Leipzig-Lese

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Frank Meyer

Es war mir ehrlich gesagt völlig egal

 „Ich ging zur Beerdigung. Denn immerhin war ich es ja, der ihn erschlagen hatte.“

Sie schlagen sich so durch — die Jungs in Frank Meyers Geschichten. Dabei lassen sie sich von weiblichen Hosenanzügen beirren, stellen ihre grenzenlose Coolness beim Moped-Trinken unter Beweis und sorgen dafür, dass der Großvater fast die Sportschau verpasst.

Nachrichten über Leipzig von Christoph Hein

Nachrichten über Leipzig von Christoph Hein

Zu wem wolln Se denn da?

Opernhaus Leipzig 1960. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-76022-0001 / CC-BY-SA
Opernhaus Leipzig 1960. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-76022-0001 / CC-BY-SA

Leipzig war die erste Metropole meines Lebens, die erste von mir wahrgenommene Großstadt. Und das Schicksal - wie wir jene Umstände nennen, die unser Leben beeinflussen, prägen und manchmal auch beherrschen - führte mich immer wieder in diese Stadt.

Die allererste Erinnerung ist ein Besuch der Oper. Ich war acht oder neun Jahre alt und meine Eltern fuhren aus jener Kleinstadt, in der ich aufwuchs, mit mir nach Leipzig, um das Ballett „Romeo und ]ulia" zu sehen. Ich war todunglücklich, weil wir verspätet eintrafen und nicht vor dem Ende des 1. Bildes in den Zuschauerraum eingelassen wurden. Und dann traf mich zum allerersten Mal die verführerische Gewalt des Theaters, der Musik, des Tanzes, der Kunst, traf mich in jenem symphonischen Gleichklang, mit dem uns allein das Musiktheater ergreifen kann.

Heute habe ich Sehnsucht nach dieser allerersten Berührung mit der Kunst, weiß ich doch, ein allererstes Mal wird es nie wieder geben, diesen Moment können wir alle nur einmal erfahren. Und jeder, der es einmal erleben durfte, sollte glücklich sein.

Dann musste ich den Staat verlassen. Die staatlichen Behörden entschieden, dass der Vierzehnjährige auf keine weiterführende Schule der DDR gehen darf, da er ein Pfarrerssohn ist. Es sei zwar gewährleistet, dass ich das Bildungsziel, nicht aber, dass ich das Erziehungsziel einer sozialistischen Oberschule erreichen würde. Ich ging nach „drüben", haute ab. Doch am 13.August 1961 hielt ich mich illegal in Dresden auf und wurde durch den überraschenden Mauerbau an diesem Tag wieder zwangseingebürgert.
Christoph Hein 2012. Foto: Thomas Holbach *
Christoph Hein 2012. Foto: Thomas Holbach *

Nun wohnte ich in Ostberlin und fuhr zu jeder Buchmesse nach Leipzig, um die Neuerscheinungen zu sehen und auf den Buchständen der westdeutschen Verlage Bücher zu stehlen. Misstrauisch beäugt bei diesen Unternehmungen wurden weniger die Ordnungskräfte der Messe, vielmehr die zahlreichen Konkurrenten: Man sah und erkannte sich sofort als Brüder im Geist und der Begierde. Zweimal im Jahr fuhr man erwartungsfroh zur Buchmesse und gut beladen zurück.

Dann studierte meine Freundin in dieser schönen Stadt, und ich fuhr jeden Freitag zu ihr nach Leipzig. Da war mir die Stadt zu einer Traumstadt geworden. Schließlich wurde diese Stadt, auf Beschluss eines Ministers, meine Universitätsstadt. Die langwierigen Aufnahmeprüfungen für das gewünschte Studium an der Filmhochschule Babelsberg hatte ich zwar bestanden, aber jener Minister entschied, dass ich dort nicht studieren dürfe, und so musste ich diese Schule bereits nach vierzehn Tagen verlassen. Und da dieser Minister überdies für alle Kunsthochschulen zuständig war, musste ich mich für ein völlig anderes Studium entscheiden. Der schönen Freundin wegen wollte und musste ich aber in Leipzig studieren. Wir heirateten, meine Kinder wurden in Leipzig geboren, wie sollte ich da dieser Stadt nicht erinnerungsvoll verbunden sein.

Die Stadt Leipzig hat keine Krallen, sie versucht eher mit mildem sächsischen Liebreiz zu bestechen. (Kennen Sie die Leipziger oder Sächsische Kaffeeschüssel?) Die Freundlichkeit ihrer Einwohner ist stets mit etwas dreister Neugier gemischt. (Können Sie mir sagen, wo die Bürgerstraße ist? - Die Bürgerstraße? Nee, die kenn ich nich. Aber zu wem wolln Se denn da?) Und mit hinterlistiger Tücke. (Wie viel aufklärerisches Potenzial steckt doch hinter einem Straßennamen, den der Leipziger Volksmund einer Magistrale verlieh: Alte-Kaiser-Adolf-Liebknecht-Straße.)

Der Hauptbahnhof Leipzig. Foto: W. Brekle
Der Hauptbahnhof Leipzig. Foto: W. Brekle

Der eigentlich zentrale Ort des Studiums war für mich der Hauptbahnhof und die vom Ring eingefasste kleine Innenstadt. In einem der Cafés dieses kleinen Zirkels fand man ganz gewiss den gesuchten Freund. Und zur mitternächtlichen Stunde trafen sich am Hauptbahnhof, diesem wunderbar prachtvollen Bauwerk, dieser Kathedrale einer neuen Industrie und Kommunikation, einer die Welt revolutionierenden Erfindung, dem für mich schönsten Bahnhof Deutschlands, dort trafen sich zur Geisterstunde nicht nur alle Straßenbahnen zu einem verkehrstechnisch höchst originellen Stelldichein.

Einmal in der Woche zog man durch die vielen Etagen des Gebrauchtwarenhauses, sowohl um die Studentenwohnung zu möblieren, als auch um eine vom Taxator unerkannte Kostbarkeit zu entdecken, ein Stilmöbel, das der Alte falsch eingeschätzt hatte.

Den schönen Zoo übersah man mit studentischem Hochmut, er wurde erst wichtig, als meine Kinder zur Welt gekommen waren. Und in Leipzig gab es eine Abendmensa. Ich kenne keine andere Universitätsstadt mit einer solchen Einrichtung, und ich weiß nicht, ob sie heute noch existiert. In der Abendmensa stellte man sich nicht nach seinem Essen an, sondern setzte sich wie in einer Gaststätte an den Tisch, wurde von einem alten Kellner bedient, der stets missmutig war, seinen Missmut aber leicht zu einem großen Zorn steigern konnte, wenn ein junger Fuchs, ein Neuling, beim Bestellen den Namen des Gerichts nannte und nicht nur die davor stehende Zahl ansagte. Wir liebten diesen alten Kellner, nicht nur, weil er uns Köstlichkeiten servierte, die ein Studentenportemonnaie eigentlich überstiegen und lediglich ein paar Groschen kosteten, nicht nur, weil er sich damit abgefunden hatte, von seinen Gästen höchst selten ein winziges Trinkgeld zu bekommen, wir liebten ihn seiner verlässlichen Griesgrämigkeit wegen.

Ich studierte Ende der sechsziger Jahre in Leipzig. Eine 68er Bewegung gab es auch in der DDR, aber es war eine völlig andere als in der ehemaligen Bundesrepublik. Ich klebte Flugblätter gegen den Einmarsch der osteuropäischen Armeen in die bewunderte Stadt Prag. Thomas Brasch verteilte sie mit Vertrauten in Berlin; ich, der ich neu in der Stadt war, allein in Leipzig. Die Berliner wurden angezeigt und verhaftet, mir war man auf der Spur; wie dicht, das erfuhr ich erst nach 1990. Ein Schutzengel muss mich wohl damals bewahrt haben. Wir hatten ein kleines Kind, und, um meine Frau nicht zu beunruhigen, hatte ich mit ihr über die Aktion nicht gesprochen. Anderenfalls hätten wir nach der Verhaftung des Freundes vermutlich sehr oft uns beunruhigt gefragt, wann der Sicherheitsdienst in Berlin auf meinen Namen stößt. Der Staatssicherheit fehlte in meinem Fall der unzweifelhafte Beweis, und um ihn zu bekommen, wurde unsere Studentenwohnung verwanzt. Monatelang wurden meine Gespräche mit meiner Frau und den Freunden aufgezeichnet und notiert, wie ich viele Jahre später nachlesen konnte.Jedoch über meine Flugblatt-Aktion erfuhr diese fast allmächtige Firma nichts, es gab dazu keinerlei Aufzeichnungen, denn darüber verlor ich nie ein Wort in der Wohnung. Nach einem Dreivierteljahr wurde die Abhöraktion ergebnislos abgebrochen, die Mikrofone aus unserer Wohnung vermutlich entfernt. (In den Akten fand ich Jahrzehnte später die Protokolle unserer Gespräche. Eine gewisse delikate Zurückhaltung der amtlich bestellten Voyeure war bei den Notaten zu erkennen. So endet beispielsweise und durchaus charakteristisch eine Mitschrift mit denSätzen: „Sie fragt ihn: Hast du dich für das Seminar vorbereitet. Er antwortet: Nein. Ende des Tages.")

In den Akten entdeckten wir 1992 auch einen Grundriss unserer Studentenwohnung mit eingezeichnetem Mobiliar. Der Zugang zu dieser Wohnung wurde der Staatssicherheit erleichtert und ermöglicht durch eine alte Frau, die in der Straße lebte und die gelegentlich unser Kind betreute. Dieser alten Frau hatten die Sicherheitskräfte erzählt, dass ich gefährlich für die sozialistische Republik, dass ich ein Staatsfeind sei. Diese Frau war zusammen mit ihrem Mann in der Zeit der Weimarer Republik der Kommunistischen Partei beigetreten. Ihr Mann war direkt nach der Machtergreifung der Nazis ins Gefängnis gekommen, später in ein KZ überführt, und er blieb bis zum letzten Tag des Dritten Reiches inhaftiert. Er überlebte die Nazizeit, aber ihre Ehe überstand diese dreizehn Jahre nicht. Das Ehepaar blieb bis zum Tod zusammen, aber sie lebten nicht mehr gemeinsam. Er war durch die lange Haftzeit für eine Gemeinsamkeit unfähig geworden. So lebten sie beide dahin, miteinander, doch jeder für sich, mit Achtung füreinander, aber ohne Mitgefühl. Ihre Liebe war in einem Konzentrationslager ermordet worden.
Ich hatte und habe Respekt vor ihrer Haltung, ihrem Leben. Ich verstand nach dem ersten Erschrecken, wieso die alte Frau zu dem Verrat fähig war und überredet werden konnte. Für sie war die DDR eben nicht nur eine belanglose Fußnote der Geschichte, sondern stellte die Erfüllung all ihrer gemeinsamen Jugendträume dar, die sie verteidigen musste und durch nichts gefährdet sehen wollte. Ihr Verrat schmerzte mich, aber ich verstand sie.

Als Jahre später eine Kollegin vorgab, eine Freundin zu sein, in Wahrheit aber für die Staatssicherheit arbeitete, brach ich, als ich es aus den Akten erfuhr, umgehend jeglichen Kontakt mit ihr ab. Und dass diese Kollegin sich mit der alten Geschicklichkeit auch in der neuen Gesellschaft zu etablieren verstand und heute geachtet ist, nehme ich amüsiert zur Kenntnis. Sie hat sich gewendet und blieb sich unverändert treu. Treu blieb sich auch jene alte Frau in Leipzig, die mit uns befreundet war und mich dennoch verriet. Aber diese Treue samt dem sich daraus ergebenden Verrat kann ich verstehen, auch wenn sie mich traurig stimmen, und ich vermag mich ohne jede Bitterkeit an diese alte Nachbarin zu erinnern. Auch das gehört für mich zu meinem Leipzig. Es ist der Wermutstropfen, der Wermutstropfen, es ist der Schmerz, der unseren Erinnerungen die Farbe gibt und sie unauslöschlich macht.

Christoph Hein

Bildnachweis:

Christoph Hein 2012. Foto:

Thomas Holbach [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)].

Christoph Hein wurde 1944 in Schlesien geboren. Er ist Schriftsteller, Essayist. Hein wuchs in Bad Düben auf. Da er als Sohn eines Pfarrers keinen Platz an einer Erweiterten Oberschule bekam, ging er bis zum Mauerbau auf ein Westberliner Gymnasium. Danach arbeitete er als Montagearbeiter, Buchhändler, Kellner, Journalist, Schauspieler, Regieassistent. 1964 legte er das Abitur an der Abendschule ab. In Leipzig/Berlin studierte er von 1967 bis 1971 Philosophie und Logik. Zu seinen bekanntesten Werken gehören die Romane „Horns Ende"‚ „Willenbrock"‚ „Landnahme", die Erzählung „bdquo;Der Tangospieler", das Theaterstück „Die Ritter der Tafelrunde". Auf der Kundgebung am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz in Berlin bezeichnete er Leipzig als „Heldenstadt".

Der Essay von Christoph Hein erschien im Rahmen der Reihe »Nachdenken über Leipzig« in der Leipziger Volkszeitung, Ausgabe: Sonnabend/Sonntag, 18./19. Juli 2009.

Der Bertuch Verlag dankt der Pressestelle der Universität Leipzig, den Essay aus dem Journal Universität Leipzig 1/2010 übernehmen zu dürfen. 

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