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Gefangen im Netz der Dunkelmänner

Berndt Seite, Annemarie Seite und Sibylle Seite

Berndt Seite und seine Familie möchten sich die »Stasi« von der Seele schreiben, um nicht ein Leben lang mit der DDR-Diktatur konfrontiert zu bleiben. Der Text soll einen Beitrag zur Aufarbeitung der SED-Diktatur leisten. 

Hans Fallada

Hans Fallada

Christoph Werner

„Wenn Ihr überhaupt nur ahntet, was ich für einen Lebenshunger habe!“

Reichsgericht in Leipzig, jetzt  Bundesverwaltungsgericht. Skizze: G. Klein, www.bertuch-verlag.com
Reichsgericht in Leipzig, jetzt Bundesverwaltungsgericht. Skizze: G. Klein, www.bertuch-verlag.com

Teil 1: Fragmentarisches Leben

„... aber das Pferd der Königstochter hieß Falada und konnte sprechen." So heißt es im Märchen der Gebrüder Grimm „Die Gänsemagd". Für mich war das rätselhafte Pferd der Königstochter, das treu war über den Tod hinaus, immer die Hauptperson in der Geschichte. Und dadurch, dass sein Kopf, angenagelt unter dem finsteren Tor, noch sprechen und der Königstochter schließlich zu ihrem Recht verhelfen konnte, wurde eine Welt wieder ins Lot gebracht, die eine niedere Person, die Kammerjungfer der Königstochter, für eine Weile frech in Unordnung gebracht hatte. Das Märchen wurde für uns Kinder mit seiner grausamen Strafe für die Kammerjungfer, die es unternahm, die Verhältnisse umzukehren und auch einmal Königin zu sein, zu einem glücklichen und zufriedenstellendem Ende gebracht.
Rudolf Ditzen legte sich im Jahre 1920, als sein Roman „Der junge Goedeschal" erschien, aus Rücksicht auf seine Eltern den Künstlernamen Hans Fallada zu. Er war ein rechtes Sorgenkind, was nicht seiner Herkunft geschuldet war. Er wurde am 21. Juli 1893 als Sohn des Landrichters Wilhelm Ditzen und seiner Ehefrau Elisabeth in Greifswald geboren. Sein Vater machte eine beeindruckende juristische Karriere, die ihn 1908 Reichsgerichtsrat am Reichsgericht in Leipzig werden ließ, dem obersten Straf- und Zivilgericht im Deutschen Reich.
Die Familie Ditzen siedelte im Jahre 1909 nach Leipzig über, und hier beginnt eine Rudolf Ditzens ganzes Leben begleitende Kette von Unglücken, die ihn körperlich und seelisch schwer beeinträchtigte und den heutigen Betrachter ratlos lässt, dass dieser Unglücksmensch zu einem der eindringlichsten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, einem Chronisten seiner Zeit ohnegleichen werden konnte.
Am 17. April 1909 gerät er mit seinem Fahrrad unter einen Pferdewagen. Magen und Zwölffingerdarm werden gequetscht, Huftritte der Pferde treffen seinen Kopf, die Unterlippe wird gespalten, Zähne werden ausgeschlagen, ein Bein ist gebrochen und er hat eine Gehirnerschütterung.
Nach fünf Monaten kann Rudolf Dietzen endlich wieder das Gymnasium in Leipzig besuchen. Nach einer Hollandfahrt mit den „Wandervögeln" erkrankt er an Unterleibstyphus und leidet danach an Depressionen. Ab 1911 besucht er das Fürstliche Gymnasium in Rudolstadt im damaligen Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt und erschießt bei einem Doppelselbstmordversuch seinen Schulkameraden Hanns Dietrich von Necker. Er will sich daraufhin selbst töten, verletzt sich lebensgefährlich und wird später in die psychiatrische Klinik der Universität Jena eingeliefert. Die Anklage gegen ihn wird fallengelassen, da sich „Ditzen zur Zeit der Begehung der Tat in einem Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit (befand), durch welche seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war (§51 StGb)".

Das Hans-Fallada-Haus in Carwitz 2009. Foto: Botaurus
Das Hans-Fallada-Haus in Carwitz 2009. Foto: Botaurus
Im Jahre 1912 kommt er in das Privatsanatorium Tannenfeld des Dr. Tecklenburg, wo er, wie schon in Jena, Bekanntschaft mit Streckbett, Einschließung und Isolierzelle macht. Dr. Tecklenburg hält ihn für einen sich selbst überschätzenden, einem krankhaften Affektleben unterliegenden jungen Mann, dem zu lehren ist, „nüchtern und klar die Grenzen seinern Persönlichkeit zu erkennen, sich zu beherrschen, das Affektleben durch Verstandestätigkeit zurückzudrängen, geordnet zu leben und sich einer praktischen Tätigkeit zuzuwenden".
Im Jahre 1913 beginnt er eine Tätigkeit als Eleve in der Landwirtschaft, in der er bis Mitte der zwanziger Jahre seinen Lebensunterhalt verdienen wird, als Gutsangestellter, Inspektor, Mitarbeiter der Landwirtschaftskammer Pommern und Angestellter der Kartoffelbaugesellschaft in Berlin sowie Rechnungsführer auf verschiedenen landwirtschaftlichen Gütern In Mecklenburg, Pommern und Westpreußen. Er raucht und trinkt stark und beginnt Rauschgift zu nehmen, so dass er 1917 in Carlsfeld bei Halle und 1919 in Tannenfeld Entziehungskuren machen muss. Um seine Sucht zu finanzieren, unterschlägt er im Jahre 1923 im schlesischen Bunzlau Geld und wird zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, von denen er 1924 drei Monate in Greifswald absitzt. Erneut wird er im Jahre 1926 wegen Unterschlagung verurteilt und verbüßt zweieinhalb Jahre im Gefängnis in Neumünster. Im Jahre 1933 wird er von der SA festgenommen und verbringt elf Tage in der Haft. 1935 erleidet er im Frühjahr und Herbst Nervenzusammenbrüche. Im Frühjahr 1944 wird er in die Landesanstalt Strelitz zwangseingewiesen, nachdem er in Gegenwart seiner Frau Anna mit einer Pistole herumgefuchtelt hatte, aus der sich ein Schuss löst, der zwischen seiner Frau und dem Hausmädchen hindurchgeht und im Tischbein landet.
Hier schreibt er in 16 Tagen den Roman „Der Trinker", ca. 280 Buchseiten, eine unglaubliche Leistung, wenn man die durch strenge Kontrolle eingeschränkten Arbeitsbedingungen bedenkt. Er schreibt in einer sehr kleinen Schrift, und hat er eine Seite beschrieben, so dreht er sie um und schreibt in den ohnehin schon winzigen Zeilenzwischenräumen weiter. Würde man finden, was er über die Anstalt schreibt, verschwände er wohl für immer hinter ihren Mauern. Hätte man gar gefunden, was er in dieser Zeit über das faschistische Regime schreibt, er hätte wohl nicht überlebt.
Gedenktafel für Fallada am Sterbeort in Berlin-Niederschönhausen. Foto: Doris Antony, Berlin
Gedenktafel für Fallada am Sterbeort in Berlin-Niederschönhausen. Foto: Doris Antony, Berlin
Im Februar 1945 heiratet er Ursula Losch, wie er morphiumabhängig, und beide geraten in eine immer steilere Abwärtspirale der Rauschgiftsucht, unterbrochen von Kuraufenthalten, die jedoch nicht nachhaltig helfen. Nach dem Einmarsch der Roten Armee, die Fallada in Feldberg in Mecklenburg erlebt, wird er für kurze Zeit dort Bürgermeister. Noch 1945 siedelt er nach Berlin über, hat Kontakt mit Johannes R. Becher, der ihn zum Weiterschreiben ermutigt und mit Material versorgt, muss sich erneut Entziehungskuren unterwerfen und bringt noch einmal die Kraft auf, seinen letzten großen Roman, „Jeder stirbt für sich allein" zu schreiben, in 24 Tagen, in der Taschenausgabe über 600 Seiten. Seinen Schreibtag beginnt er morgens um 5 Uhr und beendet ihn um 7 Uhr abends. „Und da ich das Schreiben nicht lassen will und werde", liest man bei ihm, „so muss ich mich hetzen, heute, morgen, wahrscheinlich werde ich mich noch als alter Mann hetzen, als Greis, immer werde ich Angst haben, ich würde nicht fertig." Am 5. Februar 1947 ist dieses gehetzte Leben zu Ende. Fallada stirbt in einem Hilfskrankenhaus in Berlin an Herzversagen. Er ist 54 Jahre alt.
Diese biographische Übersicht ist fragmentarisch und auch in gewissem Sinne einseitig, da sie die glücklichen, oder sollte es besser heißen, die ruhigeren Momente in Falladas Leben ausspart, die er auf seinem Hof in Carwitz, den er seit 1933 besaß, sicher auch hatte und von denen unter anderem seine Kindererzählungen „Hoppelpoppel, wo bist du?" (1936), „Geschichten aus der Murkelei" (1939) und „Fridolin der freche Dachs (Erstveröffentlichung 1954) zeugen.
Doch dieses winzige Glück, wenn es eins war, ist einem großen und verhängnisvollen, wenn auch nicht unverständlichen - wer würde es heute unternehmen, darüber zu rechten - Versagen geschuldet, dem Entschluss nämlich, nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 in Deutschland zu bleiben. Daraus ergaben sich Kompromisse mit den Machthabern, die zu Falladas taedium vitae entscheidend beitrugen.
Briefmarke zum 100. Geburtstag Falladas
Briefmarke zum 100. Geburtstag Falladas

Teil 2: Großes Werk

Liest man Falladas Bücher heute, so ist an der realistischen Darstellungsweise, der Sprache mit Wortwahl und den (meisterhaften) Dialogen sowie den gesellschaftlichen Zuständen (Bürokratie, Arbeitslosigkeit mit allen zugehörigen Entwürdigungen, Undurchsichtigkeit der Finanzwelt, Polizei, Behördenwelt, Ohnmacht gegenüber staatlichem Handeln usw.) und den sogenannten menschlichen Beziehungen kaum zu merken, dass die Bücher vor nunmehr 70 bis 80 Jahren geschrieben wurden. Haben sich die kapitalistische Welt und ihre „kleinen Leute" so wenig geändert? Es muss wohl so sein. Ich schreibe die kleinen Leute in Anführungszeichen, weil ich den Begriff „einfache Leute" vorziehe. Denn die kleinen Leute waren oft große Leute, die tapfer um ihr Überleben kämpften. Sie werden uns nahegebracht durch die Liebe Hans Falladas zu ihnen und die Kenntnis ihrer Lebensumstände, die zeitweise auch seine Lebensumstände waren.
In der DDR gab es ein nicht nachlassendes Interesse an den Büchern dieses Schriftstellers. Die einfachen Leute fanden sich mit ihren Erfahrungen aus der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus darin wieder. Endlich, so glaubten sie, hatten sie Lebensumstände erreicht, die sie - wie Falladas Gestalten - immer ersehnt hatten. Dazu gehörten eine bezahlbare Wohnung, erschwingliche Nahrungsmittel, ein sicherer Arbeitsplatz, kostenlose Bildung bis in den akademischen Bereich für ihre Kinder, kostenlose medizinische Versorgung, anscheinende Durchschaubarkeit der gesellschaftlichen Hierarchien und ein gesellschaftspolitischer Überbau, der auf alle Fragen eine Antwort zu haben schien.
Es waren deshalb nicht diese Leute, die 1989 als erste auf die Straße gingen, allenfalls schlossen sie sich später den Forderungen nach politischen Veränderungen an. Angesichts der endlich erreichten Lebenssicherheit und eines vergleichsweise guten Auskommens bei politischem Wohlverhalten entging ihnen, dass ihr Land in „ein quasi feudalistisches System zurückgefallen war" (Jürgen Kuczynski), das an sich selbst zugrunde ging und in dem nicht einmal die Forderungen der Französischen Revolution nach Gewaltenteilung, die Voraussetzung für die selbstverantwortete Teilhabe des Citoyen, erfüllt waren. Es entging ihnen oder sie konnten oder wollten es nicht wahrhaben - diese einfachen Leute.
Kaum ein deutscher Schriftsteller des 20. Jahrhunderts hat mit solcher Wirklichkeitsnähe, so „lebenshungrig" und mit einer solch schonungslosen Einbeziehung seiner eigenen Person in ihrer Kleinheit, Schwäche und ihren zeitlosen Wünschen und mit einer so selbstverständlichen Eindringlichkeit geschrieben wie Hans Fallada.
Es gibt zwei Stellen im „Eisernen Gustav", die in zu Herzen gehender Weise Falladas Nähe zu den einfachen Leuten wie auch ihre Sehnsucht nach einem sauberen Leben beschreiben. Es ist zum einen das „Märchen vom Bäckerladen" und das anschließende Betteln des kleinen Gustävings um ein Stück Brot mehr, und zum anderen die Erinnerung des alten Droschenkutschers an die „Jugend- und Sternenkühle seiner Knabenjahre". Deshalb empfehle ich von den unten aufgeführten Büchern als erstes den „Eisernen Gustav", der einem den ganzen Fallada vor Augen führt.

Quellen:

Fallada, Hans. 2000. Geschichten aus der Murkelei. Mit einem Nachwort von Sabine Lange. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag

Fallada, Hans. 1983. Wer einmal aus dem Blechnapf frißt. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

Fallada, Hans. 1986. Bauen, Bonzen und Bomben. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt

Fallada, Hans. Pfingstfahrt in der Waschbalje. In: Deutsche Erzähler des 20. Jahrhunderts. Band II. Berlin 1957, Verlag Neues Leben.

Fallada, Hans. 1970. Kleiner Mann - was nun? Roman. Berlin und Weimar: Aufbau Verlag

Fallada, Hans. (o.J.) Fridolin der freche Dachs. Eine zwei- und vierbeinige Geschichte mit Zeichnungen von Hans Baltzer. Berlin: Kinderbuchverlag

Fallada, Hans. 1989. Hoppelpoppel wo bist du? und andere Kindergeschichten. Leipzig: Philipp Reclam Junior

Fallada, Hans. 1977. Der eiserne Gustav. Roman. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag

Fallada, Hans. 1987. Der Trinker. Roman. Der Alpdruck. Roman. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag

Börner, Emil. 2010. „Wenn Ihr überhaupt nur ahntet, was ich für einen Lebenshunger habe!" Hans Fallada in Thüringen. Ausstellungskatalog. Weimar und Jena: Hain-Verlag.

Grimm, Jacob und Wilhelm. 1977. Die Gänsemagd. In: Kinder- und Hausmärchen. München

Tucholsky, Kurt. (Ignaz Wrobel). 1931. Bauern, Bonzen, Bomben. In: Die Weltbühne vom 7.3.1931, Nr. 14, S. 496 (Weblink: http://www.textlog.de/tucholsky-bauern-bonzen. Web-Zugriff am 20. 8. 2011)

Liersch, Werner. 1981. Hans Fallada. Sein großes kleines Leben. Biografie. Berlin: Verlag Neues Leben.

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