beschwört sie: Beieinanderbleiben. Kein Schiff herauslassen.

Die Verhältnisse eskalieren, als die Reederei es erzwingen will, dass ein erstes Schiff, ihre „Marie Farère", zum Frühjahrsfang ausfährt und Soldaten in den Hafen beordert. Die Streikfront bröckelt. Es kommt zu einer gewaltsamen Konfrontation, dem Tod des Fischers Kedennek. Er war dem Haufen der verzweifelt Aufständischen vom Marktplatz St. Barbara auf die „Marie Farère" und die Gewehre im Anschlag zu vorangegangen. Eine dramatische Szene innerhalb des epischen Elends: Kedennek ging weiter, wie es
ausgemacht war, nicht zu langsam, in ungewohnt kleinen, leichten Schritten. Er hatte im Rücken ein sonderbar kahles Gefühl, er verstand, dass die übrigen zurückgeblieben waren und dass er allein ging, und er verstand auch, dass der Soldat auf ihn schießen würde. Er fiel um, in der Mitte zwischen Soldaten und Fischern... In seinen Kopf waren alle Gedanken eingezogen, die zu empfangen der Kopf eines Menschen geschaffen ist. Er dachte auch an Gott, nicht wie man denkt, an etwas, das es nicht gibt, sondern an
etwas, das einen verlassen hat.

Und noch einer büßt sein Leben ein: Der junge Andreas Bruyn. P?egesohn jenes Kedennek und wie ein Schüler dem Hull nahe. Eine Hoffnungs?gur, wie sie bei Anna Seghers immer wieder auftauchen wird. Die Daseinsnot zu überstehen, weiß er nur von e i n e r Sehnsucht: Er hatte solche Lust nach Freude. Er kannte sie noch gar nicht. Ein- zweimal war sie ?üchtig durch ihn hindurchgegangen...einen Augenblick war alles anders gewesen. Dann schmuggelt er sich auf die auslaufende „Marie Farère" und bringt sie zum Kentern. Er überlebt, ?üchtet in die Klippen - und dort trifft ihn die Kugel der Soldaten: Andreas hörte noch mal  "Halt!", er rannte noch schneller, er hörte auch einen Knall ... Andreas war schon umgefallen, hatte sich schon überkugelt, war in den Steinen hängengeblieben, das Gesicht unkenntlich zerschlagen - aber etwas in ihm rannte noch immer weiter, rannte und rannte und zerstob schließlich nach allen Richtungen in die Luft in unbeschreiblicher Freude und Leichtigkeit.

Der Aufstand war gescheitert. Allein, seine Idee war aufgehoben; dieses Mal sichtbar. Die Frauen schauten dem auslaufenden Schiff nach: Jetzt konnten sie nochmals die Gesichter ihrer Männer so deutlich wie hinter dem Mittagstisch erkennen. Eine Minute lang erkannte sogar jede Frau in den Augen ihres Mannes das Feste, Dunkle vom letzten Winter. Dann waren es nur noch ihre Gesichter, dann nur noch ihre Gestalten,
dann nur noch Männer, dann nur noch ein Schiff... Die Frauen auf der Mole fingen an zu merken, dass sie durchnässt waren.


HOFFNUNG AUS EINER NIEDERLAGE ?

Die Grabstätte von Anna Seghers und ihrem Mann auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin. (3)

Bildnachweis

Kopfbild: Bundesarchiv: Bild 183-F0114-0204-003

Bilder (1) und (3) : Hannelore Glatte, Berlin

Bild (2): Bundesarchiv: Bild 183-Z1122-300

 

 

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