Leipzig-Lese

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Cover des Rilke-Buches

Horst Nalewski: Kennst Rainer Maria Rilke?

Zu bestellen:

http://bertuch-verlag.de/69-0-Kennst-du-Rainer-Maria-Rilke.html

Ein Albumblatt für den Lehrer Hans Mayer

Ein Albumblatt für den Lehrer Hans Mayer

Prof. Dr. habil. Horst Nalewski

Horst Nalewski
Horst Nalewski

In keine Vorlesung ging ich, ging wohl die Mehrzahl der Germanistik-Studenten der Jahre 1950 - 54 an der Leipziger Universität, mit soviel gespannter Erwartung wie in die des Professor Hans Mayer. Er öffnete uns die Fenster in das universale Panorama von Literatur und bildender Kunst, von Philosophie und Musik der Gegenwart und Vergangenheit; anschaulich, lebendig, geistvoll: Mit Brechts "Von der Freundlichkeit der Welt"; wir lauschten atemlos, er sagte: Meine Damen, meine Herren, das ist ein unsterbliches Gedicht! Wir waren für Brecht gewonnen. Er zitierte Rilkes "Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?" und erklärte: Das ist ein blasphemisches Gedicht!, und wir hatten einen neuen Blick auf diesen frommen Dichter. Er las uns die zwei Seiten Kafkas "Vor dem Gesetz", und wir ahnten, was ein dichterisches Gleichnis vermochte.

Im Frühjahr 1954 trafen wir, Christa T. und ich, ihn im Leipziger Gewandhaus. Auf dem Programm stand Berlioz' "Phantastische Symphonie". Er fragte: Welcher Satz gefällt Ihnen denn besonders? Ich war verlegen und sagte sodann: "Der Gang zum Richtplatz". Er hob die Brauen und lächelte. Wir standen unmittelbar vor dem Staatsexamen.

Ende 1958 begegnete ich ihm abermals im Gewandhaus. Nach Vier Jahren Dozententätigkeit an der Leipziger Arbeiter-und-Bauern-Fakultät war ich "zur Bewährung" in die Produktion delegiert worden, als Hilfsarbeiter. Mir fehlte, so die Begründung, die Bindung an die Arbeiterklasse; ich würde falschen pädagogischen Grundsätzen folgen: Begabten-Förderung in literarischen Zirkeln betreiben. Das nannte man "Eliten-Bildung". Hans Mayer hörte aufmerksam zu und sagte: Das alles spricht für Sie. Sie sollten promovieren. Besuchen Sie mich. Er wohnte um die Ecke, Tschaikowskistr. Er fragte: Worüber möchten Sie arbeiten? Ich wusste es nicht, dachte, er würde ein Thema bestimmen. Nein, das müssen Sie selbst wählen, denn damit werden Sie Jahre zu tun haben. Kommen Sie in vier Wochen wieder. Dann einigten wir uns auf: "Friedrich Hölderlin. Naturbegriff und politisches Denken". Nicht ahnend, worauf ich mich da eingelassen, mühte ich mich fünf Jahre lang um den großen Gegenstand und besuchte Jahr und Tag sein Doktoranden-Seminar. Im April 1963 war es dann so weit: Die Öffentliche Verteidigung. Sein Gutachten war umfangreich und kritisch. Ich dachte: Ich falle durch. Dann fasste er zusammen und urteilte: Summa cum laude.

 

Hans Mayer und "seine" ehemaligen chinesischen Studenten
Hans Mayer und "seine" ehemaligen chinesischen Studenten

Wenige Wochen später hatte Hans Mayer die DDR verlassen. Er war hinausgeekelt worden. Ein Schock für uns. Doch wir hörten ihn: In Rundfunk- und Fernseh-Diskussionen, beschafften uns seine Bücher. Wir blieben seinem "Einfluss" ausgesetzt.

Vor mir lagen drei Jahrzehnte literaturwissenschaftlicher Tätigkeit in Lehre und Forschung. Dass sie in Gestus, Blickwinkel und Sprache von ihm möglicherweise hätte berührt sein können, ist mir auf beglückender Weise in Briefen von Hans Mayer zugekommen. Als ich ihm das Insel-Bändchen Nr. 50, "Friedrich Hölderlin. Gedichte", schickte, schrieb er: Das Nachwort gefällt mir sehr. Es unterscheidet sich durch Sachkunde und durch ,Freundlichkeit' im Sinne Brechts wohltuend von den meisten hiesigen Tiefschwätzern. Als ich ihm meine Rilke-Monographie, "Rainer Maria Rilke in seiner Zeit", schickte, schrieb er: Lieber Horst, über das großartige Rilke-Buch habe ich mich sehr gefreut. Das werde ich mir in Ruhe anschauen und will dann versuchen, mich· wieder zu melden und über meine Eindrücke zu berichten. (Der Vielbeschäftigte hatte das dann doch nicht vermocht...)

1992 verlieh die Leipzig Universität dem Fünfundachtzigjährigen den Dr.h.c.. Ein Versuch der Wiedergutmachung. Für ihn auch eine Rückkehr nach Leipzig. Er saß sodann im Sessel und empfing die Glückwünsche. Mit dem gewidmeten Buchgeschenk beugte ich mich zu ihm, fragte, ob er sich meiner denn noch erinnere. Selbstverständlich erinnere ich mich an Sie.

Gedenktafel am Wohnhaus in Leipzig
Gedenktafel am Wohnhaus in Leipzig

Wir hatten ihn wieder; in Leipzig, in Dresden, in Erfurt, in Ostberlin. Wo immer er sprach, wir hörten ihn, lasen all seine Bücher der neunziger Jahre, konnten uns an ihnen orientieren; was in jener Umbruchzeit, Gegenwart und Vergangenheit, gleichsam existentiell geworden war. Unbestechlich sein Urteil, unerschüttert sein Standpunkt. Er sah das von Grund auf falsche Leben, zu dem der Kapitalismus die Leute verleite: an nichts zu denken als an ihren Spaß und an ihr Geld - und er beharrte auf seinem Tun: dagegen anzureden, dagegen anzuschreiben. Wir hatten ein Ziel, dafür haben wir gearbeitet, und das hat unserem Leben einen Sinn gegeben.

Als er am 28.5.2001 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Ostberlin beigesetzt wurde - dies war sein ausdrücklicher Wunsch gewesen, wie auch die Lesung aus dem Alten Testament, Jesaja 25, 1-9, - nannte ihn der protestantische Pfarrer Loerbroks,  jene Schrift auslegend, einen "leidenschaftlichen Aufkl&aauml;rer". Als solcher wird er für immer in unserer Erinnerung bleiben.                                                                   
Fotos: Archiv W. Brekle
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